Buch lesen: «Sjoerd Gaastra 1921-2013», Seite 4

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III Jugendjahre

Sjoerd Gaastra (bitte nicht als Ö, sondern als U aussprechen) wurde am 13. November (einem Sonntag, also ein echtes Sonntagskind) in Leeuwarden der friesischen Provinzhauptstadt geboren. Als er 1 Jahr alt war, folgte er mit seiner Mutter seinem Vater nach Java, der dort eine Anstellung bei der Kolonialeisenbahn gefunden hatte. Kinder mussten das erste Lebensjahr vollendet haben, bevor sie nach Niederländisch Indien, dem heutigen Indonesien, reisen durften.


Dieses ist das erste Foto des Sjoerd Gaastra und zeigt ihn mit seiner Urgroßmutter Marie (Maaike) Wempe-Houkstra (1848 – 1938) in friesischer Tracht mit goldenem Ohreisen, die seinen Vater verzogen hatte. Durch dieses Bild wurde mein Vater zum ersten Mal Objekt einer Familienauseinandersetzung. Seine Großeltern väterlicherseits wollten dieses Foto verhindern. Angeblich würde das ein hässliches Bild geben, denn für das kleine Kind, hätte die Oma viel zu große Hände. Der wirkliche Grund war aber, dass verhindert werden sollte dass die alte Dame und heimliche Herrscherin über die Familie, eine zu enge Bildung an der Urenkeln bekommen könnte. Schließlich war der Stammhalter eher ein Bastard, der von der falschen Frau zur falschen Zeit geboren wurde. Verhindert werden konnte das Foto nicht, denn die Dame war sehr vermögend und die Tochter gierte nach diesem Fleischtopf. Auf dem Rückweg von der Schule führte der Weg meines Vaters immer an dem Altersheim seiner Urgroßmutter vorbei, und er besuchte seine Urgroßmutter jeden Tag bis kurz vor ihrem Tode. Dort bekam er eine Tasse Tee und ein Stück Kuchen und auch andere Süßigkeiten. Von seiner Großmutter hat er Süßigkeiten selten bekommen. Zuhause schon gar nicht.


Vor der Abreise nach Indonesien.


Das sogenannte „Hochzeitsfoto“

Die nächsten 11 Jahre verbringt die Familie dann auf Java, wo sein Vater häufig versetzt wurde. Er lernt die Insel vom heutigen Djarkarta bis Surabaya, von wo aus die Familie in die Niederlande zurückreist, kennen und lieben. Java wurde seine wirkliche Heimat. Unterbrochen wurde die javanische Zeit nur von einem halbjährigem „Heimaturlaub“ in Friesland, bevor er in die Schule musste. In Indonesien wurden seine zwei Brüder, Albert, Joopi und seine Schwester Mippi geboren. Als sein Bruder Albert geboren wurde, war er bereits 4 Jahre alt und wurde durch den Altersvorsprung früh mit der Beaufsichtigung seiner Geschwister beauftragt. Wenn sein Vater am Sonntag seine Ruhe haben wollte, dann schicke er seinen Ältesten mit den jüngeren Geschwistern zum Bahnhofsgebäude um zu sehen wie spät es dort ist. Noch im Alter hat er sich darüber geärgert, seinem Vater auf den Leim gegangen zu sein. Über ein Familienleben ist mir wenig bekannt und mein Vater hat mir auch wenig darüber erzählt.

Wie in den Familien der Kolonialbeamten üblich wurden die Kinder von einheimischen „Babus“ betreut und versorgt. Für die Hausarbeiten stand reichlich Personal zur Verfügung. Meine Großmutter als eine typische friesische Bauerntochter mochte nicht gerne untätig sein und betrieb darum einen Handel mit Brennholz und ein Taxiunternehmen mit mehreren Autos. Die Stellplätze vor dem Bahnhof wurden von dem Bahnhofsvorsteher vergeben, also von ihrem Ehemann. Meine Großmutter verdiente so ein Vielfaches mehr als ihr Mann.

Mein Vater beklagte sich darüber, dass er nach der Schule nie mit seinen Freunden spielen konnte weil immer ein Chauffeur, also einer der Taxifahrer, vor der Schule stand um ihn abzuholen. Darum lehnte er es auch ab mich zur Schule zu bringen oder abzuholen. Ausnahme war mein erster Schultag, wo ich nicht zur Schule laufen musste, sondern von meinen Eltern mit dem Fahrrad hingebracht wurde. An meinem letzten Schultag verkündete er beim Frühstück: „Warte auf mich, ich habe dich am ersten Tag zur Schule gebracht und hole dich am letzten Tag auch wieder ab“. Dazwischen lag eine ganze Reihe für mich unerfreulicher Jahre. Das war eine ganz typische Haltung von ihm.


