1914-1915. Der ferne Krieg so nah. Die Wilhelmsburger Kinderzeichnungen zum Ersten Weltkrieg

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1914-1915. Der ferne Krieg so nah. Die Wilhelmsburger Kinderzeichnungen zum Ersten Weltkrieg
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Jürgen Drygas, Jutta Ströter-Bender (Hg.)

1914 - 1915

Der ferne Krieg so nah.

Die Wilhelmsburger Kinderzeichnungen zum

Ersten Weltkrieg

Mit Beiträgen von Kunibert Bering und Carolyn Kay

IRAND SERIES VOLUME I


https://international-archives.net/

International Research and Archives Network for Historical Children’s and Youth Drawings

IMPRESSUM

Texte: © Copyright by den Autor*innen

Jürgen Drygas, Kunibert Bering, Carolyn Kay, Jutta Ströter-Bender

Umschlaggestaltung: © Copyright by Jutta Ströter-Bender

Abbildung 1914/1915. Luftkrieg (Detail), Kl. 4a © MEW

2022

Verlegt von IRAND. International Research and Archives Network for Historical Children’s and Youth Drawings

Scheidenberg 20

55590 Meisenheim

Child.Art.Research@email.de

Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Jürgen Drygas

Der ferne Krieg. Die Kinderzeichnungen im Museum Elbinsel Wilhelmsburg (MEW)

Kunibert Bering

„Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser!“

Wilhelmsburger Zeichnungen zum Seekrieg 1914-1918

Carolyn Kay

"The Heroic Soldier in German School Drawings of 1915."

Jutta Ströter-Bender

Luftkämpfe. „Nächtlicher Himmel, fallende Sterne.“

Jutta Ströter-Bender

Erinnerungskultur I: Ausstellungen mit historischen Kinderzeichnungen zum Ersten Weltkrieg

Erinnerungskultur II: Neue Kinder- und Jugendzeichnungen zum Ersten Weltkrieg (2014 - 2015). Das Letter ART Projekt Remember 1914-1918. Kunst, Krieg und Frieden

Autor*innen

VORWORT

Im Jahr 2012 wurde bei Aufräumarbeiten auf dem Dachboden des Heimatmuseums Elbinsel Wilhelmsburg eine Mappe von Schüler*innen Zeichnungen aus den Jahren 1914/1915 entdeckt, deren Inhalte sogleich auch ein internationales Interesse und erste Forschungen hervorriefen. Die über 300 Werke mit Themenstellungen zum Ersten Weltkrieges waren im Zeichenunterricht der lokalen Volksschule entstanden. Sie gliedern sich in vier Klassensätze aus drei Altersstufen (10 bis 14 Jahre). Als Motivreihen umfassen die mit einfachen Materialien gestalteten Zeichnungen die Themen Landkrieg, Luftkrieg, Seekrieg und Lazarett.

Die Beiträge begeben sich auf eine Spurensuche zu diesen historischen Kinderzeichnungen und zu den weitgehend unbekannten Kindern, die sie schufen. Es ist das Vermächtnis und das kulturelle Erbe einer Generation, die folgend im Laufe ihres Lebens als Erwachsene noch einen weiteren Weltkrieg erleben musste. Es werden ergänzend bisher unveröffentlichte Arbeiten aus der Wilhelmsburger Sammlung vorgestellt.

Jürgen Drygas

Der ferne Krieg. Die Kinderzeichnungen im Museum Elbinsel Wilhelmsburg (MEW)

Die Zeichnungen der Schulkinder der Schule III aus Wilhelmsburg über das Kriegsgeschehen an der Front zu Beginn des 1. Weltkriegs kommen uns heute wie Momentaufnahmen vor.


Abb. 1: Landkrieg. Grete Klein, Klasse 2a (12 bis 13 Jahre) © MEW


Abb. 2: Seekrieg. W. Eggers, Klasse 2a (12 bis 13 Jahre) © MEW

Beim ersten Sichten dieser im Unterricht entstandenen Zeichnungen sticht die Faszination der damals aktuellen Kriegstechnik und die Darstellung einer deutschen Überheblichkeit hervor.


Abb. 3: Luftkrieg. Helene Otto, Klasse 4a (10 bis 11 Jahre) © MEW


Abb. 4: Lazarett. Frieda Steinke, Klasse 4a (10 bis 11 Jahre) © MEW

Wir wissen heute nicht, welche Informationen diese Wilhelmsburger Kinder hatten, was sie aus eigenem Erleben wussten, was ihnen von ihren Eltern, den Geschwistern, den Freunden, in der Schule von den Lehrern, in den Vereinen erzählt wurde. Aber man kann davon ausgehen, dass sie der intensiven Kriegspropaganda des Kaiserreiches ausgesetzt waren, denn auch die Schulkinder wurden als Mittler der Kriegspropaganda betrachtet (Winterberg 2014: 103f; Drolshagen 2021: 35f; Zunino 2019: 181).

Die folgende Zeichnung (Abb. 5) erinnert durch die Reiter mit Fahne und Degen eher an Darstellungen historischer Schlachten. Von links kommen sieben Franzosen zu Fuß mit Gewehren, ein Franzose ist zumindest verwundet, rechts kommen fünf Deutsche auf Pferden mit Fahne und Degen. Meistens werden die Franzosen auf der linken Blattseite gezeichnet (im Westen, wie auf der Landkarte).


Abb. 5: Landkrieg, Landgefecht. H. Kohrs, Klasse 2a (12/13 Jahre alt) © MEW

Die damals im Zeichenunterricht angefertigten Zeichnungen lagen jahrzehntelang unbeachtet auf dem Boden des Schulhauses, bis sie nach der großen Sturmflut 1962 dem Museum Elbinsel Wilhelmsburg (MEW), dem örtlichen Heimatmuseum übergeben wurden.

Auch dort war die Beachtung zunächst gering und so dauerte es insgesamt fast ein Jahrhundert bis diese Sammlung 2013 im Depot wiederentdeckt wurde und im Museum Elbinsel Wilhelmsburg nun auf Verständnis und Wertschätzung stieß.


Abb. 6: Museum Elbinsel Wilhelmsburg in ehemaligen hannoverschen Amtshaus © MEW

In einer großen Mappe fanden sich 300 Zeichnungen zum Thema 1. Weltkrieg, die in Gruppen nach Themen und Klassenstufen sortiert und mit inzwischen rostigen Büroklammern nach Klassenstufen zusammengefasst waren. Also sind sie schon irgendwann einmal bearbeitet worden:


Abb. 7: Klasse IIa, 2a Landgefecht (Landkrieg)


Abb. 8: Klasse IIc/a, Flugzeugkampf (Luftkrieg)


Abb. 9: Klasse IVa, 4a Landkrieg


Abb. 10: Klasse IVa, Flugzeugkampf (Luftkrieg)

Die Beschriftungen „Klasse IIa, 2a Landgefecht“ (Landkrieg) und „Klasse IVa, 4a Landkrieg“ sind eindeutig. Bei „Klasse IIc/a Flugzeugkampf“ (Luftkrieg) ist wohl die handschriftliche Bezeichnung „Kl. IIa“ aus dem Kontext heraus richtig, das „a“ ist dabei nicht ganz geschlossen geschrieben. Und „Klasse IVa Flugzeugkampf“ (Luftkrieg) ist aus dem Gesamtzusammenhang heraus wahrscheinlicher „IVa“ als „Va“ wie im MEW beim Wiederauffinden zunächst gelesen.

Für die Zeichnungen zum Seekrieg und zum Lazarett gibt keine solchen Zettel. Insgesamt lassen sich die Zeichnungen also in acht Gruppen teilen:

Klasse 2a Landkrieg, Klasse 4a Landkrieg

Klasse 2a Lazarett, Klasse 4a Lazarett

Klasse 2a Seekrieg, Klasse 4a Seekrieg

Klasse 2a Luftkrieg, Klasse 4a Luftkrieg

Damals wurden die Klassen „abwärts“ nummeriert, also in der Klasse 4 waren die jüngeren Kinder von 10 bis 11 Jahren und in der Klasse 2 die älteren Kinder von 12 bis 13 Jahren.

Die Zeichnungen sind nicht datiert, mehrere Punkte sprechen aber für die ersten Jahre des „Großen Krieges“:

1 Es sind keine Panzer gezeichnet, die erst ab September 1916 von den Engländern eingesetzt worden sind (MARK I).

2 Es sind keine Giftgasangriffe zu erkennen, die von den Deutschen erstmals 1916 durchgeführt worden sind (GASKRIEG).

3 Die auf deutscher Seite von den Schulkindern gezeichneten „Pickelhauben“ wurden ab 1916 durch besser schützende Stahlhelme ohne „Pickel“ ersetzt. Auch das spricht für die Anfangsjahre des „Großen Krieges“.

4 Die Franzosen sind immer mit roten Hosen gezeichnet. Diese wurden aber in den ersten Kriegsjahren durch weniger auffällig blaue Hosen ersetzt.

Das damalige Gebäude der Schule III steht noch heute im Westen der großen Elbinsel Wilhelmsburg.


Abb. 11: Schule III, Fährstraße in Wilhelmsburg (Historische Postkarte © MEW)

 

Die von Ebbe und Flut geschaffene und bedrohte Flussinsel wurde erst durch Eindeichungen im 14. Jh. dauerhaft bewohnbar. Ihre rein bäuerliche Gesellschaft hat bis in die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die Nachbarstädte Hamburg im Norden und Harburg im Süden mit Milch und Gemüse versorgt.

Die dann einsetzende starke Erweiterung des Hamburger Hafens nach Süden hin und die damit folgenden Ansiedlungen von Werften und Industrie zur Verarbeitung der Rohstoffe aus den Überseegebieten (z.B. Kokosfett, Jute, Zink) brachte eine völlig neue Bevölkerungsstruktur mit sich. Der plötzliche Bedarf an Arbeitskräften konnte nur durch Zuwanderung aus den östlichen Gebieten des Kaiserreiches und aus dem Gebiet des heutigen Polens gedeckt werden. So kam z.B. auch der Katholizismus in diese rein evangelische Landgemeinde.

Während der Osten der Elbinsel noch heute von Landwirtschaft geprägt ist, entstanden im Westen in der Nähe zu den Arbeitsplätzen bei Werften und Fabriken neue Wohngebiete für die Arbeiter und Angestellten. Die bis heute bestehende Wohnungsbaugenossenschaft Bauverein Reiherstieg wurde gegründet. wie auch eine öffentliche Lesestube, eine katholische Schule, in der Wollkämmerei ein katholisches Krankenhaus und mittendrin eben auch die öffentliche Schule III, aus der die Zeichnungen stammen.


Abb. 12: Wilhelmsburger Frauen 1916/17 © MEW


Abb. 13: Hilfsdienste Frauen 1916 © MEW

Diese zeichnenden Kinder waren also die 2. oder 3. Generation von Zuwanderern. Ebenso stammten die Lehrer nicht von der Elbinsel. Zum Einstieg in die Zeit des ausgehenden Kaiserreiches, in der die Kinder gelebt haben, mögen diese Fotos aus dem Archiv des MEW mit Szenen aus Wilhelmsburg dienen.


Abb. 14: Schützenverein 1913/14 © MEW


Abb. 1: Athletenverein Jung Siegfried v. 1894 © MEW


Abb. 16: Freiwillige Feuerwehr Reiherstieg © MEW


Abb. 17: Liedertafel Eintracht v. 1899 © MEW

Das Kriegsgeschehen war fern und daher auch für die Wilhelmsburger Kinder sehr abstrakt. Das noch wenig betroffene Leben „in der Heimat“ gehörte nicht zur Aufgabenstellung. Anders ist dies bei Kinderzeichnungen aus anderen Ländern und aus anderen Zeiten.


Abb. 18: Kampfgenossen Verein WB Neuhof 1891 © MEW

Darauf findet man neben Gefechtssituationen auch Szenen aus dem Alltag zu Hause wie Schlangestehen vor Geschäften, Auszug oder Heimkehr von Soldaten, Spenden sammeln, Betreuung Verwundeter in der Heimat. Beispiele hierzu finden sich bei IRAND (International Research and Archives Network for Historical Children’s and Youth Drawings)


Abb. 19: Reservistenverein 1916 © MEW

Was konnten Kinder in dieser Zeit wissen und woher.

Woher konnten die Kinder wissen, was sie von dem fernen Kriegsgeschehen zeichnen wollten oder sollten? Die Vielfalt der gezeichneten Szenen deutet auf eine gewisse Auswahlmöglichkeit bei der Gestaltung der Szenen hin und weniger auf ganz strenge Vorgaben oder Vorlagen.


Abb. 20: Extrablatt, Erklärung des Kriegszustandes. Wilhelmsburger Zeitung vom 31.07.1914 © MEW;


Abb. 21: Extrablatt, Mobilmachung. Wilhelmsburger Zeitung vom 2.8.1914 © MEW

Einige Informationen konnten sie selber gesucht haben, z.B. in der ausführlichen Kriegsberichterstattung der Wilhelmsburger Zeitung, die mit Zeichnungen und auch schon mit Fotos illustriert waren. Extrablätter wurden bei aktuellen Anlässen gedruckt.


Abb. 22: Feldpost Belegschaft in Wilhelmsburg © MEW

Durch die sehr leistungsfähige Feldpost konnten Briefe, Ansichtskarten, Fotos und Berichte von den Soldaten nach Hause geschickt werden. Allerdings unterlagen diese Briefe einer Zensur. Militärisch relevante Informationen von der Front waren nicht gestattet. Und an die Front durften keine Klagebriefe verschickt werden, es sollten aufmunternde Briefe und auch Liebesgaben sein.

Die Feldpost beförderte große Mengen von der Front nach Hause, schwieriger war der Weg an die Front, besonders bei Truppenverlegungen. Das erforderte eine sehr gute Organisation. Auch in der Schule III gab es eine „Kriegsschreibstube“ zur Unterstützung der Feldpost, von der die Schüler sicher gewusst haben.


Abb. 23: Bekanntmachung zu Schreibstuben für die Feldpost, darunter auch eine in der Schule III © MEW

Aus dem Archiv des Museum Elbinsel Wilhelmsburg einige Beispiele zur Feldpost.


Abb.: 24: Feldschlachterei Argonnen 1914, Westfront © MEW


Abb. 25: Feldlager Dubovo 1916, Ostfront © MEW


Abb. 26: Feldlager Dubovo Juli 1916, Ostfront, Anfertigung von Drahtsperren im Waldlager © MEW


Abb. 27: Dubovo 1916, Regimentsstab L.J.R. 23, Ostfront. „Regts-Stab L.J.R. 23 Volltreffer 5.8.16 300m westlich Dubovo ca. 5 km östlich von Baranowitschi“ © MEW


Abb. 28: Beschriftung auf der Rückseite: „Posierend, unbekannt“ © MEW

Es gab bereits Filme und Wochenschauen, die die Kinder in Wilhelmsburg gesehen haben könnten. Zum Beispiel Filme über die Balkankriege 1912/13, in denen im Vergleich zum Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 ein neuer moderner Kriegsangriffstyp vermittelt wurde.

Berichte in den Familien zu den Kriegerlebnissen des 19. Jh. werden auch zu den Bildern beigetragen haben. So können die Teilnehmer des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 als Großvätergeneration noch ihre Erlebnisse weitergegeben haben (s. Abb. 5). Auch Kenntnis von Schlachtengemälden im Stil der Historienmalerei sind denkbar.

Die grausame Realität des Kriegsgeschehens im 1. Weltkrieg wiedergebende Schilderungen wurden sowohl von der Postzensur verhindert als auch von den Soldaten selber verschwiegen. Erst im hohen Alter waren Soldaten bereit und fähig über ihr Erleben an der Front zu berichten. Solche Berichte von 135 Frontsoldaten aus der Zeit von 1914 bis 1918 sind von Wolf-Rüdiger Osburg Anfang der 1990er Jahre gerade noch rechtzeitig gesammelt worden (Osburg 2014).

In der Gesellschaft des Kaiserreiches, in den Schulen, Sport- und Gesangsvereinen, in der Historienmalerei entwickelte sich eine starre Kriegsikonografie. Sprunghaft entwickelte sich ein Markt mit Kinderbüchern mit Militärbezug als lustige Kinderkriegsliteratur, Malbücher, Bilderbücher, Gedichten und Liedern (Zunino 2019: 106 f).

Diese patriotische Beeinflussung kann quasi als ideologische Munition verstanden werden, sollten doch auf der Schulbank kleine Soldaten herangezogen werden. (Winterberg 2014: 103f, Drolshagen 2021: 35f, Zunino 2019: 181). Ob die Kinder der Schule III solche Bücher im Hause, in der Schule oder in der öffentlichen Wilhelmsburger Bücherstube einsehen konnten, kann nur vermutet werden.

Ausgehen kann man bestimmt davon, dass diese Kinder mit Kriegsspielzeug und mit Zinnsoldaten gespielt haben. Vielleicht waren diese auch nur aus Vorlagenpappen ausgeschnitten und die Mädchen werden sie zumindest bei ihren Brüdern gesehen haben. Die Abbildung 5 erinnert mit den fast identisch gezeichneten Reitern an solche „Kinderspiele“.

Schulfahnen waren üblich, wie auch bei Vereinen. Im Museum Elbinsel Wilhelmsburg wird eine Schulfahne aus der Nachbarschule Reiherstieg Nr.1 mit der wegweisenden Stickerei „Religion, Tugend, Arbeitsamkeit, Fleiss – mit Gott für Kaiser und Reich“ auf der Rückseite aufbewahrt:


Abb. 29: Schulfahne Volksschule 1, Reiherstieg Wilhelmsburg, Vorderseite © MEW


Abb. 30: Schulfahne Volksschule 1, Reiherstieg Wilhelmsburg, Rückseite © MEW

Ganz wesentlich war sicher der Einfluss der Lehrer (Drolshagen 2020: 35-45). Diese konnten vielleicht der Reformpädagogik, der Kunsterziehungsbewegung nahestehen oder aber auch konservatives Gedankengut verbreiten. Ältere Lehrer wurden nicht mehr eingezogen, was einige von ihnen sehr bedauert haben mögen. Denn für den letzten Krieg 1870/71 waren sie viel zu jung gewesen und für den aktuellen Krieg zu alt, so dass sie auch diesmal wieder keinen persönlichen Ruhm erlangen konnten. Die eingezogenen jungen Lehrer wurden durch schnell angelernte Lehrer ersetzt, was wiederum auch einen Wandel im Gedankengut bedeuten konnte.

Als ein Beispiel für die allgemein herrschende Kriegseuphorie aus dem Umfeld dieser Kinder kann ein Artikel aus der Wilhelmsburger Zeitung vom 1. August 1914 dienen. