Buch lesen: «Personalentwicklung im Bereich Seelsorgepersonal», Seite 9

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4.1.2 Gaudium et spes: Wachstum und Bildung als Selbstüberschreitung

Das Reden und Handeln kirchlichen Personals zeigt das „Gesicht“ der Gesamtkirche. Personalentwicklung steht nach Gaudium et spes im direkten Dienst der Glaubwürdigkeit der christlichen Verkündigung. „Überdies sollen sich alle Hirten bewusst sein, dass sie in ihrem Lebenswandel und Bemühen der Welt das Antlitz der Kirche zeigen, nach dem die Menschen die Kraft und Wahrheit der christlichen Botschaft beurteilen.“ (GS 43,5) An diesem Eindruck wird die Aussagekraft der christlichen Botschaft gemessen. Mitarbeiter werden damit zu einem hohen Gut der Kirche, aber auch zu einem „Nadelöhr“ der Verkündigung. Kirche muss, mehr als alle anderen Organisationen, in die Personalentwicklung ihrer „Gesichter“ investieren.

„Aufgabe des ganzen Gottesvolkes, insbesondere der Hirten und Theologen, ist es, mit Hilfe des Heiligen Geistes die vielfältigen Sprachen unserer Zeit zu hören, zu unterscheiden und zu deuten und sie im Licht des göttlichen Wortes zu beurteilen, damit die geoffenbarte Wahrheit immer tiefer erfasst, besser verstanden und angemessener verkündet werden kann.“ (GS 44,2) GS markiert einen Paradigmenwechsel in Ansatz und Methode der katholischen Sozialethik: „Weg von einem statischen, ordnungsethisch-naturrechtlichen Typ, der deduktiv von überzeitlichen und geschichtlich unwandelbaren Normen ausgeht, zu einem veränderungsethischdialogischen Typ, der einem evolutiven Gesellschafts- und Geschichtsverständnis verpflichtet ist, induktiv vorgeht und deliberativ erörtert, wie sich eine Gesellschaft auf beschleunigtes Tempo sozialen Wandels, auf unerwartete, ‚umstürzende‘ Entwicklungen in Wissenschaft und Technik, auf revolutionäre Brüche einstellen kann. Im Blick auf das soziale Handeln der Kirche geht es hierbei um eine Verschränkung von Situationswahrnehmung, kriteriologischer Vergewisserung am Evangelium und praktischer Umsetzung analog zum Dreischritt ‚sehen – urteilen – handeln‘.“130 Indem Kirche in der Pastoralkonstitution ihre eigene Partikularität und Geschichtlichkeit anerkennt, bekennt sie sich als lernende Größe, die auf den Dialog angewiesen ist und diesen als Lernort bewusst aufsucht.

Das Weltbild des Zweiten Vatikanums impliziert eine systemische Dynamik: Kirche als sichtbarer und unsichtbarer Leib Christi ist nicht mehr (und war noch nie) linear und monokausal im Sinne einer Trivialmaschine mit „Input“ und berechenbarem „Output“ zu führen. Die Pastoralkonstitution „über die Kirche in der Welt von heute“ deutet an, worum es geht: Die Menschheit vollzieht einen Übergang von einem statischen Verständnis der Ordnung der Gesamtwirklichkeit zu einem dynamischen und evolutiven Verständnis. Die Folge davon ist eine neue Komplexität der Probleme, die wiederum nach neuen Analysen und Synthesen ruft. Die dadurch ausgelöste „heutige Unruhe der Herzen“ (GS 5,1) gilt es von resignativer Angsthaltung in kreative Neugier und Suchbewegungen überzuleiten. Dies ist erstes Anliegen der Personalentwicklung in einem lernenden Unternehmen.