Wohnhaus des Bahnhofsvorstehers und Bahnhof von Tamangung (Ostjava)

Nach Ablauf des zwölfjährigen Vertrages meines Großvaters kehrte die Familie 1932 nach Friesland zurück. Meine Großmutter wäre sicherlich gerne in Indonesien geblieben, und ihre Kinder, besonders mein Vater auch. Aber es war nicht nur das Auslaufen des Arbeitsvertrages, das die Rückkehr ins Mutterland veranlasst, sondern mein Großvater hatte Heimweh nach Friesland. Mein Vater wurde sicherlich nicht in den Entscheidungsprozess einbezogen. Er wusste auch nicht, was ihn da erwarten würde. Der Heimaturlaub vor seiner Einschulung fand in den Sommermonaten statt, vermutlich bei angenehmen Temperaturen. Die Witterungsverhältnisse der übrigen Jahreszeiten blieben ihm verborgen. In der ganzen Familie wurden die Heimaturlauber mit offenen Armen empfangen. Vermutlich weil sie reichlich Geschenke mitbrachten und der Gewissheit, der Aufenthalt war begrenzt und bald sind die wieder weg. Im Schulunterricht wurden die Niederlande als Mutterland der Kolonien als ein Land dargestellt, in dem Milch und Honig flossen. Die Wintermonate mit dem fröhlichen Zeitvertreib auf dem Eis waren besonders schön. So zeigten es jedenfalls die Bilder der Meister des 17. Jahrhunderts. Wie ungemütlich zugefrorene Kanäle sind, wenn das Geld fehlt um Heizmaterial für eine warme Stube zu kaufen lag jenseits der Vorstellungskraft meines Vaters. Immer, wenn wir an einer bestimmten Stelle der Ee, eines Flusses der durch Leeuwarden fließt, erzählte mein Vater wie er dort das erste Mal geschwommen ist. Kurz nach der Ankunft wurde er von Spielkameraden eingeladen schwimmen zu gehen, er könne doch sicherlich schwimmen. Nichts ahnend sprang mein Vater ins Wasser und erlitt fast einen Kälteschock. Denn er war Wassertemperaturen von rund 25 Grad gewöhnt und nicht von 15 Grad. Bibbernd vor Kälte ist er sofort wieder an Land gesprungen und war zu weiterem Wasserkontakt nicht mehr zu bewegen. Dafür wurde er dann ausgelacht. Und das war eine schlimme Erfahrung. Mein Vater machte sich gern zum Pausenclown, aber unautorisiert über ihn zu Lachen nahm er sehr übel.

Die Rückreise in die Heimat wurde von der Hafenstadt Surabaya angetreten. Mein Vater hat diese Abschiedsszene oft beschrieben. Der Letzte Wohnsitz war die Stadt Tamangung, eine mittelgroße Stadt in Ostjava. Der nächstgelegene Hafen war Surabaya, wohin die Familie, das waren die Eltern mit ihren 3 Söhnen und der Tochter Mippi, die noch ein Baby war, vom einen Fahrer im eigenen Auto gebracht wurde. Der Hausrat, sofern er Verwendung finden sollte, war schon verladen, Kleidung wurde kaum mitgenommen, da sie für die Niederlande zu sommerlich gewesen wäre. Mit großer Geste überreichte mein Großvater am Kai dem Fahrer als Dank für seine Dienste den Autoschlüssel und eine Schenkungsurkunde für das Auto, damit er sich als Taxiunternehmer selbstständig machen konnte. Der Beschenkte bedankte sich überschwänglich, stellte das Auto doch ein Vermögen dar. Dieser Auftritt meines Großvaters wurde wohlwollend von den Umstehenden mit Beifall bedacht. Das Auto gehörte meinem Großvater aber gar nicht, sondern seiner Frau. Er selber hat nie ein Auto besessen! Vielleicht wurde da schon ein Samen gelegt, das mein Vater das als normal ansah und Jahrzehnte später mein Eigentum großzügig verschenkte. Mit dem niederländischen Luxusliner „Oldenbarnevelt“ dampfte die Familie des Gerrit Gaastra standesgemäß einem ungewissen Schicksal entgegen.

