Buch lesen: «Fürstin des Lichts», Seite 2

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„Das Licht kann ohne Schatten nicht sein“, Teil II:

Die Sternelben trugen das Licht zurück in viele Menschenseelen. So gewahrten die Erdbewohner den Unterschied zwischen Gut und Böse. Doch manche Seele blieb schwarz, manche beherbergte sowohl Licht als auch Schatten, andere wiederum waren von reinem Leuchten erfüllt. Den Sternelben aber gefiel es unter Menschen, Tieren und Pflanzen. Besonders die Blumen hatten es ihnen angetan. So verweilten etliche auf der Erde.

Zwischen den Zwillingen herrschte abermals das alte Gleichgewicht. Indes, die Finsternis gab keinen Frieden, sie missbilligte die Sternelben, fühlte sich, obwohl zu Unrecht, neuerlich hintergangen. Da flüsterte ihr der Mond zu, er könne Geschöpfe nach ihrem Geschmack erschaffen und unter die Menschen geleiten.

Bald schon krochen nachts üble Schattenwesen umher. Die meisten Menschen flohen voller Entsetzen vor ihnen und nannten sie fortan Dämonen. Die grausamen Geschöpfe der Nacht lechzten auch nach den Sternelben, konnten jedoch im Licht der Sonne nicht bestehen. Nacht für Nacht flüchteten die Sternelben vor den Dämonen in die hell erleuchteten Häuser guter Menschen. Und bedankten sich mit vielerlei Diensten für den sicheren Unterschlupf.

Die Finsternis grollte über das Versagen ihrer Diener und brütete einen neuen Plan aus. Dann befahl sie dem Dämonfürsten, das elbische Sternsilber zu stehlen. So kam es zum Krieg zwischen Sternelben und Dämonen. Mit magischen Blitzen und Feuern bekämpften sie einander im Zwielicht jahrelang. Unzählige kamen um, bevor der listige Diebstahl des machtvollen Elbenschatzes gelang. Ohne das Sternsilber jedoch waren die letzten Sternelben für alle Zeit an die Erde gebunden.

Auch bei den Menschen zeigte der Krieg schlimme Folgen. Viele erblindeten von den Blitzen oder verloren Hab und Gut durch die Feuer. So erkannten sie die unirdische Macht der Sternelben und fürchteten auch sie. Darüber herrschte große Trauer unter den Sternengeschöpfen. Schließlich verhüllten sie sich als unsichtbare Lichtgestalten. Seither wachen sie im Verborgenen über die Erde.

Ohne groß nachzudenken formulierte sich eine Frage in meinem Kopf. „Muss es nicht Dämonen und Engel heißen?“

Du sprichst wahr, so wurden die Elben später von den Menschen genannt. Weißt du um das Wirken der Mönche in früher Zeit?“

Ja, die Schriftkundigen unter ihnen stellten Kopien her, so blieb das Wissen über die Jahrhunderte erhalten.“

Richtig. Doch nach den großen Kriegen existierte nur mehr eine einzige alte Abschrift über die Geschichte der Elben. Als in späterer Zeit davon eine Übersetzung angefertigt werden sollte, entzifferte der Mönch äußerst mühsam die kaum mehr lesbaren Schriftzeichen. Aus Elben machte er Engel und noch manch anderen Fehler. Bald darauf zerfiel die alte Schriftrolle zu Staub.“

Tja, wenn banale kleine Dinge die Welt verändern. Und die Flügel?“

Was meinst du, Lilia?“

Hatten die Engel-Elben wirklich Flügel?“

Nein, sie haben keine.“

Richtig, hätte ich an dieser Stelle ordentlich hingehört, dann wäre postwendend die Frage fällig gewesen: Wieso haben?

Von Natur aus mit genügend Intelligenz und einigem Geschick ausgestattet, nützten mir diese Fähigkeiten im Alltagsgeschäft herzlich wenig. Insbesondere beim Kontakt mit Fremden ging grundsätzlich jede Menge schief. Logisches Denken verabschiedete sich ebenso wie konzentriertes Zuhören oder eine sichere Hand. Umkippende Gläser, das Stammeln halber Sätze und darüber vergessend, was ich wollte, kein einziges Manko wurde im Laufe meines Erwachsenenlebens besser. Es machte mich menschenscheu. Manches Mal wünschte ich, anders geraten zu sein.

Wir kennen deine Schwächen und wir kennen deine Stärken.“

Meine einzige Stärke ist die Fähigkeit, komplett in einem Buch zu versinken“, seufzte ich.