Mit „Gaudium et spes“ hat die Kirche die Pluralität der modernen Welt und den steten Wandel grundsätzlich und „jenseits von Selbstmitleid und trotzigem Triumphalismus“131 als Chance der Vergegenwärtigung ihrer Botschaft anerkannt. Diese Anerkennung impliziert einen Auftrag. Die Kirche ist ein anpassungsfähiges Unternehmen. „Von Beginn ihrer Geschichte an hat sie gelernt, die Botschaft Christi in der Vorstellungswelt und Sprache der verschiedenen Völker auszusagen und darüber hinaus diese Botschaft mit Hilfe der Weisheit der Philosophen zu verdeutlichen, um so das Evangelium sowohl dem Verständnis aller als auch den berechtigten Ansprüchen der Gebildeten angemessen zu verkünden. Diese in diesem Sinne angepasste Verkündigung des geoffenbarten Wortes muss ein Gesetz aller Evangelisation bleiben. Denn so wird in jedem Volk die Fähigkeit, die Botschaft Christi auf eigene Weise auszusagen, entwickelt und zugleich der lebhafte Austausch zwischen der Kirche und den Kulturen gefördert.“ (GS 44) Kirche versteht sich nach GS nicht als Lehrmeisterin, sondern als Dialogpartnerin der Welt und der Menschen. Dabei ist Dialog nicht eine Methode, sondern eine von Gott ausgehende Grundhaltung. Diese Dialoghaltung meint Lernbereitschaft, welche sich im Außen und im Innen der Kirche abbildet. Das Evangelium muss im Verständnis der Pastoralkonstitution in alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens und Zusammenarbeitens hinein wirken. Die Kirche muss sich selbst nach den Prinzipien gestalten, die sie nach außen hin verkündigt. Hierarchische Strukturen sind in der katholischen Kirche so zu nutzen, dass Lernorte entstehen und Wissens- und Kompetenzzuwachs auf allen Ebenen gefördert werden.

Die Bedeutung der Pastoralkonstitution als Ort des radikalen Perspektivwechsels und als Summarium des Zweiten Vatikanums erschließt sich aus den lateinischen Begrifflichkeiten.132 „Offizium“ meint eine Aufgabe, die genauso verbindlich wie die Pflicht zum täglichen Stundengebet dazu aufruft, die Wachheit für die Zeichen der Gegenwart zu wahren. Diese Zeichen gilt es nicht nur subjektiv und ausschnitthaft wahrzunehmen, sondern zu erforschen (signa temporum perscrutandi). Erinnert wird hier an das Skrutinium, die Prüfung des Weihebewerbers im Hinblick auf die erforderlichen Eigenschaften nach can. 1051 CIC. Garhammer rekurriert auf die eigentliche Wortbedeutung des „Absuchens des Grundes mit der Ruderstange“, eine Kunst des Fährmanns und Über-setzers.133 Somit wird einer defensiven Lernhaltung im Dienste der Selbststabilisierung von Kirche eine Absage erteilt zugunsten eines offensiven und proaktiven Lernprozesses. Das Anliegen von Personalentwicklung im Sinne der Pastoralkonstitution muss sein, Mitarbeiter in der Kirche bereits in der Ausbildung auf Schärfung der Wahrnehmungskompetenz hin zu schulen. Ebenso wichtig ist es, diese Suchbewegung und Lernbereitschaft auf die Dauer der Berufsbiographie hin wach zu halten.

Pastoralprofis sind, trotz aller einforderbaren Loyalität, keine Apologeten des Bestehenden. Pastorale Akteure müssen fähig sein zur Analyse ihres jeweiligen Handlungsortes und der darin aufscheinenden „Zeichen der Zeit“. Dies impliziert einen fehlerfreundlichen Arbeitsstil und die Fähigkeit zum Diskurs. GS ermutigt die Kirche als Ganzes zu Lernprozessen, die durch Gegner und Diskurs ausgelöst und angestoßen werden: „Die Kirche bekennt ... , dass sie selbst aus der Gegnerschaft derer, die sich ihr widersetzen oder sie verfolgen, großen Nutzen gezogen hat und ziehen kann.“ (GS 44,3) In die Sprache des Veränderungsmanagements übersetzt, bedeutet dies, Widerstände als Lernchance und Frühwarnsystem aufzugreifen.