Fernab von den europäischen Wirtschaftsproblemen hatte sein Vater die Verhältnisse in den Niederlanden völlig falsch eingeschätzt und er irrte sich, wenn er geglaubt hatte, auf den wenigen Bahnhöfen in Friesland würde man gerade auf ihn warten. Die Staatsbahn war auch in keiner Weise mit der kolonialen Bahngesellschaft verbunden und der Vater stand ohne Beruf bzw. berufliche Perspektive da. Verschiedene Geschäftsgründungen wurden versucht, z. B. die Eröffnung eine Fabrik für Speiseeis oder die Eröffnung eines Kolonialwarenladens. Gegenüber vernünftigen Vorschlägen seiner Brüder zeigte er sich beratungsresistent. Das in Java angehäufte Vermögen zerrann ihm förmlich zwischen den Fingern. Mein Vater war somit früh gezwungen zum Unterhalt der Familie beizutragen. An den Wochenenden als Laufbursche für verschiedene Einzelhandelsgeschäfte, wo er sich eine Menge handwerklicher Fähigkeiten aneignete, und nach der Schule jahrelang durch das Austragen der Abendzeitung. Mein Vater war sich der Auszeichnung bewusst, als einziger seiner Geschwister die Möglichkeit einer höheren Schulbildung zu erhalten. Nach Aussagen meiner Großmutter war er nicht der beste Schüler, aber besonders ehrgeizig. Eine Eigenschaft die er seinem Sohn zu seinem größten Verdruss nicht vererbt hat. Vielleicht einer der Gründe mir überhaupt nichts zu vererben sondern auch noch um das Erbe meiner Mutter zu prellen.

Im Jahre 1938 entschloss sich mein Großvater nach Deutschland auszuwandern, nach dem sich Pläne zur Rückkehr nach niederländisch Indien zerschlagen hatten. Über den Grund ist nichts oder nur wenig bekannt. Kurz nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland ist er wohl dem niederländischen Ableger der NSDAP beigetreten. Wie viele in wirtschaftliche Not geratene Kleinbürger schaute er fasziniert auf die wachsenden Erfolge im Nachbarland und machte sich wohl auch Treitschkes und des „Stürmers“ Parole zu eigen „die Juden sind unser Unglück“. Es soll auch zu finanziellen Unregelmäßigkeiten in seiner Parteigliederung gekommen sein, die dazu führten Friesland in Richtung des Reiches zu verlassen. Nach Bielefeld verschlug die Familie ein Schwager mit braunen Flecken auf der vermutlich schon nicht mehr ganz weißen Weste, der schon Jahre vorher am Fuß des Teutoburger Waldes gestrandet war. Welcher Beschäftigung mein Großvater in Bielefeld nach ging konnte nicht geklärt werden. Bei den Kammerich-Werken und der Ruhrstahl „kümmerte“ er sich angeblich um die Werkseisenbahn. Vermutlich war es ein Gnadenbrot, das er dort verzehrte, denn soweit bekannt war er, was die Eisenbahn betraf, nur administrativ tätig gewesen.

Als meine Großeltern 1938 nach Bielefeld zogen, hatte mein Vater seine Schulausbildung noch nicht beendet und stand vor dem Abitur. Er wurde unter der Obhut einer Tante und eines Onkels in Leeuwarden zurück gelassen. Dieser Onkel frönte einem Hobby, das heute ziemlich in Vergessenheit geraten ist, er baute und verbesserte Radios und brachte seinem Neffen entsprechende Fertigkeiten bei.

IV Lehr- und Kriegsjahre

Im März 1939 begann ein neues Kapitel im Leben des Sjoerd Gaastra, das seinen weiteren Lebensweg prägen sollte.

Nach dem Ablegen des Abiturs konnte er nicht mehr länger im Hause seiner Tante bleiben, da er aber mit 18 Jahren auch noch nicht volljährig war, musste er Friesland verlassen und zu seinen Eltern nach Deutschland ziehen. Die hatten eine Unterkunft in einer neu gebauten Siedlung in der Nähe Bielefelds in Kracks/​Senne II gefunden.