Wie möchtest du sein, Lilia?“, fragten sie ganz beiläufig. Eine rein rhetorische Frage, denn sie wussten präzise, wie sie mich haben wollten.

Ein gutes Herz …“

Du hast ein gutes Herz.“

und ein liebenswertes Wesen sein …“

Das bist du.“

Prompt keimten Zweifel in mir auf. Und die Frage, wie ich sein wollte, entpuppte sich bei genauerer Betrachtung als ziemlich schwierig. Beispielsweise wusste ich viel, zu viel, über Menschen, die mir begegneten. Ihre Gesichter präsentierten sich mir als offene Bücher ihrer Emotionen, ihres Charakters und so mancher Gedanken. Zwangsläufig empfand ich es als schlimme Belastung, ständig solch Übermaß an ungebetenen Einblicken aufzunehmen. Eine halbe Stunde in der vollen S-Bahn konnte mir ernsthaft den gesamten Tag versauen.

Nach reiflichem Nachdenken gab ich mich kopfschüttelnd geschlagen. „Ich bin nun mal ich!“ Plötzlich schoss durch meinen Kopf die alles entscheidende, hartnäckig abgeblockte Frage: „Was wollen sie von mir?“ Seltsamerweise überfiel mich bleierne Müdigkeit. „Morgen reicht ja wohl auch noch dafür.“

Weit nach Mitternacht wankte ich ins Schlafzimmer.

Lilia, lass die Vorhänge offen, damit wir wachen können.“

Wieso wachen?“ Langsam entwickelte ich mich zur Quizkönigin der unbeantworteten Fragen.

Ein herrlicher Tag! Dick eingepackt genoss ich die Sonne bei einem ausgiebigen Spaziergang an der Spree. Träge trieben Eisschollen den Fluss hinunter. Nachdenklich ließ ich die Ereignisse der letzten Tage en detail Revue passieren. Mein Gehirn hatte die körperliche Verwandlung, ehrlich betrachtet, weder verdaut noch akzeptiert. Vor dem Badspiegel wütete regelmäßig das Ignorantentum. „Verfluchte Wünsche!“ Verdrossen stürzte ich mich auf das Auge des Wirbelsturms, die unheimlichen „internen“ Gesänge. „Nein, ach nein, der Brocken ist eindeutig zu groß.“ Mit fest umklammerter Gedankenbremse blockte ich den Angriff des riesigen Fragengeschwaders ab. „Plan B, bitte.“ Vielleicht ließen sich nachher im Internet ein paar hilfreiche Informationen über Elben recherchieren. Prompt motzte mein Alter Ego: „Sicher doch, immer hübsch vom Thema ablenken.“ „Gar nicht wahr, in Geschichte bin ich schon immer eine Niete gewesen. Und über Elben sollte ich besser mehr in Erfahrung bringen.“ „Na gut, gewonnen – vorerst.“

Endlich bemerkte ich es. „Wieso ist es dermaßen still in meinem Kopf?“ Anscheinend hörte ich die Geistgäste ausschließlich in meiner Wohnung. Hieß das etwa, wenn ich das magische Buch beseitigte, würde ich in meinem alten Leben aufwachen? Wollte ich das? Kläglich leise Ja-Rufe scheiterten gnadenlos am Nein-Orchester aus der Neugierzone.

Zurück daheim, suchte ich Literatur über Elben. Neben zahllosen, erwartbaren Treffern bei Sagen, Märchen und Fantasy existierten kaum Einträge zu wissenschaftlichen Abhandlungen.

Die wenigen Sachbücher wollte ich gerade bestellen, als sie Einspruch erhoben.

Dort wirst du keine Weisheiten finden.“

Was erwartet ihr von mir?“ Das hatte ich in diesem Augenblick doch ganz bestimmt nicht wirklich gefragt, oder? Und ob!

Ihr sprachloses Singen klang beinahe schüchtern. Ich wartete. Die Zeit schlich laut meinem Bauchgefühl in Zeitlupe dahin, während mein realer Magen unbekümmert Übelkeit produzierte.

Lilia, deine Urmutter war eine Elbenfrau“, stimmten sie ihren Gesang an.

Aber meine Mutter war eine Drachenhexe“, warf ich ohne Nachdenken dazwischen.

Wohl wahr! Sie tat berechnend Böses, um dich zu verderben.“

Ja, sie brachte mir nichts als Neid, Kälte und Hass entgegen.“ Alte, tief vergrabene Wunden platzten in mir auf. Krampfhaft klammerte ich mich gedanklich an die dubiose Elbenfrau im Stammbaum. Kein Stück einfacher.

Möchtest du mehr erfahren?“

Mach schon, gib dir einen Ruck. Ja!“

Kennst du die Kirche Santa Christiana in der Krongasse?“

Äh, nein. Wieso?“ Meine Verwirrung war komplett.

Bitte begib dich dorthin.“

Kapitel 2

Mit Hilfe eines zerfledderten Stadtplans, S-Bahn und Bus gelangte ich fast bis vor die Tür von Santa Christiana. Vielleicht sollte an dieser Stelle erwähnt werden, dass ich zwar eine Niete in Geschichte war, dennoch alte Gemäuer innig liebte. Ganz einfach, weil Schlösser, Speicher, Wohnhäuser, Kirchen oder andere erhaltene Bauwerke mit etwas Fantasie greifbare Geschichten erzählten.

Santa Christiana lag, teils umrahmt von hohen Pappeln, etwas zurückversetzt. Davor befanden sich Parkplätze, nebenan das Pfarrhaus. Zwar erwartete ich keinen Dom, aber auch keine fast winzige, spätgotische Kirche mit schlichten Glasfenstern. „Wie alt mag sie sein, vierzehntes Jahrhundert?“

Entschlossen ging ich zur Eingangstür und drückte die Klinke herunter. „Offen, prima.“ Dämmriges Licht herrschte im Innern. Meine Augen brauchten einen Moment, bis sich links der Kirchenraum und rechts der Altarraum herausschälten. Die Orgel vermittelte bei meinem Rundgang einen ziemlich mitgenommenen Eindruck, wie überhaupt die gesamte Einrichtung. Abgewetzte Bänke, verstaubte Holzskulpturen und rissige Gemälde boten ein Bild der Verwahrlosung.

Was jetzt? Hallo, ich bin da!“ Wenn das jetzt nicht völlig durchgeknallt war, was dann?

Durch das Fenster, welches der linken Hälfte des Altarraums etwas Tageslicht spendete, fiel ein Sonnenstrahl hinein. „Nein“, meldete sich mein Verstand, „unmöglich um diese Uhrzeit“. Behutsam trat ich näher. Das Licht fiel in einem Kegel genau auf jene zwei Stufen, die den Altar umgaben.

Lilia!“

Heftig erschrocken fuhr ich zusammen. Warum erschallten sie plötzlich in dröhnendem Dolby Surround?

Weil dies ein uralter, heiliger Ort ist, wie ihr Menschen es nennt. Bitte setz dich.“

In das Licht?“

Bitte.“

Wäre es um einen stockdunklen Flecken gegangen, hätte ich mich glatt geweigert. So aber setzte ich mich mutig auf die oberste Stufe. Sehr grelles, weißes Leuchten. Meine Augen bereits zugekniffen, spürte ich sogleich ein leichtes Kribbeln auf meiner Haut.

Seid ihr Heilige?“, fragte ich mangels gescheiter Ideen, obwohl ich deren Existenz stark anzweifelte.

Wir sind Sternelben, die Gesandten des Lichts.“

Normalerweise würde jedes Gehirn diese Information unverdaut wieder ausspucken. Wohl infolge der bisherigen Erlebnisse verweigerten meine grauen Zellen keineswegs die Annahme ihrer ungeheuerlichen Behauptung.

Du machst Fortschritte, Lilia.“

Warum nennt ihr mich so?“

Lilie und Elischeba, äußere Schönheit und innere Vollkommenheit, spiegeln sich in deinem Namen.“

Schönheit und Vollkommenheit – ich? Absurd!“

Die Sängerinnen gingen über meinen Einwurf hinweg. „So wurde es prophezeit: Das Böse gebiert ein Lichtkind. Dieses Kind wird erwachen, bevor die Finsternis abermals alle Menschen verschlingt.“

Aber woher wollt ihr wissen, dass ich damit gemeint bin? Außerdem heiße ich doch ganz anders“, beharrte ich hilflos.

Sie antworteten mit schwellendem Gesang: „Nur, weil sich deine Mutter dem Licht verweigerte!“

„Lasst sie verdammt nochmal aus dem Spiel! Niemand hat das Recht, meine Vergangenheit aufzuwühlen! Niemand!“, brüllte ich, dass es im Kirchenraum widerhallte. Darüber heftig erschrocken, kauerte ich mich zusammen und hielt den Atem an.

