Kryptonit

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Kryptonit

1  Kapitel 1

2  Kapitel 2

3  Kapitel 3

4  Kapitel 4

5  Kapitel 5

6  Kapitel 6

7  Kapitel 7

8  Kapitel 8

9  Kapitel 9

10  Kapitel 10

11  Kapitel 11

12  Kapitel 12

13  Kapitel 13

14  Kapitel 14

15  Kapitel 15

16  Kapitel 16

17  Kapitel 17

18  Kapitel 18

19  Kapitel 19

20  Kapitel 20

21  Kapitel 21

22  Kapitel 22

23  Kapitel 23

24  Kapitel 24

25  Kapitel 25

26  Kapitel 26

27  Kapitel 27

28  Kapitel 28

29  Kapitel 29

30  Kapitel 30

31  Kapitel 31

32  Kapitel 32

33  Kapitel 33

34  Kapitel 34

35  Kapitel 35

36  Kapitel 36

37  Kapitel 37

38  Impressum

Kapitel 1

Als ich aufwachte schien die Sonne in den verschiedensten Tönen durch die Vorhänge unseres Zimmers. Ich schaute neben mich. Da war sie, meine Pia. Meine Liebe, mein Glück. Meine Freundin. Sie drehte sich in meinen Armen und schmatzte ein wenig. Zufrieden schloss ich noch einmal die Augen und schmiegte mich an sie. Ich glaube, das war die glücklichste Zeit, die wir zusammen hatten. Wir waren jung und einfach verliebt. Wir brauchten nur uns. Pia und Toby. Das war das Wichtigste auf der Welt für uns.

Ich musste wieder weg genickt sein, denn als ich wieder zu mir kam, war Pia über mich gebeugt und kitzelte mich mit ihren blonden Haaren im Gesicht. Ich schnaubte und drehte erschrocken meinen Kopf weg. Pia legte sich auf meine Brust und streichelte meine Hüfte.

„Morgen, Obielein.“ sagte sie sanft.

Ich küsste ihren Kopf und streichelte ihren nackten Rücken. Diese Morgen mit ihr waren einfach vollkommen. Es gab nur uns und unsere Berührungen. Wir redeten an manchen Tagen bis in den Mittag hinein. Und an manchen Tagen sprachen wir kein einziges Wort.

„Ich geh mal ins Bad.“ sagte sie mit einem Lächeln und küsste mich.

Dann stand sie auf und schwang sich aus dem Bett. Ich hielt ihre Hand fest und wollte sie nicht gehen lassen. Sie gab nach und fiel wieder aufs Bett. Wir lächelten uns verschmitzt an. Wir küssten uns noch einmal innig und ich hielt sie dicht an mich gepresst, bis sie sich schließlich aus meiner Umarmung wand und erneut zum Gehen ansetzte. Sie hatte schon beide Füße auf den Boden gesetzt.

„Geh nicht.“ bettelte ich mit herunter gezogenen Mundwinkeln. „Sieh nur all dieser Platz neben mir. Wie soll ich den nur füllen ohne dich?“

„Ach, Obie…“ sagte sie grinsend und gab mir noch einen Kuss, bevor sie sich entschlossen aus meiner Umklammerung löste.

Pia war die einzige Person, die mich Obie nannte. Es war ein ziemlich dummer Witz zwischen uns. In einer Liste wurde mein Anfangsbuchstabe vergessen und aus Toby wurde Oby. Es war wirklich nicht sehr lustig, aber so ein bisschen war das unsere Kennenlerngeschichte. Sie stand in der Uni vor der Liste und diskutierte mit einer Freundin darüber, wer seinen Sohn wohl Oby nennt.

„Vielleicht ein leidenschaftlicher Handwerker! Oder, oh! Vielleicht ist es sogar der Baumarktgründer selbst…“

Ich stand damals daneben und fragte mich, wer sich solche flachen Witze ausdenkt und sie auch noch laut ausspricht. Dann sah ich Pia. Ich stand mit verschränkten Armen neben ihr und nickte still lächelnd vor mich hin.

„Das heißt Toby. Die haben einen Buchstaben vergessen.“ sagte ich trocken.

„Oh. Stimmt, das könnte sein.“ gestand sie peinlich berührt.

„Ich bin übrigens Toby. Hi. Und meine Nummer steht ja auf der Liste… Direkt neben dem Wort Oby.“ zwinkerte ich ihr zu.