Am 30. März 1939 kam er in Ostwestfalen an und begab sich am 31. März 1939 zum Bielefelder Arbeitsamt um sich eine Arbeitsstelle zu suchen. Dort empfahl man ihm eine kaufmännische Ausbildung zu absolvieren. Wegen seiner Sprachkenntnisse mit dem Schwerpunkt Außenhandel. Da eine Berufsausbildung wie in Deutschland in den Niederlanden unbekannt ist, wusste er damit nichts Rechtes anzufangen. Ihm wurden mehrere Firmen genannt die ihm aber alle unbekannt waren, unter anderem auch die Seidenweberei C.A. Delius & Söhne. Da er sich unter Seide etwas vorstellen konnte und auch Seidenraupen aus Indonesien kannte, entschied er sich am gleichen Tag in der Goldstraße vorzustellen. Für das Personal zuständig war Wolf Delius, der aufmerksam die Zeugnisse studierte, die er wegen eines anderen Bewertungsschemas nicht verstand (in den Niederlanden ist ein „12“ die beste Zensur und die „1“ die schlechteste), aber der junge Mann gefiel ihm und er sagte er wolle es mal mit ihm versuchen. Die Verabschiedung durch Wolf Delius verlief folgendermaßen: „Also morgen um 7.30 meldest Du dich beim Pförtner. Wie heißt du eigentlich richtig? Schörd ist doch ein blöder Name, du bist der Sigurd“. Bis zum Tode des Herrn Wolf Delius blieb es dabei. Zur Silberhochzeit meiner Eltern schickte Wolf Delius aus seinem Weinkeller eine Flasche Rotwein des Hochzeitsjahrgangs 1945 mit einem Handschreiben: „Sehr geehrte Frau Gaastra, sehr geehrter Sigurd …“

Am 1. April 1939 begann die Lehre mit einer Führung durch die Firma und Vorstellung der kaufmännischen Angestellten die sich in den folgenden 3 Jahren um die Ausbildung des Nachwuchses kümmern sollten. Bei diesem Rundgang erspähte er auch Fräulein Tiemann, die in der Musterabteilung angestellt war, aber beruflich nichts mit ihm zu tun haben würde. Blitzartig hat er dann entschieden „die möchte ich heiraten“. Von einmal getroffenen Entscheidungen war mein Vater so gut wie nicht abzubringen, auch wenn abzusehen war, dass sie nicht richtig waren. Das Problem war nur, wie er sich Fräulein Tiemann nähern könne, die als eine der schönsten weiblichen Angestellten galt.

Auf dem Schreibtisch von Fräulein Tiemann stand eine der wenigen Addiermaschinen, und er nutze jede sich bietende Gelegenheit dort ein paar Zahlen zusammen zu rechnen. Der Leiter der Exportabteilung Dr. Geks erwischte ihn mal mit einem Zettel, auf dem 3 Zahlen zum Addieren standen und hat ihn dann „zusammen geschissen“ (Originalzitat meines Vaters). Dazu muss man aber wissen, dass mein Vater zeitlebens ein ausgezeichneter Kopfrechner war. Ich will hier mal eine Szene schildern, die ihn bei einem Restaurantbesuch in höchstes Verzücken versetzte:

V: „Herr Ober, bitte die Rechnung!“

O: „Moment der Herr (nimmt einen Zettel und rechnet murmelnd zusammen) 27 Mark 30 der Herr.“

V: Kurzer stirnrunzelnder Blick auf den Zettel, Kopfschütteln „Stimmt nicht.“

O: Halblaut nachrechnend „Entschuldigung, 26 Mark 30.

V: „Stimmt noch immer nicht!“

O: Rechnet noch mal „Doch der Herr, das ist richtig“

V: „Junger Mann, jetzt machen wir das mal zusammen.“ Endergebnis 28 Mark 30 Pfennig.“

O: „Das ist ja 1 Mark mehr.“

V: „Ja und? Ich habe doch nicht gesagt Sie hätten zu viel berechnet, ich habe doch nur gesagt, dass Ihre Rechnung nicht stimmt.“

Mein Vater war höchst zufrieden, der Ober hatte sich sein Trinkgeld redlich verdient und dem Sohn und Ehefrau wurde mal wieder die väterliche Rechenkunst und Überlegenheit demonstriert.

Anlässlich des 25-jährigen Betriebsjubiläums rief mich Herr Frank, der Leiter der Buchhaltung an um zu erfragen, womit die leitenden Abgestellten ihrem Kollegen eine Freude machen könnten. Im Laufe des Gespräches sagte er mir: „Ihr Vater ist der einzige Reisende im Haus, dessen Spesenabrechnung immer stimmt. Der bringt aus jedem Land auch die kleinste Münze zurück, egal ob Lire, Penny, Öre, Cent oder Centime, was nur Arbeit macht. Aber bei der nächsten Reise bekommt er das Kleinzeug wieder mit. Seine Spesenabrechnungen müsste ich gar nicht nachrechnen, aber ich mache es trotzdem, ich würde ihn zu gerne bei einem Fehler erwischen.“

Ich glaube nicht, dass es ihm gelungen ist.