Institutionelle Rollen und darin eingebettete Handlungsroutinen werden immer weniger tragen. GS regt dazu an, neue ekklesiologische Zukunftsentwürfe zu entfalten. Dies setzt voraus, dass die gesamte im Unternehmen vorhandene Kompetenz mobilisiert und genutzt wird. Die Kirche bedarf „vor allem in unseren Zeiten, in denen sich die Verhältnisse sehr schnell ändern und die Denkweisen sich sehr unterscheiden, in besonderer Weise der Hilfe derer, die, in der Welt lebend, die vielfältigen Institutionen und Fachgebiete kennen und die Mentalität, die in ihnen innewohnt, verstehen, ob es sich um Glaubende oder Nichtglaubende handelt.“ (GS 44,2) Personale Kompetenz in der Pastoral ist hier bereits gut umschrieben. Es geht um die systemische und kairologische Sensibilität, das Wissen um die den gesellschaftlichen Systemen innewohnende „Mentalität“.

Die Anziehungskraft des Christentums lag bereits in seinen Anfängen in der Kraft der Globalität, der Präsenz in verschiedenen Sprachen und Denksystemen. Durch seine religiöse Pluralität war das Christentum besser anpassungsfähig als das Judentum und viele Mysterienkulte.134 Die Fähigkeit zu „kultureller Mehrsprachigkeit“ ist bleibender „Erfolgsfaktor“ und Voraussetzung einer kairologisch sensiblen Pastoral.

Die Fähigkeit, die Zeichen der Zeit zu erforschen (perscrutandi) und sich diesen auszusetzen, bedarf einer kontinuierlichen Lernbereitschaft. Der „Forscherdrang“ darf nach einem anstrengenden Studium und Ende der Ausbildungsphase nicht erliegen. Selbstgesteuerte Lernvorgänge müssen auch in fortgeschrittenem (Dienst)Alter durch lernfreudige Arbeitsabläufe initiiert und unterstützt werden. Hier beschreibt GS eine Suchbewegung des Menschen, die Postulate auch für die kircheninterne Personalentwicklung enthält. Es geht um die „ängstlichen Fragen nach der Entwicklung der heutigen Welt, nach Stellung und Aufgabe des Menschen im gesamten Erdkreis, nach dem Sinn seines individuellen und kollektiven Bemühens, schließlich nach dem letzten Ziel der Dinge und des Menschen“. (GS 3,1) Personalentwicklung hat den Auftrag, den Einzelnen in dieser Suche zu unterstützen. Es geht um das „En-jour-Halten“ der eigenen Qualifikation, durch welches jeder zur Erforschung der Zeichen der Zeit und zur „Heutigung“ des Evangeliums beiträgt. Kein Weg führt jedoch daran vorbei, „dass Menschen zukünftig um die ‚Verfallsdaten‘ ihrer Kompetenzen wissen und deshalb ein existentielles Eigeninteresse an deren ‚Wartung‘ entfalten müssen.“135

Menschliches Schaffen (somit auch die Berufstätigkeit) bedeutet Vervollkommnung, Lernen und Selbstüberschreitung. Die Ausbildung von immer mehr Fähigkeiten führt dazu, dass der Mensch „außerhalb seiner schreitet und über sich fort schreitet“. (GS 35,1) Dies betrachtet GS „als einen größeren Wert als äußerer Reichtum“. (GS 35,1) Jegliches Bemühen der Personalentwicklung gilt der Vermehrung dieses Reichtums, des „Humankapitals“ in der Sprache des Managements. GS „heiligt“ die Ziele einer potenzialorientierten Personalentwicklung, indem sie der Entfaltung des Menschen göttliches Wirken zuspricht. Die Heilige Synode bekennt die „überaus hohe Berufung des Menschen und erklärt, dass gewissermaßen ein göttlicher Same in ihn eingesenkt ist.“ (GS 3,3) Mit diesem Wachstumsbild wird das Paradigma einer ressourcenorientierten Personalentwicklung umschrieben. Personalentwicklung wird zur „Gärtneraufgabe“: Dem von Gott geschenkten Potenzial gilt es zur Entfaltung zur verhelfen. Die Mahnung, alle menschlichen Talente im Dienst Gottes und zum Wohl der Menschen Frucht bringen zu lassen, um dem Grundgesetz der göttlichen Heilsordnung zu entsprechen, setzt voraus, dass innerhalb der kirchlichen Verfasstheiten Lern- und Arbeitsstrukturen geschaffen werden, in welchen die „Früchte“ dieser Charismen nicht nur individuell, sondern auch institutionell „geerntet“ und genutzt werden.

Nicht zuletzt beschreibt Gaudium et spes die Spannung, in welcher sich die Personalentwicklung im Bereich Seelsorgepersonal befindet. „Auch in unserer Zeit entgeht der Kirche nicht, wie sehr die von ihr vorgetragene Botschaft und die menschliche Schwäche derer, denen das Evangelium anvertraut ist, voneinander entfernt sind.“ (GS 43,6) Glaubwürdigkeit der Kirche wird auch daran bemessen, wie Personalführung intern wahrgenommen wird, wie Qualitätsverbesserungsprozesse im Personalbereich nicht nur individuell persönlich, sondern strategisch umgesetzt werden. Das Weiterleben und der Erfolg von Unternehmen wird immer mehr davon abhängen, wieweit sie ihre Werte auch innerhalb ihrer eigenen Organisation abbilden, konkretisieren, in die Praxis umsetzen.136

4.2 Veränderung um jeden Preis? Wider inhaltsleere Innovationsverherrlichung

„Von dem polnischen Philosophen Leszek Kolakowski stammt der Satz: ‚Gäbe es nur Tradition, säßen wir noch in Höhlen. Gäbe es nur Wandel, säßen wir schon wieder in Höhlen.‘ Diese Bemerkung entzaubert die beiden Begriffe ‚Tradition‘ und ‚Fortschritt‘ und zeigt ihre grundlegende Ambivalenz auf. Nur in einer je neu zu klärenden Zuordnung, einer jeweils zu bestimmenden Dosierung – gemäß dem Apothekerspruch: ‚dosis facit venenum‘ – ist von ihnen zu sprechen, nicht absolut und nicht transhistorisch.“137

Der Sog, der von Veränderungsdynamik ausgeht, kann so gewaltig werden, dass vergessen wird, die Sinnfrage zu stellen. Insbesondere in kirchlichen Einrichtungen stehen Unternehmenskultur, Ethos und Auftrag einer Einrichtung in raschen Veränderungsprozessen auf dem Spiel. Manche, durch Finanzprobleme ausgelöste Umstrukturierungsprozesse sind nicht mehr als ein Downsizing auf ein niedrigeres Betriebsniveau unter Anwendung des Rasenmäherprinzips. Dieses Vorgehen entspricht nicht dem Selbstverständnis der Kirche. Zudem besteht die Gefahr, dass unter Zeit- und Handlungsdruck keine echte Innovation geschieht, kein Kirchenumbau, sondern eine wenig nachhaltige „Altbausanierung“.138

Es wäre der Ausverkauf theologischer Ansprüche, wenn in „Krisenzeiten“ nur auf eingekaufte Handlungsstrategien und -modelle und aus der Wirtschaft abgeleitete Handlungsoptionen zurückgegriffen würde oder – im Gegenteil – diese kategorisch als für die Kirche irrelevant abgelehnt würden. Privatwirtschaftliche Managementtechniken müssen theologischen Kriterien unterzogen werden, bevor Wirtschaftsdirektoren und Strukturplaner faktisch zu den einflussreichsten Personen innerhalb der Diözesanleitung werden.139