Meine Giftmischerin von Mutter war auf dem Höhepunkt ihrer höllischen Karriere aufgeflogen und der Polizei umstandslos durch Selbstmord entwischt. Diese einmalige Chance hatte ich, obwohl noch minderjährig, genutzt, um spurlos in Berlin unterzutauchen.

Die Ignorantin in mir, immer den drohenden Wahnsinn im Visier, siegte nach langen Minuten des Schweigens. Keinerlei Nachfragen an die Stimmen zu Prophezeiung und Finsternis. Stattdessen abrupter Themenwechsel, alles auf Anfang. „Diese Kirche, warum ist sie wichtig für euch?“

An diesem Ort opfern und verehren Menschen seit Urzeiten. Es begann mit einer Kultstätte für die Sonne, später folgten Tempel für verschiedene Gottheiten. Schließlich eroberte das Christentum den Platz. Selbst diese Kirche ist nicht die erste, an ihrer Stelle stand vormals eine Kapelle. Nur hier währt schwach der reine Urglauben an das Gute, genährt von unzähligen Menschengenerationen über Jahrtausende hindurch. Deshalb können wir dir nah sein.“

Amüsiert registrierte ich erstmals den sprachlichen Mischmasch aus teils antiquierten, teils modernen Wörtern.

Wir lernen genauso wie du.“

Was soll ich lernen?“

Zunächst einmal müssen sich deine Eigenschaften und Fähigkeiten voll entfalten, bevor du lernst, sie zu gebrauchen.“

Obschon keinen Plan, wovon genau sie da summten, entgegnete ich lapidar: „Das ist alles?“

Unterschätze die Aufgabe nicht.“

Ich habe so viele Fragen!“

Genug für heute, Lilia. Du musst dich sputen, die Dunkelheit naht.“

Och, die Nacht macht mir keine Angst.“

Komisch, sie summten wirr.

Den Heimweg verbrachte ich traumduselig, bis mein Alter Ego loslegte: „Aber klar doch, typisches Erzählmuster von Fantasystories. Irgendwann taucht irgendwo ein unscheinbares Persönchen auf, in dem sich aus unerfindlichen Gründen ein mysteriöses Erbe verbirgt. Tse! Könntest du dir eventuell mal ins Gedächtnis rufen, dass außerhalb von Büchern eine stinknormale Realität existiert?!“

Der Besuch in Santa Christiana hatte selbstverständlich von Anfang an einen tieferen Sinn für die Sternelben gehabt. Nebenbei versuchten sie, meinen Charakter insgeheim nach ihren Plänen zu formen. Dass solche Veränderungen durchaus unerwünschte Nebenwirkungen mit sich bringen könnten, ging ihnen erst reichlich spät auf.

Tatsächlich Montag. Der Wecker piepte unerbittlich. „Ich muss arbeiten“, war der erste Gedanke.

Guten Morgen, Lilia. Du wirst nie mehr arbeiten“, säuselten die Sternelben.

Aber … Wieso das?“

Nach deinem Tee mehr.“ Das klang fast wie amüsiertes Lachen.

So rasch der Morgenmuffel in mir es erlaubte, brachte ich Tee kochen und Badbesuch über die Bühne. Noch knurrig nach der Barbiepflege, setzte ich mich an den Küchentisch.

Bitte geh an deinen Schreibtisch.“

Okay.“ Vorsichtig die Tasse balancierend, durchquerte ich das Wohnzimmer und blieb vor dem Schreibtisch stehen.

Schau dir deine Papiere an.“

Die Kontoauszüge hatte ich bei meinem Horrortrip ins Einkaufscenter noch gezogen, wie immer unbesehen eingesteckt und hier mitsamt den Kassenzetteln hingeworfen. „Was soll das werden?“ Hektisch wühlte ich im Durcheinander.

Fünf Millionen Euro! Aber, woher?“

Ein Präsent für dich.“

Natürlich, ein Wunsch lautete ja, reich zu sein“, erinnerte ich mich unbehaglich. Solch eine aberwitzige Summe schien mir nun das nächste fiese Lehrgeld für Unbedachtheit. „Was soll ich denn mit so viel Geld?“

Auf Sparsamkeit war ich von Kindesbeinen an gedrillt worden. Nie überzog ich das Konto, die luxuriösen Auslagen der Geschäfte ließen mich kalt. Einzige Ausnahme, wie schon erwähnt: gedruckte Bücher. Das Regal im Wohnzimmer nahm eine komplette Wand ein und platzte, wie man so schön sagt, aus allen Nähten. Egal ob Küche, Flur oder Schlafzimmer, überall standen kleinere, volle Regale, dienten selbst Kommoden als Ablageflächen.