Pia sah mich beeindruckt an und machte vielsagend mit ihrem Handy ein Foto der Liste mit dem frechsten Grinsen, das ich kenne. Einen Tag später trafen wir uns auf ein Kölsch und zwei Tage später waren wir bereits ein Paar.

In unserer hellhörigen Wohnung hörte ich, wie Pia auf dem Weg ins Bad Sascha traf, der gerade nach oben kam. Sie unterhielten sich und lachten miteinander. In unserer WG war eigentlich immer reges Treiben. Wir waren sechs Leute in der Wohnung und man war nie alleine zu Hause. Obwohl immer jemand Uni oder Arbeit hatte, konnte man zu jeder Tageszeit jemanden im Wohnzimmer, der Küche oder auf dem Balkon antreffen. Ich liebte es, jederzeit ein spontanes Gespräch führen zu können oder auf die nächste Party eingeladen zu werden. Nicht selten fand diese direkt in unserem Wohnzimmer statt. Trotz meiner gelegentlichen ‚Verkopftheit‘ war ich meistens ziemlich spontan und lebte in den Tag, in den Abend, in die Woche hinein. Das Studentenleben war der Höhepunkt meines Lebens. Ich tat den ganzen Tag etwas, was ich liebte. Ich studierte ‚Film und Fernsehen‘ in Köln und arbeitete nebenbei für Filmprojekte an der Uni. Dort war ich vor allem für das Zeichnen von Storyboards zuständig, was ich noch mehr liebte als alle anderen Themen rund um den Film. Ich hatte wahnsinnig viel Freizeit und konnte mir meine Zeit frei einteilen. Die meisten meiner Vorlesungen waren erst nachmittags, so dass ich entweder lange schlafen oder vor der Uni arbeiten konnte. Oder bis mittags mit Pia im Bett liegen. Die Variante, für die ich mich meistens entschied. Kurzum: mein Leben war einfach perfekt. Ich hatte die beste Frau der Welt an meiner Seite und lebte in der schönsten Stadt Deutschlands. Ich studierte und arbeitete etwas, was mir Spaß machte und hatte die besten Freunde an meiner Seite. Ich dachte nicht, dass sich das jemals ändern würde. Aber in den folgenden Wochen wurde ich eines Besseren belehrt.

Ich hörte das Rauschen der Dusche und döste noch etwas vor mich hin, bevor ich mich auf das Fensterbrett setzte und meine erste Kippe ansteckte. Ich schaute hinaus auf die Straße und beobachtete die Leute, die vorbei gingen. Sie liefen geschäftig zum Supermarkt oder telefonierten beim Gehen. Einige waren auch mit Freunden oder ihrem Partner unterwegs und lachten oder unterhielten sich. Ich hatte es mir zum Hobby gemacht, Menschen zu beobachten. Ich betrachtete ihre Körperhaltung, ihre Mimik, ihre Art zu gehen. Ich malte mir Charaktere zu den Personen aus, die ich beobachtete. Manchmal machte ich mir sogar eine Skizze, wenn ich einen interessanten Gesichtsausdruck oder Gang bemerkte. Während ich am Fenster saß und in meine Studien vertieft war, kam Pia aus dem Bad. Sie hatte nasse Haare und nur ein Handtuch um ihren Körper geknotet. Sie stellte sich neben mich und lehnte sich an mich an.

„Na, Studien?“ fragte sie wissend.

Ich grinste sanft und löste die Stelle, an der ihr Handtuch festgesteckt war. Es fiel schwer zu Boden und Pia war nackt. Sie schaute sich erschrocken um, weil die Türe noch offen stand, aber ich zog sie trotzdem an mich und fing an, sie zu berühren. Sie drückte ihren Körper an mich und wir küssten uns innig, während wir rüber zum Bett wanderten. Auf dem Weg dahin schloss ich mit dem Fuß die Tür und wir fielen auf unser Bett. Wir gaben uns dem Anderen hin und bemerkten nicht, dass wir wohl etwas zu eindeutige Laute von uns gaben.

„Nehmt euch ein Zimmer!“ tönte eine Stimme ironisch, die an unserer Tür vorbei kam.

 

„Erledigt.“ rief Pia zurück und ich konnte ein leises Lachen hören.

Es klang nach Raffi, der eigentlich sowas wie „Ihr seid so süß. Macht ruhig weiter. Jeder hier kann jeden Ton von euch hören.“ als diskreten Hinweis geben wollte. Wir fuhren also die Lautstärke etwas zurück und beschlossen dann aufzustehen.

Raffi war ein besonderer Mensch für mich. Er kannte Pia schon vor mir und hat uns so etwas wie den letzten Stups gegeben, damit wir zusammen gekommen sind. Er war unser engster gemeinsamer Freund und derjenige mit dem ich alles über Pia teilte. Und vermutlich teilte sie auch alles über mich mit ihm. Er kannte uns und unsere Beziehung jedenfalls wie kein anderer und war so etwas wie unser größter Supporter. Wir liebten ihn beide. Er war der beste Mensch der Welt.

Ich erledigte meine Morgentoilette und fand Pia mit einigen unserer Mitbewohner in der Küche, wie sie das Frühstück vorbereiteten. Ich küsste sie nochmal und wünschte allen einen guten Morgen, als ich dazu kam. Raffi, Pia und ich wollten nach dem Frühstück in die Stadt gehen und ein paar letzte Besorgungen für unseren ersten WG-Urlaub machen. Morgen früh sollte es los gehen und wir waren mehr als gespannt, was auf uns zukommen würde. Nach dem Frühstück machten wir uns auf den Weg zur Bahn um in die Stadt zu fahren. Wir freuten uns alle schon sehr auf den Urlaub, weil es für uns alle eine neue Erfahrung war. Die erste Herausforderung war mit einer so verhältnismäßig großen Gruppe weg zu fahren. Würden wir überhaupt als Einheit den Urlaub verbringen oder würde es Grüppchen geben, wie sonst auch wenn wir zusammen unterwegs waren? Der zweite Punkt war die Art des Urlaubs. Wir hatten eine Gruppenreise nach Südfrankreich ins ‚Abenteuercamp‘ gebucht. Was das bedeutete, sollten wir erst richtig heraus finden, als wir da waren. Außer Alex und Sascha war keiner von uns besonders sportlich veranlagt oder in sonst einer Form ‚abenteuerlustig‘, was uns natürlich im so genannten Abenteuercamp etwas in die Quere kommen könnte. Wir hatten uns jedenfalls darauf eingelassen und freuten uns trotzdem total auf die zwei Wochen in der Sonne. Ich dachte an gemeinsame Nächte mit Pia unterm Sternenhimmel oder im Zelt. Wie wir zusammen eine Wanderung meisterten oder einfach im See badeten. Ich war der festen Überzeugung, dass uns dieser Urlaub noch mehr verbinden würde.

„Okay, Leute. Erster Stopp: dm. Waschzeug, Sonnencreme, Reisegrößen. Los gehts.“ delegierte Raffi uns.

Er war unser Organizer und wusste genau, wie man etwas strukturiert und klar angeht. Manchmal war er etwas gruselig dabei, aber er hatte es drauf.

„Alex meinte, sie braucht noch Zahnpasta und Mascara.“

„Was ist Masakara? Kann man damit jemanden masakrieren?“ fragte ich unwissend.

Pia verdrehte nur die Augen und ging zielstrebig Richtung Schminke.

Ich befasste mich derweil mit den Vorzügen der verschiedenen Sonnencremes und wägte ab, ob ein höherer UV-Faktor verhindern würde, dass man braun wird. Ich las angestrengt die Packungsrückseiten, als Pia mir die Flasche direkt aus der Hand nach unten in den Einkaufskorb schlug. Ich schaute verdutzt ins Leere und dann fragend zu Pia.

„Ist doch egal. Nimm einfach eine mit… Campinggeschirr!!!“ rief sie entzückt.

„Pia, wir brauchen kein Campinggeschirr. Wir nehmen Normales mit.“

„Weißt du wie schwer das ist? Zudem weiß dann keiner, welches ihm gehört. Bei diesem Geschirr allerdings hätten wir den Vorzug, dass du mein Lieber zum Beispiel blau nehmen kannst und ich rot.“

Sie kam ganz nah an mich heran und flüsterte mir ins Ohr, während sie mit dem Finger auf mein Brustbein tippte:

„Das blaue Geschirr gehört dann NUR DIR.“

Dann erklärte sie wieder laut:

„Und Raffi kann gelb nehmen. RAFFI?“ brüllte sie durch den Laden.

„Du magst doch gelb, oder?“

Raffi kam um die Ecke gestürmt und schaute uns fragend an. Er sah Pia, die mit einem gelben Teller in der Hand erwartungsvoll im Gang stand. Hinter ihr stand ich und gab ihm hastig zu verstehen, dass er einfach ja sagen sollte.