Oberstes theologisches Kriterium für kirchliche Transformationsprozesse ist die Zielfrage: „Eröffnen sie der Erfahrung der Gnade Gottes in seiner Kirche, in seinem Volk neue Chancen? Eröffnen sie neue Räume, in denen Neuentdeckung der alten Botschaft in neuen kulturellen Gegenden möglich wird?“140 Im Dialog mit den Sozialwissenschaften, den Theorien des Managements, der Organisations- und Personalentwicklung muss die Theologie darauf bestehen, dass sie Glaubenswissenschaft, also bleibend auf die Offenbarung in Jesus Christus als ihren Maßstab bezogen ist. Kirche ist gewissermaßen eine gebundene Gemeinschaft, die sich der Beliebigkeit von Innovationsideen entzieht. Sie ist in ihrer Grundlage dem Wort Gottes verpflichtet und sakramental ausgerichtet. Kirche ist zum einen konkret empirisches Ereignis und damit Gegenstand z.B. von Soziologie und Organisationswissenschaft, zum anderen ist sie universal ausgerichtetes Zeichen und Werkzeug der göttlichen Communio und damit Reflexionsgegenstand der Theologie. Diese kriteriologische Folie erlaubt es, in anstehenden pastoralen Entwicklungsprozessen sowohl organisationstheoretische „Soziologismen“ als auch spirituell überhöhte „Theologismen“ zu entlarven und daraus resultierende operative Fehler in der Personalarbeit zu vermeiden. Theologie muss der vorgeordnete und entscheidende Schlüsselfaktor jeglichen pastoralen Veränderungskonzeptes bleiben.

Zu vermeiden ist, dass innerkirchlich eine inhaltsleere Reformfreudigkeit um sich greift, die zwar den Diskurs pflegt, bei der aber nicht die vorgegebenen Werte zählen, sondern allein das korrekte Zustandekommen einer Entscheidung. Auch in einer lernenden Organisation darf nicht der Ausnahmezustand als Dauerzustand definiert werden. Sinnfreie Betriebsamkeit, kontinuierlicher Erfolgs- und Veränderungsdruck (mehr Output, mehr Wachstum, mehr globale Verantwortung, mehr Vernetzung) führen zur Erschöpfung und Ermüdung der Mitarbeiter. Erfolg heißt dann, alles etwas schneller und besser als die anderen zu tun, egal was es bringt. „Die Prioritäten wechseln fast stündlich, ebenso die Strategievorschläge. Der permanente Sprint in die Zukunft führt zum Wirbel am Ort.“141

Die Personalentwicklungsdebatte ist von einer Eskalation von Begriffsmoden gekennzeichnet. Auf Schlagworte wie „Mitarbeiterorientierung“ und „Schlüsselqualifizierungen“ folgte die Konzeption der „Kompetenzentwicklung“ und neuen „Lernkulturen“. „Gleichzeitig verbreitet sich in der Praxis eine große Ernüchterung, konnten doch viele der mit einem erheblichen Aufwand entwickelten Ansätze in der Vergangenheit kaum wirklich umgesetzt werden. Die eskalierenden Unübersichtlichkeiten der Unternehmensentwicklungen führen ganz offensichtlich auf allen Seiten zu eher hektischen Versuchen, Rationalisierungsstrategien umzusetzen, wobei auch viele Errungenschaften einer potenzial- und kompetenzorientierten Personalentwicklung zur Disposition stehen.“142

Viele Veränderungsprojekte greifen nicht, weil sie sich als Spielwiese für die Beteiligten herausstellen oder als Möglichkeit der Selbstprofilierung. Manche Change-Strategie erschöpft sich in einer „me too“-Taktik: Damit die Prozesse am Laufen bleiben, tut man am besten, was alle anderen tun. Auch Widerstand kann in Veränderungsprozessen eine eigene Kompetenz sein. Üblicherweise wird das Beharrungsvermögen von Menschen in Organisationen diskreditiert. Dabei wird etwas Wichtiges übersehen: Nicht-Lernen ist auch eine Kompetenz. Mitarbeitende werden arbeitsunfähig, wenn sich die Organisation zu viel und ständig verändert, weil das Tagesgeschäft schon aus so viel Unvorhersehbarem besteht. Deshalb haben Menschen und Organisationen Taktiken entwickelt, um sich im Untergrund resistent zu machen gegen zu viele Schwankungen. Gerade das Seelsorgepersonal ist mit den Auswirkungen gesellschaftlichen Wandels im pastoralen Arbeitsalltag täglich konfrontiert. Man reagiert empfindlich, wenn die Struktur von Dekanatstreffen, der Modus von Fortbildungen und katechetische Konzepte jährlich neu auf den Prüfstand kommen, die Leitbilder von Seelsorge in groß angelegten diözesanen Gesprächsprozessen neu entworfen werden – ohne dass eine Umsetzung und Implementierung geplant und konzeptionell gesichert ist.

„Es wird geredet, gewirbelt, gesessen. Es werden Power-Point-Präsentationen im Querformat projiziert, die den Weg gehen, die Folienorgien so gehen. Die Projekte folgen einander wie die Novemberstürme, und neue Ideen werden lanciert, dabei müssten die Schäden des Vorprojekts erst beiseite geräumt werden. War das Erreichte wirklich auch das, was angepeilt wurde? Zu vieles lief schief, zu viele Verlierer werden gesehen, als dass man Change allgemein noch als reale Chance begreift. Noch eine Neu-Aufstellung? Noch eine neue Fassade, ein anderes Logo? Noch eine Desillusion mehr?“143 Überforderung, Demotivation durch eine Flut von Innovationsappellen führt zu Stagnation und Widerstand bei den Mitarbeitern, gerade wenn theologisch verantwortete Visionen fehlen. Regelmäßige Innovationsgipfel auf Bistumsebene, ständig neue Leitbilder, die nach zwei Jahren vergessen sind, erzeugen bei haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern Dauerstress und mit der Zeit Gleichgültigkeit.

Pastorales Personal begleitet und steuert notwendige Veränderungsprozesse auf Ebene der Pfarreien. In dieser Funktion eines „Change-Agenten“ gilt es auch, Gemeinden zu schützen gegen die Fülle der von außen aufoktroyierten Lernprozesse oder gegen blinde Neustrukturierungsmaßnahmen. Einer heilsamen Zumutung muss sich jede Gemeinde stellen, aber über lange Zeit hinweg bewusst erzeugte Verunsicherung mobilisiert Abwehr.

4.3 Managementtheorien und Theologie im Dialog – Zur Kompatibilität von Grundbegriffen strategischer Personalentwicklung und Theologie

Im Dialog der Praktischen Theologie mit Konzepten der Organisations- und Personalentwicklung geht es weder um eine unkritische Übernahme noch um Markierung einer ideologischen Feind-lichkeit und Abwehr. Praktische Theologie wahrt eine „sympathisierende Distanz“144 zur Praxis der Organisationsentwicklung und beobachtet kritisch die zugrunde liegenden Kriterien und Handlungsoptionen (Sparen, Reduzieren, Optimieren). Es geht weder um eine Seligsprechung von Wirtschaftskonzepten, noch um die Pflege einer „mystischen Unangreifbarkeit“ von Kirche. Kirche kann ihre Probleme nicht durch die Übernahme marktökonomischer Rezepte lösen. Aber Theologie und Ökonomie, Pastoral und Management dürfen nicht als Gegensätze gegeneinander ausgespielt werden. Wirtschaftsmanager haben Erfahrung in der Umgestaltung von Unternehmen angesichts veränderter Umweltbedingungen. Solange Kirchen auch eine sichtbare Gestalt haben wollen (mit Strukturen, Regeln, Personal, Führung, Geld), können sie von Managern lernen. Die ethischen und religiösen Fragen, die Frage nach der eigenen Rolle in einer pluralen Gesellschaft müssen die Kirchen selbst beantworten. Was eine Organisation tut, ist nicht das primäre Thema des Change Managements – viel eher wie sie es tut.145