Wir möchten, dass du ein Haus erwirbst.“

Ungläubig stierte ich weiter auf das Papier, dann endlich fiel der nächste Hammer in mein Blickfeld. Kontoinhaberin war Lilia Joerdis van Luzien. „Was habt ihr getan?“, schrie ich in Gedanken. Doch ohne ihre Antwort abzuwarten, schwante mir Ungeheuerliches. „Wo steckt meine Geldbörse?“ Sie lag genau vor meiner Nase. Von dem herausgezogenen Personalausweis guckte mir mein neues Ich entgegen, neuer Name, neues Geburtsdatum.

Feierlich schmetterten sie: „Joerdis van Luzien bedeutet ‚Schwert der Göttin des Lichts‘.“

Mir schwindelte und doch blieb der innere Aufruhr mäßig.

Elin, meine so unbekannte wie unsichtbare Untermieterin, hatte ganze Arbeit geleistet.

Die cleveren Lichtwesen ließen mich das Ganze erst einmal in Ruhe verdauen.

Während sich die Teekanne langsam leerte, dachte ich irgendwann auch über ein Haus nach. Das wollte mir keinesfalls in den Kopf. „Was soll ich allein damit?“

Dort wirst du Ruhe finden und es ist sicherer.“

Aber die Gegend hier ist ruhig und sicher. Gerade deswegen entschied ich mich vor einigen Jahren für diese Wohnung.“

Möchtest du keinen schönen Garten?“

Oh, jetzt packten sie mich beim Schlafittchen, davon träumte ich in der Tat in manchem Sommer.

Heute findet die Besichtigung statt. Es handelt sich um ein Gartenhaus in der Rosenallee.“

So schnell schon?“, sendete ich ebenso verzagt wie überrumpelt.

Punkt 14 Uhr klingelte ich an dem herrschaftlichen Vorderhaus. Ein schmucklos klotziges, lang gezogenes Gebäude aus der vorigen Jahrhundertwende, mit schmutzig weißem Anstrich. Offensichtlich war dem Haus jede Liebe zum schmückenden Detail verweigert worden.

„Ihnen scheint mein Haus zu missfallen.“ Der Mann, der nun die Haustür öffnete, hatte mich bereits beobachtet.

„Guten Morgen, ja, Sie haben recht“, gab ich ebenso direkt zurück. „Ich interessiere mich für das Gartenhaus.“ Und hoffte inständig, der auf Anhieb unsympathische Kerl und das Gartenhaus würden mich möglichst flott mit ihrer Schokoseite überraschen.

So unverhohlen skeptisch wie der Eigentümer mich von oben bis unten musterte, standen zumindest in seinem Fall die Chancen dafür schlecht. „Es steht zum Verkauf“, sprach er betont deutlich aus, „für zweieinhalb Millionen“.

Mit einem Kostüm von Chanel statt Jeans und Steppjacke sowie einem hinter mir geparkten BMW, so dämmerte es mir, stünden meine Karten jetzt besser.

Ich lächelte süßlich. „Möchten Sie die Summe in bar, falls mir das Haus zusagt?“

Ah, die Sprache verstand er, ein Grinsen zuckte über sein hartes Gesicht. „Ich hole die Schlüssel.“

Der Knilch bat mich trotz klirrender Kälte nicht hinein. „Idiot!“

Wir gingen einen Kiesweg hinunter, rechts und links mit Buchsbäumchen bepflanzt. Auf der linken Seite erstreckte sich hinter dem Haupthaus ein verschneiter Park. Alte Eichen, Buchen und Nadelbäume reckten ihre Äste weit in den Himmel, dazwischen blitzte eine Eisfläche auf.

„Der Park ist von etwaigen Sommerpartys strikt ausgenommen, das wird im Kaufvertrag festgehalten.“

Was für ein Fiesling.“ Unser Weg schwenkte leicht nach links und gab den Blick frei auf einen herrlichen Brunnen. „Und was für ein Haus!“ Die Fassade im warmen Ockergelb gestrichen, mit großzügigen weißen Sprossenfenstern, zwei Säulen umrahmten den Hauseingang.

Der Eigentümer schritt die Stufen empor und öffnete neben der doppelflügeligen, weißen Holztür ein eingelassenes Metallkästchen.

„Ich habe das Haus mit dem modernsten Sicherheitssystem ausrüsten lassen. Nur mit der richtigen Zahlenkombination und dem dazu passenden Schlüssel gelangt man hinein.“

Da er dies mit sichtlichem Stolz verkündete, rang ich mir ein „sehr schön“ ab. Heftig fieberte ich nun dem Inneren entgegen.

Die Eingangshalle war beinahe rund, durchbrochen von einer Freitreppe.

„Früher logierten hier die Gäste unserer Familie.“

Zuerst ließ er mich das Gäste-WC besichtigen, dann die traumhaft geräumige Küche. Der Clou war ein nachträglich daran angebauter Wintergarten.

„Mit Fußbodenheizung, wie übrigens im ganzen Haus.“

Im Wohnzimmer, „selbstverständlich mit Kamin“, reichten die Fenster auf der Terrassenseite fast von der Decke bis zum Boden. Ein heller, riesiger Raum mit üppig hohen Stuckdecken. Es würde einige Mühe kosten, dem eine gemütliche Atmosphäre zu geben. „Ganz alleine hier leben?“, ging es mir durch den Kopf, „auf über zweihundertvierzig Quadratmetern?“ Konnte das gutgehen? Ergab das Sinn?

Danach stiegen wir ins Obergeschoss. Rechts führte die erste Tür ab.

„Dahinter befindet sich jetzt eine kleine Gästewohnung, sie liegt über den ehemaligen Ställen“, beschied er mich mit der Stimme eines Zahnarztes, der mit seinem Bohrer vor einem zugekniffenen Mund herumfuchtelt.

Der Mann bereitete mir wachsendes Unbehagen. „Konzentriere dich auf das Haus“, zwang ich meine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung.

Urgemütlich mit ihren Schrägen und Erkern, bestand die Gästewohnung aus einem langen Wohnraum und dem dahinter liegenden Bad.

Zurück auf dem Flur, folgte die Besichtigung weiterer Zimmer mit Bad. Währenddessen textete er mich mit Details aus der Sanierung des Gartenhauses zu, die mich nicht die Bohne interessierten. Er brüstete sich, als wären die Arbeiten von ihm eigenhändig ausgeführt worden. „Wer’s glaubt“, dachte ich und gab trotzdem, fleißig lächelnd, Laute scheinbarer Bewunderung von mir.

Das Sahnehäubchen, sofern es dessen überhaupt noch bedurfte, verbarg eine Wendeltreppe. Flink ergatterte ich den Vortritt, erklomm vorsichtig das Rondell und schritt wenige Sekunden später in einen achteckigen Raum.

„Dort befand sich das Observatorium meines Urgroßvaters“, tönte er von der Treppe.

Wände und Kuppel bestanden komplett aus Glas. „Nachts muss es herrlich sein, hier einfach auf dem Boden zu liegen und in die Sterne zu schauen.“ Schon als Kind konnte ich mich in der Betrachtung des Sternenhimmels verlieren, seine Unendlichkeit schreckte mich nie.

„Hrmmrmmh.“ Dem Räuspern folgte seine drängelnde Ansage: „Sie sollten noch den Keller, die Garagen und die Außenanlage begutachten.“

Während wir gemeinsam das Haus umrundeten, fiel mir eine dezente Hecke auf. Unverblümt fragte ich danach.

„Sie markiert die Grenze Ihres Grundstücks, auf dem Sie selbstverständlich tun und lassen können, was Sie möchten.“

Meines Grundstücks? Na bitte!“ Selbstbewusst verkündete ich: „Ich kaufe das Gartenhaus.“

Er streckte mir seine Hand entgegen, ich schlug ein.

„Unsere Anwälte regeln dann die Formalitäten.“

Sag ihm jetzt bloß nicht, dass du gar keinen Anwalt hast.“ „Einverstanden“, gab ich zurück.

Zu der ungestümen Freude über das Haus gesellte sich große Erleichterung, endlich aus dem Dunstkreis des Ekeltypen zu gelangen.

Obwohl erschöpft von meiner Besichtigungstour zuhause angekommen, gönnte ich mir beim mittäglichen Frühstück keine Denkpause. Viel größere Sorge als die Abwicklung des Kaufs bereitete der neue Nachbar in spe. „So ein eiskalter, bornierter Widerling“, schüttelte es mich.

Darüber mach dir bitte keine Gedanken, das Problem wird in naher Zukunft verschwinden“, brausten sie.

Ausdrücklich wollte ich keinesfalls wissen, wie und warum. „Das Haus ist so groß, nachts werde ich mich dort bestimmt fürchten“, gab ich kleinlaut zu bedenken.

Was hast du in dem Haus gefühlt?“

Verblüfft ging ich der seltsamen Frage nach. „Der Mann, irgendwie fühlte sich seine Nähe falsch an, dunkel, jede Empfindung in dem Gebäude überschattend.“ Dann dachte ich an das Observatorium. „Ja, ein wunderschöner Moment reinen Glücks!“

Du wirst in dem Haus glücklich sein, das versprechen wir dir.“

Nicht jedes zukünftige Ereignis steht in den Sternen, wie ich später auf die harte Tour lernen musste.

Ausgeschlafen startete ich in den Dienstag. Langsam wurde mir klar, was mit dem Haus alles auf mich zukam. Umzüge empfand ich, wie wohl viele Menschen, grundsätzlich als Albtraum. Diesmal musste obendrein ein riesiges Haus mitsamt Küche eingerichtet werden. Das klang nach einem Fulltimejob. „Echt ein Segen, keinen Job mehr zu haben.“ Bei diesem Gedanken fiel mir zum ersten Mal auf, dass niemand vorbeikam, anrief oder Emails schickte, niemand mich vermisste. Warum war mir das entgangen? Haltlose Leere kaperte mein Herz, noch bevor mein Verstand harten Gesangsunterricht verpasst bekam.

Lilia, die Menschen, die du kanntest, gehören der Vergangenheit an.“

Mein Magen begriff schneller als mein Verstand, beförderte den Tee knapp, aber wenigstens in die Spüle. Heftiger Schwindel ließ mich den Beckenrand umklammern. Mit Gummiknien schleppte ich mich schwer atmend zum Küchenstuhl hinüber. „Aber meine Freunde… Ihr könnt doch nicht einfach mein Leben zerstören!“

Du wirst neue Freunde finden“, flötete ihr Chor.

Das traf mich steinhart. Wenn auch wenige an der Zahl, hing ich unendlich an ihnen. Tränen schwammen in meinen Augen und ich versuchte, gegen meinen rebellischen Magen anzuschlucken. Tief greifender Abschiedsschmerz, mindestens wie bei einer Beerdigung, presste mein Herz zusammen.

Die Sternelben versuchten singend Trost zu spenden.

Sämtliche Brücken in die Vergangenheit kippten wie Dominosteine. „Bin ich wirklich bereit, alles und vor allem mich selbst aufzugeben?“

Du gibst dich nicht auf, du bist auf dem Weg zu dir selbst.“

Mein Selbst entwickelt sich zu einer absolut Fremden“, erwiderte ich tonlos.

Wie hoch würde der Preis dieser mysteriös-verrückten Geschichte steigen? Unruhig tigerte ich durch die Wohnung, mochte mich für keinen nächsten Schritt entscheiden. Echt paradox, dass mich das beiderseits herrschende Schweigen nervös machte. „Am besten raus hier und einen ersten Streifzug durch Möbelhäuser unternehmen.“

Echter Widerstand ging anders.

Im Möbelhaus kam ich nie an. In beunruhigend verworrene Gedanken versunken, fand ich mich vor Santa Christiana wieder. Dummerweise war die Tür diesmal verschlossen.

„Hallo, möchten Sie in die Kirche?“ Von dem Pfarrhaus kam ein Priester herüber und sah mich neugierig an.

„Ja, das wäre schön. Ich dachte, sie sei immer offen“, antwortete ich und blickte ebenso neugierig zurück.

Der Priester musste etliche Jahre jünger als ich sein. „Nein stopp, jetzt natürlich etwa fünfzehn Jahre älter.“ Sein freundliches, offenes Gesicht, mit den Lachfältchen um seine Augen, flößte mir ansatzweise Vertrauen ein.

„Ich bin Lilia.“

Er ergriff die ausgestreckte Hand. „Pater Raimund. Kommen Sie, ich schließe auf. Schätze dürfen Sie in unserer bescheidenen Kirche allerdings kaum erwarten.“

Ehrlich währt am Längsten. „Nein, ich weiß, mir geht es um die Stille.“

In der Kirche empfing uns bittere Kälte. War mir das bei dem ersten Besuch entgangen?

„Leider hat unsere Heizung einen Totalschaden, deshalb war auch zugesperrt. Unsere Gemeinde muss bis zum Frühling in der Nachbarkirche unterschlüpfen.“

Das war allzu offensichtlich nur die halbe Wahrheit.

„Dauert der Einbau einer neuen Heizung denn dermaßen lange?“, lockte ich ihn aus der Reserve.

„Nein, nein“, lachte er bitter, „wir sind einfach pleite, das ist der Grund. Aber nun lasse ich Sie allein, anstatt Sie mit meinen Sorgen zu belasten.“

Kaum hatte der Priester die Kirche verlassen, strebte ich auf den Altar zu und hockte mich auf dessen Stufen. Ihr Licht erschien zu meiner großen Erleichterung. Im Geist formulierte ich eine Frage mit dem frechen Hintergedanken, mein Konto möglichst rasch mit Hilfe sinnvoller Investitionen zu leeren. Die Sternelben freuten sich über meine Idee. Später am Tag musste ich lediglich noch herausfinden, wie man eine anonyme Spende über fünfzigtausend Euro hinbekam. Die Aktion war nicht völlig ohne Hintergedanken, schließlich vermutete ich vage, noch häufig an diesen Ort zu kommen.

Pater Raimund wird dir ein wahrhaft guter Freund sein, Lilia.“

Das wäre schön! Aber noch schöner fände ich es, wenn ihr mir jetzt verraten würdet, wozu ihr mich braucht“, drängelte ich.

Erst weit später, dennoch schneller als von den Sternelben erwartet, sollte ich ein bedeutendes Stück der schaurigen Wahrheit erfahren: Die Dämonen hatten, angetrieben durch ihren irdischen Fürsten, eine Möglichkeit gefunden, sich Menschen gefügig zu machen. Daher drohte ein Ungleichgewicht des Bösen.

Hier in der Kirche aber erklärten sie mir nur einen scheinbar harmlosen Teil des Problems. „Wir selbst können die Menschen nicht beeinflussen, weil uns kein wahrer Glaube mehr aneinander bindet. Deshalb wünschen wir uns, dass du diese Aufgabe löst.“

Was genau meint ihr damit?“, hakte ich irritiert nach.

Immer mehr Böses geschieht, ohne dass wir einzuschreiten vermögen. Wenn du dazu bereit bist, gibst du unser Wissen an die Menschen weiter, warnst sie vor Gefahren.“

Wer würde ausgerechnet mir zuhören? Ich kann wohl kaum einfach losrennen und den Leuten sonst was Apokalyptisches erzählen. Die würden mich glatt für verrückt halten!“, protestierte ich geschockt. Der Plan sprengte mein Vorstellungsvermögen.

Unterschätze niemals unsere Macht, Lilia. Wir werden dir helfen. Doch zuvorderst benötigst du göttliches Licht.“

Wozu ist das gut?“ Das mitschwingende Misstrauen hielt sich in engen Grenzen.

Du hast bemerkt, dass du uns nur in der Nähe des Buches und in dieser Kirche hören kannst. Nimmst du jedoch das Licht in dir auf, ist dies möglich, wo immer nötig.“

Klingt fast wie Zauberei. Und wie funktioniert das?“

Du spürst es bereits.“

Das Prickeln auf meiner Haut?“

Ja. Lege deine geöffneten Hände mit der Innenseite nach oben in deinen Schoß.“

Still saß ich lange so da und lauschte entrückt ihrem Gesang.

Die Sternelben verschwiegen mir, dass das aufgenommene Licht später vor allem als tödliche Waffe gegen Dämonen dienen würde. Und indem ich das Licht speicherte, wurde ich ganz nebenbei für die schrecklichen Wesen der Finsternis so sichtbar wie ein Komet in der Nacht. Auch diese Kleinigkeit unterschlugen sie. Doch die eigentliche Gefahr lag noch weit vor mir, und sie sollte gigantisch sein.

Anschwellender Gesang schreckte mich aus meinen fantastischen Träumereien hoch. „Lilia, genug für heute. Bevor du gehst, noch eines. Der Priester hat dich im Licht gesehen, als er nachschauen wollte, ob du bereits gegangen bist.“

Oh shit! Und jetzt?“

Jetzt hat er etwas, worüber es sich nachzudenken lohnt“, riefen die Sternelben lachend.

Kichernd begab ich mich auf den Weg zu meiner Wohnung. Unterwegs fand ich plötzlich die bloße Vorstellung, einen Priester als Freund zu bekommen, ziemlich skurril. Mit Kirche und Co. hatte ich noch nie was am Hut. Warum also hatte ich Begeisterung bekundet? Schwach! „Ein Freund, wie schö-ön“, mokierte sich mein Alter Ego „Nächstens steigerst du dich dann garantiert zu: ‚Ganz zauberhaft, meine Lieben, ganz zau-ber-haft‘!“ „Grrrrh.“

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