Fräulein Tiemann war an dem jungen Lehrling in keiner Weise interessiert. Er war schließlich 5 Jahre jünger als sie, hatte kein nennenswertes Einkommen und auch keine beruflichen Perspektiven. Außerdem wohnte er in der nicht besonders beleumdeten Senner Siedlung, und nicht im Bielefelder Westen. Einziger Pluspunkt war vielleicht seine stets korrekte Kleidung. Die Situation wandelte sich mit dem Ausbruch des 2. Weltkrieges im September 1939. Im Laufe der immer größeren Verluste dämmerte es Fräulein Tiemann, dass ein Mann, der als Ausländer nicht zum Kriegsdienst einberufen werden konnte, der ohne körperliche Schäden, wenn auch ohne „Eisernes Kreuz“ den Krieg überstehen würde, doch nicht die schlechteste Aussicht wäre.

Hier ist zu bedenken, dass mein Vater nicht freiwillig oder aus politischer Überzeugung ins Deutsche Reich kam. In den Niederlanden gab es einen anderen Blick auf Deutschland, nicht durch Propaganda vernebelt. Nur wenigen ist auch heute nicht bekannt, dass es Bestrebungen gab die Olympischen Spiele 1936 wegen der bereits bekannten Verfolgung politischer Gegner und Juden, kurzfristig nach Amsterdam zu verlegen. Die NS-Führungsriege wurde weltweit als lächerlich empfunden. Der in seinen Reden keifende Hitler, der Mussolini rhetorisch nicht das Wasser reichen konnte, der wie ein aufgeblasener Luftballon wirkende Göring, der hinkende, verwachsende Goebbels und schmächtige, glupschäugige Himmler wirkten jenseits der Reichsgrenzen nicht gerade als Lichtgestalten. Mit wachen Augen beobachtete mein Vater das Umfeld und entzog sich frühzeitig allen Versuchen einer politischen Vereinnahmung, besonders der Marine und der SS.

Allem Soldatischem, mit Ausnahme von Marschmusik, stand er ablehnend gegenüber. Nie nahm er ein Gewehr oder eine sonstige Waffe in die Hand. Das lag in einem prägenden Erlebnis in frühester Jugend. Er hatte von seinem Vater im Alter von ca. 10 Jahren ein Luftgewehr geschenkt bekommen, das natürlich ausprobiert werden musste. Zuerst auf unbewegliche Ziele und dann auf Vögel. Nach diversen Fehlschüssen traf er doch noch einen Reisfinken. Er lief zu der Stelle, wo der Vogel zu Boden gestürzt war und fand ihn verletzt aber noch lebend vor. Der Reisfink verstarb in seinen Händen. Darauf lief er nach Hause, versteckte das Gewehr in der hintersten Ecke eines Schrankes und rührte nie wieder ein Gewehr an. Sicherlich spielte auch seine Berührung mit dem Hinduismus und der religiösen Behandlung aller Lebewesen, einschließlich Tieren eine Rolle. Dieses Erlebnis erzählte er mir, als ich wohl im gleichen Alter wie er war und ihn bat mit mir auf der Kirmes des Schützenfestes an einer Schießbude zu schießen. Er hat mich nie daran gehindert zu schießen, was ich auf der Kirmes immer gerne und auch erfolgreich getan habe, aber der Wunsch nach einen Luftgewehr kam bei mir nicht auf. Und ich hätte es sowieso nicht bekommen.

Zu seiner Verteidigung brauchte er auch keine Waffe. Er war sehr reaktionsschnell und hatte enorme Kraft in seinen Händen. Besonders Frauen erinnern sich schmerzhaft seines freundschaftlichen Händedrucks. Es ist auch vorgekommen, dass er im Überschwang der Freundlichkeit Finger gebrochen, bzw. angebrochen hat. Grundsätzlich ging er allen Gefahren und Unannehmlichkeiten aus dem Wege und provozierte sie auch nicht.

Als Niederländer konnte er in den wenigen Monaten des Friedens und bis zum völkerrechtswidrigem Überfall auf sein Heimatland 1940 noch ungehindert die ausländischen Sender auf seinem hochgerüsteten Radio empfangen und war dadurch auf die drohende Kriegsgefahr entsprechend vorbereitet. Nach dem für Deutschland siegreichem Polenfeldzug besuchte ein eingezogener Kollege Delius und wurde natürlich über die Ereignisse ausgefragt, man war begierig Informationen aus erster Hand zu bekommen. Mein Vater erzählte mir, dass die Auskünfte sehr vage waren, aber in dem Satz endeten: „Wenn wir für das, was da geschieht, zur Rechenschaft gezogen werden, dann wird uns kein Gott gnädig sein.“ Da dämmerte es meinem Vater, dass die aus dem Äther empfangenen Nachrichten keine Feindpropaganda waren. Er zog schon früh die Lehre, dass es lebenserhaltend sei, sich nicht zu äußern und sein Wissen mit anderen zu teilen.

Es gab noch ein anderes prägendes Erlebnis. Ein Nachbar aus der Siedlung Senne II kommentierte im Beisein anderer Siedlungsbewohner eine auf Bielefeld fliegende Bomberstaffel mit den Worten: „Morgen steht dann wieder in der Zeitung, dass die englischen Verbrecher Bethel angegriffen und Heime beschädigt haben, aber von den Schäden und Toten in Bielefeld sagen die Lügner nichts.“ Der Nachbar wurde am nächsten Tag von der Polizei an seinem Arbeitsplatz zu einer „Befragung“ abgeholt. Nach zwei Tagen erhielt die Ehefrau die Nachricht, ihr Mann hätte sich an seinen Hosenträgern erhängt. Der einziger Kommentar der Ehefrau dazu: „Komisch, er hat noch nie in seinem Leben Hosenträger besessen.“

Als wir wieder in Bielefeld wohnten haben wir nach einem Besuch am Grabe meines Großvaters auch das Erinnerungsmahl für die Opfer der NS-Diktatur auf dem Sennefriedhof besucht und mein Vater sagte zu meiner Mutter: „Sieh mal, das steht der XXX auch mit drauf, dann war er wohl doch kein Selbstmörder. Hast du neulich in der „Freien Presse“ gelesen, dass der Nachbar und vermutliche Denunziant einen Posten bei der Stadt hat und befördert wurde.“ Ich kann mich noch gut an die Situation erinnern, weil er das in einer ganz ungewohnten Tonlage sagte. Ich hatte immer eine sehr emotionale Bindung an beide Elternteile und bemerkte entsprechende Stimmungen. Dieses war so eine Situation. Jetzt bei der Niederschrift sind mir die beiden Namen nicht mehr bekannt, aber ich glaube, wenn ich vor dem Mahnmal stehe weiß ich wieder wer das Opfer war, der mutmaßliche Denunziant wird wohl (leider) unbekannt bleiben.

Mein Vater fuhr immer mit der Eisenbahn von Kracks nach Bielefeld. Vom Bahnhof führte ihn der Weg zur Goldstraße immer über den Klosterplatz. Es war eine größere Menschenmenge mit kleinen Koffern und Handgepäck versammelt, die an ihrer Kleidung den gelben Stern trugen. Durch seine Informationen der Feindsender wusste er sofort, dass es eine Reise ohne Wiederkehr sein würde. Bei Delius wurde das Ereignis nicht weiter kommentiert. Aber es gab auch Kollegen, die über die „Umsiedlung der jüdischen Schmarotzer“ zufrieden waren. Besonders tat sich da ein Mitlehrling hervor, der in der in der NS-Jugendorganisation führend tätig war und in der Erinnerung meines Vaters immer mit dem „Völkischen Beobachter“ in der Anzugtasche herum gelaufen ist. Dieser Lehrling, höheres Lehrjahr, konnte es nicht abwarten zu den Waffen gerufen zu werden um an der Vergrößerung des Reiches mitzuwirken. Er versuchte meinen Vater immer vom nahen Sieg zu überzeugen. Der hörte sich das auch an und dachte sich seinen Teil. Es gehörte zur Strategie des Überlebens viel zu wissen um vorbereitet zu sein, aber nicht alles von dem Wissen preis zu geben.


Das erste gemeinsame Foto

Besagter Lehrling führte später eine Buchhandlung und wurde Präsident eines Bundesligaclubs. Mein Vater kaufte alle seine Bücher bei ihm und frage jedes Mal vertraulich nach dem Stand des Endsieges und den geheimen Wunderwaffen, über die er seinerzeit angeblich genau Bescheid wusste. Mein Vater schenkte mir 1968 zum Geburtstag das „dtv-Taschenbuchlexikon“ in 20 Bänden, von dem aber erst fünf Bände erschienen waren. 15 Monate lang bin ich in diese Buchhandlung gegangen um den neuesten Band abzuholen und kam dadurch dem Buchhändler in näheren Kontakt. Ich glaube beim 18. Band klagte er mir sein Leid mit meinem Vater und bat mich: „Können Sie Ihren Vater nicht mal bitten, mich damit endlich zufrieden zu lassen, ich habe mein Opfer im Krieg gebracht. Ich schäme mich jetzt meiner Dummheit, aber Ihr Vater hat auch nie durchblicken lassen, dass er über besser Informationsquellen verfügte als ich mit Stürmer und Völkischem Beobachter.“ Auf meine Frage, was das denn geändert hätte antwortete er flüstern: „Dann wäre er nicht ihr Vater geworden.“ Ich kann nicht sagen, dass mein Vater nachtragend gewesen wäre, aber er vergaß auch nichts, ob negativ oder positiv.

Die Sache mit Fräulein Tiemann war inzwischen soweit fortgeschritten, dass eine Familiengründung beschlossen wurde, also 1943 (mein Vater hatte seine Lehre abgeschlossen und war in der aus zwei Personen bestehenden Exportabteilung fest angestellt) gab es eine ordentliche Verlobung. In Ermangelung von Gold und Geld, – aber ohne Verlobungsringe wäre es ja keine ordentliche Verlobung gewesen – hat der Schwiegersohn in spé seinem Schwiegervater für einige Zigarren dessen Ehering abgekauft. Meine Großmutter hatte ihren Ehering in dem Hungerwinter des 1. Weltkrieges beim Suchen von Bucheckern verloren. Ihr Ehemann durfte als Dreher bei den Ankerwerken seinen Ring nicht bei der Arbeit tragen, der wurde darum auch nicht mehr getragen sondern verschwand in der Kassette. Dieser ursprünglich schlichte breite Ring wurde aus Kostengründen einfach durchgesägt, an den Schnittstellen etwas abgerundet und für die Braut enger gemacht. Die Verlobungsringe waren somit eine Neuanfertigung aus Altgold. Die Ringe spielen bei der Hochzeit noch eine Rolle, aber dazu später. Wegen der engen Verbindung zur Familie Delius, sowohl von Seiten meines Vaters, wie auch meiner Mutter war es selbstverständlich, dass die Firma für eine Wohnung sorgen würde. Die gab es in der Güsenstraße, in einem Haus, welches auch zum Firmenkomplex gehörte. Eine drei Zimmerwohnung wurde vollständig eingerichtet. Die Möbel wurden vom Ersparten meiner Mutter und ihrer Mitgift gekauft, die Aussteuer in den Schränken untergebracht und mein Vater zog dort ein und war polizeilich als Bewohner angemeldet und froh dem elterlichen Haus entkommen zu sein.


Bei der Familie Gaastra in der Senne hatte sich die Situation dramatisch verschlechtert. Meine Großmutter litt zunehmend unter Malariaschüben, das Mitbringsel aus Indonesien und war nicht mehr in der Lage, ihren inzwischen aus acht Personen bestehenden Haushalt zu führen. Das hatte sie aber auch nie gelernt, mit 22 Jahren hatte sie geheiratet und war mit ihrem Erstgeborenem nach Indonesien ausgewandert. Dort stand jede Menge Personal zur Verfügung und Geldsorgen waren ihr schon vom elterlichen Haus her unbekannt. Mein Großvater war desillusioniert und hatte sich, auch gesundheitlich angeschlagen, aufgegeben. Die Bewohner der Siedlung duldeten die asoziale Familie nicht mehr und sorgen dafür, dass Familie Gaastra in einen abseits gelegenen Kotten mit dem Namen „Kuckuck“ umgesiedelt wurde. Sogenannte „Braune Schwestern“ kümmerten sich um die Familie. Der Älteste, ausgesprochen penibel und reinlich, war froh, dieses Elend hinter sich lassen zu können. Trotzdem versuchte er das Möglichste zur Unterstützung der Familie beizutragen.


Der absolute Tiefpunkt ist erreicht, der Kotten mit dem Namen „Kuckuck“, ohne sanitäre Anlagen. Wasser musste aus einem Brunnen geschöpft werden. Noch nie war ein Familienzweig so tief gesunken, schon gar kein Familienoberhaupt. Für meinen peniblen Vater war das eine Horrorzeit. Der Kotten wurde 1962 wegen Baufälligkeit abgebrochen. Diese Behausung hätte mein Vater nur noch zum Ende seines Lebens mit dem Umzug in eine Gefängniszelle toppen können. Dazu wäre es aber nicht gekommen.

Der Eheschließung stand also nichts mehr im Wege. Außer den Nürnberger Rassengesetzen, die zur Eheschließung den Ariernachweis verlangten. Rein visuell entsprachen die Brautleute den Anforderungen, blond und blauäugig. Aber das wurde bei deutscher Gründlichkeit schwarz auf weiß verlangt. Bei der Braut kein Problem, entstammte sie mütterlicherseits einem Lippischem Bauerngeschlecht und väterlicherseits eines Ravensberger Bauerngeschlechtes (den Meyer zu Olderdissen). Der Bräutigam hätte einen über Jahrhunderte reichenden lückenlosen Stammbaum vorlegen können, wenn der jemals in Bielefeld angekommen wäre. Zweimal ist er nachweislich auf dem Postwege durch Bombardierungen verloren gegangen. Aber die Erstellung der amtlichen Unterlagen dauerte jedes Mal unverhältnismäßig lange. Vermutlich sollte seitens der Familie in Friesland die „Kollaboration“ verhindert werden.

Familienmitglieder waren im aktiven Widerstand, teilweise sogar führend, tätig. Eine 14tägige KdF-Ferienreise unternahmen die Brautleute 1943 nach Rupolding. Der Urlaub verregnete total und meinem Vater waren die Berge seitdem verhasst. Da es aber kriegsbedingt keine große Auswahl an Ferienzielen gab nahmen die Verlobten das Angebot zu einem weiteren Urlaub in Garmisch an. Der KdF-Reisezug startete in Hannover am 14. Juli 1944. Dort warteten die Reisenden stundenlang auf dem Bahnsteig darauf, dass der Zug bereitgestellt würde. Statt des Zuges kam dann die Durchsage man möge sich wieder auf die Heimreise begeben, da die Züge anderweitig benötigt würden. In Bielefeld angekommen suchte mein Vater dann dem Radio die entsprechenden Informationen zu entlocken. Es war D-Day gewesen, die Landung der Alliierten in der Normandie. Da war ihm klar dass die Endphase des Krieges begonnen hatte. Im Büro hing eine große Landkarte auf der die Angestellten mit Stecknadeln täglich den Frontverlauf markierten. Ab jetzt die taktischen Rückwärtsbewegungen Rommels und das Warten auf die neuen geheimen Wunderwaffen. Im Geiste glich mein Vater den Frontverlauf nach seinen Informationen ab und überlegte sich, nicht ohne Angst, wie der Endsieg wohl aussehen möge. Es waren auch ganz persönliche Ängste, was würde mit ihm als „Fremdarbeiter“ geschehen.

Alles veränderte sich am 30. September 1944. Es war ein sehr warmer Sonnabend und mein Vater beschloss anlässlich des schönen Wetters nach Kracks zu fahren um die ehemaligen Nachbarn zu besuchen. Er überlegte sich, ob er mit dem Fahrrad oder der Eisenbahn fahren sollte und entschied sich wegen der Wärme für die Bahn. Er kleidete sich sehr sommerlich, eine kurze Hose, ein kurzärmeliges Sommerhemd und Sandalen, ohne Strümpfe. Als er auf dem Bahnsteig stand, um die Abfahrt des Zuges zu erwarten, wurde Fliegeralarm gegeben. Ein größerer Bomberverband näherte sich Bielefeld. Alle suchten schnell Sicherheit im Bahnhofsbunker. Nach wenigen Minuten wurde Entwarnung gegeben, die Flugzeuge hatten Kurs auf Osnabrück genommen. Die Alliierten hatten bereits die Lufthoheit über Deutschland gewonnen und seitens der Flugabwehr kaum noch Widerstand zu erwarten, so dass die Angriffe auch bei Tageslicht geflogen wurden. Nach zehn Minuten wurde noch einmal Alarm gegeben, die Bomber hatten Osnabrück nur überflogen um ihre todbringende Last über Bielefeld abzuwerfen. Erneut suchten alle Schutz im Bahnhofsbunker während sich die Stadt in ein Inferno verwandelte. Der Bahnhofsbunker erhielt mehrere Volltreffer, hielt aber stand. Im Inneren des Bunkers müssen sich dramatische Szenen abgespielt haben. Die zusammen gedrängten Menschen wurden durcheinander gewirbelt und konnten sich nicht auf den Beinen halten. Eine Panik brach nicht aus, weil die Eingeschlossenen wussten, dass es keinen Ausweg aus der Situation gab. Nach der Entwarnung dauerte es noch eine längere Zeit bis die Bunkertüren geöffnet werden konnten. Alle waren nur froh darüber noch am Leben zu sein. Die vor ihnen liegende brennende Stadt wurde in den Ausmaßen kaum wahrgenommen. Da die Innenstadt nicht mehr zugänglich war, machte sich mein Vater auf zur Wertherstraße zu seinen Schwiegereltern. Den Westen der Stadt hatten nur wenige Bomben getroffen. Am nächsten Tag gelang es meinem Vater dann in die fast gänzlich zerstörte Güsenstraße zu gehen und stand fassungslos vor den rauchenden Trümmern des Hauses. Das gesamte Hab und Gut des Brautpaares war ein Opfer der Flammen geworden. Alles was er noch hatte war buchstäblich das was er auf dem Leib trug. Und sein Portomanie und den Hausschlüssel. Den hat er dann voller Verzweiflung in die Trümmer geworfen.

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