„Gelb ist voll okay. Wieso?“ fragte er verwirrt.

„Campinggeschirr!“ rief Pia erfreut.

„Sag einfach ja, Kumpel. Es hat eh keinen Sinn zu diskutieren.“ murmelte ich mit aufeinander gepressten Zähnen.

So wanderte Campinggeschirr, bestehend aus Tellern, Bechern und Schüsseln in den folgenden sechs Farben in unseren Einkaufskorb: blau, rot, gelb, orange, grün, pink. Ich war sicher, dass Pia schon genau wusste, welche Farbe zu welchem Mitbewohner gehörte. Wir gingen wieder unseren Besorgungen nach und ich war gerade völlig vertieft in eine weitere Verpackungsrückseite, als ich um die Ecke bog und gegen einen riesigen Teddy rannte, der sagte „Buh!“

Vor Schreck ließ ich den Einkaufswagen fallen. Ich schwöre, allen Menschen im Laden blieb für eine Sekunde das Herz stehen. Wer schon mal einen Einkaufswagen aus Metall mit sechs Sets Campinggeschirr und drei Sonnencremes auf einen Fliesenboden hat fallen hören, weiß sicher warum. Pia schaute vorsichtig hinter dem Teddy hervor und grinste mich mit einem knappen „Ups“ an. Ich schüttelte nur den Kopf über diese Frau, musste aber gleichzeitig lächeln. Das war typisch Pia. Erst machen, dann denken.

„Pia, du hast `nen Knall.“ raunte ich ihr zu und nahm sie an der Hand weiter durch den Laden.

Raffi hatte die Situation aus etwas Entfernung beobachtet und versuchte jetzt so zu tun, als ob er uns nicht kannte. Im Vorbeigehen flüsterte er.

„Ich hasse Einkaufen mit dir, Pia!“

Pia kicherte und gab Raffi einen Knuff an den Arm.

„Ich hatte Spaß!“ flüsterte ich ihr ins Ohr und wir gingen zur Kasse.

Raffi folge uns peinlich berührt und tat weiterhin so, als ob er nicht zu uns gehörte.

Pia tat eigentlich dauernd solche Dinge. Sie lebte einfach nach ihrem Gefühl und wenn sie eine verrückte Idee hatte, machte sie es einfach. Oft ging es schief. Aber lustig war es allemal. Wenn man mit ihr unterwegs war, musste man immer auf Überraschungen gefasst sein. Ich liebte diese Eigenschaft an ihr von Anfang an, obwohl oder vielleicht gerade WEIL ich eher ein vorsichtiger Mensch war. Ich fühlte mich mit ihr so lebendig und frei, wie ich es vorher nicht kannte. Sie weckte ständig meine Abenteuerlust und lies mich Dinge tun, die ich mich normalerweise nie getraut hätte. Mit ihr zusammen zu sein fühlte sich einfach unglaublich an.

Nachdem wir allerhand unnützes Zeug gekauft hatten und nun mit einer Hängematte unter dem Arm durch die Innenstadt wanderten, setzten wir uns in ein Café auf der Einkaufsstraße. Ich konnte also wieder meinem geliebten „People watching“ frönen und dabei auch noch die Gesellschaft der beiden mir wichtigsten Menschen genießen.

„Ich kann den Urlaub kaum abwarten. Ich brauche die Entspannung so dringend, das glaubt ihr nicht!“

Raffi ließ sich erschöpft in seinen Stuhl fallen und seufzte.

„Oooohh, tanzen die Kids dir auf der Nase rum?“ fragte Pia sarkastisch.

„Das sowieso. Aber das bin ich ja gewöhnt.“ antwortete Raffi mit einem Lächeln. „Ich muss einfach mal raus aus der Stadt und was anderes sehen. Darauf freue ich mich am Meisten.“

Raffi studierte Sozialpädagogik und arbeitete in einem Jugendzentrum mit sozial Benachteiligten oder verhaltensauffälligen Kindern als Betreuer. Er liebte das, weil er den Kids helfen konnte. Aber es war natürlich ein sehr kräftezehrender Job und nicht selten nahm er die Erlebnisse mit den Kindern mit nach Hause und erzählte uns davon. Ich konnte mir keinen Besseren für diesen Job vorstellen. Raffi war diplomatisch, engagiert und versuchte immer alle Seiten zu betrachten. Er zeigte Verständnis und konnte sich so gut in die Lage der jungen Leute hinein versetzen. Ich bewunderte ihn für seine Geduld und Hingabe. Die Kellnerin kam und nahm unsere Bestellung auf.

„Hey, was machst du denn hier? Ich dachte du bist schon im Urlaub!“ kam sie freudig strahlend auf Raffi zu.

„Morgen geht es los.“ lächelte er zurück. „Wir haben noch ein paar letzte Besorgungen gemacht. Und mit dieser jungen Dame im Schlepptau wird man sogar noch unerwartet stolzer Besitzer einer Hängematte.“

Raffi zeigte mit dem Kopf Richtung Pia und lachte. Pia zog ein breites Grinsen, winkte vorsichtig und verteidigte sich:

„Ihr werdet mir noch danken!“

Die hübsche Kellnerin lachte und schaute uns nun fragend an

„Was darf ich euch bringen?“

„Einen Milchkaffee.“ bestellte Pia.

„Für mich eine Cola.“

fuhr ich fort.

„Eine Cola… ja… Raffi, Ginger Ale?“ fragte sie mit dem Bleistift auf ihrem Block und schaute ihn neugierig an. Er nickte überrascht und lächelte sie an, während sie sich flotten Schrittes auf den Weg in die Küche machte, nicht ohne Raffi nochmal über die Schulter anzufunkeln. Ich war wirklich schwer beeindruckt. Er hatte absolut nichts gemacht oder gesagt und diese Frau lag ihm zu Füßen. Ich nickte anerkennend vor mich hin und klatschte leise in Raffis Richtung.

„Warum bist du eigentlich Single?“ fragte ich ihn überrascht.

„Wenn ich das wüsste. An irgendeiner Stelle geht es immer schief.“

„An dir kann es nicht liegen, Raffilein.“ baute Pia ihn auf.

Wir saßen noch eine Weile in der Sonne und planten den morgigen Abreisetag, überlegten, ob wir alles zusammen hatten, genug Zelte und Reisetaschen besaßen. All das mussten wir vorsichtig formulieren, damit Pia nicht wieder mit einer fixen Shoppingidee um die Ecke kam.

„Wann müssen wir eigentlich los?“ fragte Pia, nachdem sie den Rauch ihrer Zigarette ausgepustet hatte.

„Wann ist der Bus denn da?“

„Acht Uhr stand auf dem Zettel.“ wusste Raffi, unser Organisationstalent.

Pia und ich sahen uns schockiert an. Das hieß wohl früh aufstehen. Puh. Ich konzentrierte mich wieder auf meine Kippe und beobachtete die Menschen, die um uns herum saßen. Zwei Freundinnen saßen zusammen am Tisch und zeigten sich gegenseitig Fotos. Sie suchten das Schönste aus und gaben sich Komplimente. An einem anderen Tisch saßen zwei befreundete Paare, die Cocktails tranken und offenbar viel Spaß hatten. Sie lachten ausgelassen und wirkten sehr vertraut miteinander.

„Hey, hörst du zu?“ wurde ich aus meinen Gedanken gerissen

„Hm? Habt ihr mit mir geredet?“

„Wir haben für alle Anwesenden geredet. Auch für dich, du Träumer.“

„Sorry, hab nicht zugehört.“ gestand ich.

„Also dann bis später, ihr Zwei.“ Pia stand auf und nahm ihre Tasche.

„Wo gehst du hin?“

„Ich hab doch gesagt, dass ich gleich noch zur Vorlesung muss.“

„Echt? Okay, dann bis später.“

Wir küssten uns und Pia verschwand.

„Also können wir los?“ fragte Raffi und stand ebenfalls auf.

„Wohin?“ fragte ich verwirrt.

„Toby, Toby, heute ist nicht dein Tag, was?! Wir gehen noch Reiseproviant kaufen. Du solltest mal zuhören.“

Raffi ging zur Theke und bezahlte unsere Getränke bei der hübschen Kellnerin. Die setzte noch zum letzten Versuch an, einen bleibenden Eindruck bei Raffi zu hinterlassen.

„Dann viel Spaß im Urlaub, mein Lieber! Und wenn du wieder da bist, kannst du dich ja mal melden. Ich habe immer frisch gekühlte Ginger Ale zu Hause.“

Wow Raffi, einfach Wow!

Kapitel 2

Abends saßen wir noch alle zusammen und planten unsere Reise. Sarah war immer noch nicht angetan von der Idee campen zu fahren, aber auf irgendwas mussten wir uns ja einigen. Sarah war eher der All-Inclusive-Türkei-den-ganzen-Tag-am-Pool-liegen-Typ, was uns allen einfach nicht zusagte. So war Sarah schon immer gewesen. Wir kannten uns noch aus Schulzeiten und sie hatte mir auch den Tipp gegeben, dass bei ihr ein WG-Zimmer frei war. Wir waren sehr unterschiedlich und nicht gerade auf der gleichen Wellenlänge, aber als Mitbewohner kamen wir gut klar. Bei Pia und Sarah sah das allerdings anders aus. Sie gerieten ständig aneinander und führten einen Kleinkrieg nach dem Anderen. Was es genau war zwischen den beiden wusste keiner von uns. Sie provozierten sich einfach ständig und stritten dann oft lautstark. Wir Mitbewohner hatten oft versucht, etwas dagegen zu unternehmen und sind kläglich gescheitert. Wir hatten Unternehmungen geplant, bei denen wir hofften, dass sich die beiden besser kennen lernen und endlich warm miteinander wurden. Aber sie mieden sich oder zickten sich bei jeder Gelegenheit an. Wir waren im Escape Room und haben uns erhofft, dass Teambuilding die beiden zusammen bringen könnte. Aber am Ende gab es Streit darüber, wer den Hinweis übersehen hat. Auch in diesen Urlaub setzten wir wieder große Hoffnungen, dass die beiden sich annähern. Vielleicht würde ja irgendwann ein Wunder geschehen.

 

Unsere dritte Frau im Bunde war Alex. Sie war das genaue Gegenteil von Sarah und beschäftigte sich bei der Urlaubsplanung eingängig mit der Preisliste für die Extremsportarten. Sie hatte sich fest vorgenommen, ihren Adrenalinspiegel auf ein neues Level zu heben. Ich für meinen Teil wollte lieber weiterleben und würde mich mit etwas Kanufahren und Wandern begnügen. Alexandra war schwarzhaarig, sehr sportlich und hatte einen top Körper. Sie gehörte zu den Frauen, die nach einem Tag an der Sonne knackig braun waren und obwohl sie absolut natürlich war, immer gefragt wurde, ob sie etwas hatte machen lassen. „Nein, alles selbst gemacht.“ war stets ihre Antwort. Alex war eine der coolsten Frauen, die ich kannte und wir kamen super klar. Sie war immer dabei, wenn es was zu feiern gab und ich mochte ihre lebensfrohe und selbstbewusste Art.

Am nächsten Morgen stieg mein Stresspegel schon vor dem Aufstehen in unerwartete Höhen. Es war sechs Uhr und Raffi brüllte die ganze Zeit durch den Flur. Pia war schon aufgestanden und rannte von einem Raum zum anderen. Ich wollte einfach nur noch zehn Minuten schlafen. Aber ständig kam jemand ins Zimmer und kommentierte „Der alte Sack schläft ja noch.“ „Toby, Aufstehen! Wir fahren ohne dich.“

Endlich kam Pia an mein Bett und versuchte auf sanfte Weise mich da raus zu kriegen. Sie streichelte meinen Arm und bat mich aufzustehen, damit wir alles fertig packen konnten. Einen Kaffee hatte sie auch noch im Gepäck, also ließ ich mich überreden. Ich stellte mich mit Kaffee und Kippe in Boxershorts auf den Balkon und fühlte mich bereit, den Tag zu beginnen. Ich zog mir etwas über und nahm am spärlich besetzten Frühstückstisch Platz. Sarah, Pia und ich saßen zusammen und aßen schweigend unsere Brötchen. Diese gefährliche Mischung ging auch leider nicht lange gut.

„Ich würde gerne direkt nach dem Frühstück los fahren, damit wir noch ein bisschen Puffer haben, falls wir in den Berufsverkehr kommen.“ sagte Sarah nüchtern.

„Äh, dann musst du alleine fahren. Wir sind noch nicht fertig mit Packen.“ holte Pia zum Gegenschlag aus.

Ich hatte schon jetzt den Wunsch mir einfach die Ohren zu zu halten und laut mit Singen anzufangen, aber es war bereits zu spät.

„Du rennst doch schon seit einer Stunde durch die Wohnung. Was musst du denn noch packen?“

„Obie ist grad erst aufgestanden. Wenn er im Bad war können wir erst unser Waschzeug zusammen packen. Ist doch logisch.“

„Immer schiebst du Toby vor, wenn du deine eigenen Defizite nicht eingestehen willst.“

Pia platzte gleich der Kragen. Ihre Mundwinkel kräuselten sich und ich konnte sehen, dass sie kurz davor war, auszurasten. Pia konnte sehr temperamentvoll werden, wenn sie sich angegriffen fühlte. Sarah wusste das und provozierte sie gerne. Pia stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch und stand mit einem Satz von ihrem Stuhl auf. Sie hatte bereits ihren Mund geöffnet und wollte loslegen. Ich legte eine Hand auf ihren Arm und redete ihr gut zu.

„Pia, lass gut sein. Ich beeil mich einfach mit Packen.“ versuchte ich sie zu beruhigen. Sie atmete tief durch und verließ den Frühstückstisch. Sarah grinste selbstzufrieden vor sich hin. Ich sah sie kopfschüttelnd an. Warum musste sie es immer darauf anlegen, einen Streit anzufangen? Ihr Grinsen verflog und sie schaute etwas schuldbewusst in meine Augen.

Auch ich stand auf und kramte meine letzten Sachen zusammen. Nachdem auch wir fertig waren, setzte sich Pia wieder zurück an den Tisch und aß ihr angefangenes Brötchen zu Ende. Raffi schlenderte summend in die Küche und hielt einen Zettel in der Hand. Er ging langsam, aber leichten Schrittes zum Frühstückstisch und hielt direkt hinter Pia und Sarah. Er legte, immer noch summend, den Zettel genau zwischen die beiden, daneben einen Stift, ging bedeutungsschwer zwei Schritte rückwärts und wartete ab.

„Hm? Vertrag? Was ist das, Raffi?“

Pia nahm den Zettel in die Hand und las laut vor.

„Versichere ich, dass ich keinerlei Streitigkeiten mit meiner Mitbewohnerin anfangen werde. Ich werde aktiv dazu beitragen, dass unsere Wohngemeinschaft einen entspannten und reibungsfreien… Reibungsfrei, Raffi? Im Ernst?“

Er zuckte nur mit den Schultern und gab Pia zu verstehen, dass sie fortfahren sollte.

„Reibungsfreien Urlaub genießen können. Provokationen werde ich unterlassen oder gegebenenfalls ignorieren. Blablabla. Du hast sie ja nicht alle. Das unterschreib ich nicht.“

Pia warf den Zettel wieder auf den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich hielt mir den Mund zu, weil ich kichern musste. Sarahs Miene hatte sich völlig verdunkelt. Sie sah Raffi genervt an. Dann nahm sie den Zettel, las ihn durch ohne ein einziges mal aufzuschauen oder einen Ton zu sagen. Schließlich schlug sie die Beine übereinander, nahm den Stift und unterschrieb. Sie schaute Pia vielsagend an, stand auf und ging.

Die meisten von uns beobachteten die Szene mit offenem Mund oder sahen Sarah beeindruckt an. Als sie aus dem Raum war, fielen unsere Blicke auf Pia. Sie hatte das ganze aus dem Augenwinkel betrachtet und mimte immer noch die beleidigte Leberwurst.

„Pia?“ sprach Raffi sie direkt an. Sie druckste. „Würdest du bitte auch unterschreiben?“

Pia reagierte kaum.

„Komm schon, Süße. Stell dich nicht so an und unterschreib. Es ist ein Friedensangebot von Sarah, dass sie unterschrieben hat. Nimm es an!“ versuchte ich nochmal auf sie einzureden.

Pia schnaufte und verdrehte die Augen.

„Es ist nur ein Waffenstillstand!“ lenkte sie ein und unterschrieb ebenfalls.

Ein sanfter Applaus ging durch die Küche und ich lächelte Pia aufmunternd an. Ich wusste, dass es sie abfuckte, sich darauf einlassen zu müssen. Aber die Vorstellung einen ruhigen Urlaub ohne Diskussionen zwischen Pia und Sarah zu verbringen, war wirklich zu reizvoll. Ich legte einen Arm um Pia, als sie aufstand und streichelte ihre Schulter. Raffi grinste sie selbstzufrieden an.

„Geniale Idee, Alter!“ flüsterte ich ihm zu.

„Wozu bin ich Sozialpädagoge, wenn ich die Kinder in meinem eigenen Haus nicht geregelt kriege.“ antwortete er schmunzelnd. Pia schaute immer noch leicht bedröppelt, sagte aber nichts mehr dazu.

„Können wir jetzt endlich los?“ fragte Sarah genervt, die angezogen und mit Reisetaschen in der Hand im Flur stand.

Raffi sah hektisch auf die Uhr.

„Fuck! Schon sieben Uhr! Okay, alle anziehen und Taschen in die Autos laden! Naviziel steht auf dem Zettel. Wir sehen uns am Parkplatz!“

Feldwebel Raffi war wieder voll in seinem Element und koordinierte und befehligte seine WG-Armee. Wir luden unser Gepäck in Pias gelben Beetle. Sascha fuhr mit mir und Pia und nahm auf der Rückbank Platz. Pia steckte ihr Handy an und drehte die Musik voll auf. Es lief „She Will Be Loved“ von Maroon 5. Ich war zu müde, um mich zu wehren. Sascha gab nur ein resigniertes Stöhnen von sich und steckte sich Kopfhörer in die Ohren. Pia sang bereits laut mit, bevor wir losgefahren waren. Nachdem Raffis Golf 4 endlich angesprungen war, fuhren wir los. Ich versuchte noch einige Minuten die Augen zu schließen, aber bereits an der ersten Kreuzung merkte ich, dass schlafen chancenlos war, wenn man in einem Auto sitzt, dass von einer völlig Verrückten gelenkt wird. Pia hatte wirklich einen äußerst turbulenten Fahrstil. Vollgas an jeder Ampel, in letzter Sekunde noch die Ausfahrt nehmen und von den Überholmanövern will und kann ich gar nicht gar nicht erst sprechen. Mit weit aufgerissenen Augen hielt ich mich am „Angstgriff“ fest und lauschte Pias Gesang. Es war herausfordernd, aber auch aufregend. So wie vieles mit Pia. Ich genoss vielleicht nicht die Fahrt, aber wenn wir angekommen waren, fühlte ich mich lebendiger als vorher. Für dieses Gefühl liebte ich sie letztlich. Sascha hatte die ganze Fahrt gleichgültig Musik gehört und war gänzlich unbeeindruckt von diesem Nahtod-Erlebnis. Wir parkten die Autos auf dem Park & Ride Parkplatz, auf dem uns auch der Bus abholen sollte. Pia und ich setzten uns auf unsere Reisetaschen und kuschelten uns aneinander. Ich hielt sie fest in meinem Arm und freute mich so sehr auf die kommende Zeit. Wir steckten uns jeder eine Zigarette an und verschwanden im Nebel. Es war noch frisch am Morgen und ich genoss die Wärme unserer Umarmung.

„Ich hab dich lieb.“ flüsterte sie mir zu.

„Ich dich auch.“ antwortete ich und ärgerte mich auch ein bisschen darüber, dass es wieder kein „Ich liebe dich“ gewesen war. Ich wartete darauf schon seit Monaten und fragte mich langsam, ob sie sich nur nicht traute es zu sagen oder es vielleicht auch nicht fühlte. Ich war definitiv an dem Punkt, an dem ich wusste, dass ich sie liebte. Ich wäre sogar soweit gegangen, zu sagen, dass ich mein Leben mit ihr verbringen will. Seit ich Pia kannte, hatte ich nicht mehr an irgend eine andere Frau gedacht und ich hatte das Gefühl, sie mittlerweile gut genug zu kennen, um einschätzen zu können, dass sie DIE Frau für mich war. Ich liebte alles an ihr. Sie war so besonders für mich. Aber so wie es aussah, war sie sich mit mir noch nicht so sicher. Es verletzte mich zwar, aber ich wollte ihr auch die Zeit geben, selbst an den Punkt zu kommen, an dem ich war. Wo ist bis dahin schon der Unterschied zwischen lieb haben und lieben?

Es dauerte noch eine ganze Stunde bis der Bus endlich kam. Nach und nach fanden sich immer mehr Mitreisende auf dem Parkplatz ein und es war spannend zu sehen, wer uns begleiten würde. Es waren viele Paare, aber auch Gruppen von Freundinnen oder gemischten Freundeskreisen. Nur zwei Jungs waren alleine unterwegs. Mit sechs Personen waren wir auf jeden Fall die größte Gruppe. Die WG unterhielt sich noch angeregt und mittlerweile hatten alle auf ihren Reisetaschen Platz genommen und wir saßen einträchtig im Kreis auf dem Boden. Wir waren voller Vorfreude und Neugier was uns erwarten würde.