Profane Konzepte auf ihr Welt- und Menschenbild hin zu prüfen und theologisch gegenzulesen bleibt Übersetzungsaufgabe der Pastoraltheologie. Manche „Fremdprophetie aus der freien Wirtschaft“ stammt ursprünglich aus dem Bereich der sozialen Arbeit. Man begegnet in der Managementliteratur Ideen und Konzepten, die in der sozialen Arbeit entwickelt worden waren und von dort als wertvolle Anregungen in die freie Wirtschaft übernommen wurden. Um Theorien über strategische Personalentwicklung aus der Wirtschaft für die Kirche fruchtbar zu machen, muss über Menschenbilder, Unternehmensphilosophien und Unternehmensziele gesprochen werden.

Personalentwicklung muss Auskunft geben über ihre inhaltlichen Entwicklungsziele. Die Kirche bietet wie jede andere Organisation auch Dienstleistungen an, aber diese müssen sich aus der Idee der Kirche ableiten und müssen manchmal quer zum Zeitgeist vertreten werden. Eine Institution, die einen moralischen Anspruch vertritt und Weltdeutung geben will, kann ohne Berührungsangst und Identitätsverlust gerade im Personalbereich von einem profanen Dienstleistungsunternehmen lernen, wie man die je eigenen Zielgruppen verstehen lernt, wie man an den Wertvorstellungen des jeweiligen soziokulturellen Milieus anknüpft, um eine Basis für die Kommunikation über Werte zu finden.

Wenn es um die Rezeption von heutigen Managementtheorien geht, so muss geklärt werden, welche Ziele mit dieser Rezeption verfolgt werden und welche nicht beabsichtigten Nebenwirkungen sich einstellen können. Managementtheorien sind entweder formalzielorientiert (z.B. Erhalt der Firma) oder sachzielorientiert (z.B. humanitäre Zwecke). Auch wenn die Kirche Sachziele anstrebt, ist die Dimension der Formalzielorientierung ebenso kirchliche Realität, die nicht verleugnet werden darf. Zu klären ist auf beiden Ebenen, welche Änderungen gewollt und bewusst anzusteuern sind.146 Kriterium ist, was dazu dient, die eigenen Kräfte zu aktivieren und in Treue zum eigenen Auftrag die daraus resultierenden Ziele zu verfolgen. Derart gestiegene Professionalität ist kein Selbstzweck, sondern dient der Pastoral.147

Der Kontakt mit Managementtheorien wird in der Kirche häufig aus Angst vor Identitätsverlust vermieden – „als sollten kirchlichen Organisationen fremde Ziele aufgenötigt werden oder als würden sich unter dem Druck des Marktes und bei knapper werdenden Mitteln langsam die Maßstäbe kirchlichen Handelns verschieben.“148 In der Auseinandersetzung mit säkularen Konzepten der Personalentwicklung besteht jedoch weniger die Gefahr des Überfrachtens mit fremden Zielen, als das schmerzhafte Erkennen, dass man sich über die eigenen Unternehmensziele unklar ist. Wenn diese konkretisiert sind, kann die Anwendung von Instrumenten der Personal- und Organisationsentwicklung dazu dienen, den Weg zur Erreichung dieser Ziele kreativ und proaktiv zu gestalten. In der Praxis unterscheiden sich jedoch bereits die Sprachsysteme der katholischen Kirche und vieler Beratungsfirmen so gravierend, dass sich Verständnislosigkeit und Berührungsangst zur Angst vor der Aufgabe des christlichen Grundauftrages ausweiten.

„Kundenmentalität“, „Prozessarchitektur“ und „Profitcenter“ erzeugen Angst und Widerstand. Mit kritischen, manchmal humorvollem Blick auf die unterschiedlichen systemerhaltenden und identitätsstiftenden Sprachsysteme sollte Neugier für den Mehrgewinn für Kirche im Vordergrund stehen, statt den „eschatologischen Vorbehalt“, die „sakramentale Struktur“ oder das „depositum fidei“ als sprachliches Bollwerk dagegen zu stellen. Sprachbarrieren müssen überwunden werden. „KVP“ als Kürzel für kontinuierliche Verbesserungsprozesse im Change Management korrespondiert mit dem christlichen Grundbegriff der Metanoia im Sinne von Bereitschaft zu Umkehr und lebenslangem Lernen. Das Implementieren von Ideen in die Abläufe einer Organisation meint im kirchlichen Kontext Inkarnation, die „Fleischwerdung“ von Wort und Vision. Übersetzungsarbeit ist zu leisten, um unnötige Widerstände und Ängste bei pastoralen Mitarbeitern zu vermeiden. Auch ein älterer Landpfarrer hat Erfahrung mit Kooperation und Teamlernprozessen, wenn er eine Sternwallfahrt oder Fronleichnamsprozession organisiert. Um „corporate identity“ geht es, wenn der Namenspatron der Kirche gefeiert oder ein aussagekräftiger Name für die Pfarreiengemeinschaft gesucht wird. Organisierte Nachbarschaftshilfe in der Pfarreiengemeinschaft ist gelebtes Projektmanagement.

Ziel muss es sein, an ekklesiologische Sprach- und Denkmodelle „anzudocken“, um den Nutzen von Personalentwicklung zu verdeutlichen und Barrieren abzubauen.149 Es kann nicht darum gehen, Verfahren aus der Organisations- und Personalentwicklung, ungeachtet ihrer Philosophie, ihres Menschen- und Weltbildes und ihrer Zielsetzung, unkritisch zu übernehmen. Hier bleibt die Aufgabe einer hermeneutischen Unterscheidung der Geister. Die meisten Prinzipien der Organisationsentwicklung weisen eine hohe Kompatibilität mit christlichen Kategorien auf. Es dient dem Verständnis von Personalentwicklung als Heilshandeln der Kirche, Grundprinzipien und Ziele der Organisations- und Personalentwicklung mit theologischen Grundbegriffen ins Gespräch zu bringen.

Christliche Kategorien können das Konzept einer Organisationsentwicklung vertiefen und radikalisieren. „Diese wird umso stärker zur prophetisch-kritischen Anfrage, je mehr sie von einer christlichen Basis her begründet wird. Dann fordert sie unabweisbarer heraus, ungeklärte Zuständigkeiten, unverbindliches Beschließen, Qualitätsvergessenheit und strukturelle Naivität in kirchlichen Systemen entschlossen anzugehen.“150 Nachhaltige Entwicklung ist nur dann möglich und wahrscheinlich, wenn es gelingt, an gewachsene Strukturen anzuknüpfen, eigene Modelle der Lernenden zu unterstützen und systemgemäße Lösungen zu erarbeiten. Selten erfolgreich sind Projekte, die in Unternehmen „traditionsabschneidend ansetzen, Bewährtes vollständig in Frage stellen und nach den Beiträgen und Bedürfnissen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht fragen ... In der Regel gilt, dass erfolgreiche Führungs- und Entwicklungstätigkeit nur ‚nachhallen kann, wenn das Vorhandene weiterentwickelt und genutzt wird.“151

„Die Personalentwicklung muss der Kirche von außen wieder in Erinnerung gerufen werden, obwohl Gott als der eigentliche ‚Projektleiter des Unternehmens Kirche in der Taufe jedem Menschen die Zusage gibt, dass in ihm kostbare Talente, ein ‚Schatz im Acker und eine kostbare Perle mitgegeben sind. Diese kommen jedoch erst zur Wirkung, wenn sie eingesetzt werden, wenn sie für ‚die anderen‘, den Nächsten, die Menschen in Dienst genommen werden. Personalentwicklung für den Leitungsdienst in der Kirche stellt deshalb nicht anderes als eine ‚Berufungspastoral‘ im Kontext der Evangelisierung und der Communio-Ekklesiologie dar.“152

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Umfang:
636 S. 28 Illustrationen
ISBN:
9783429060107
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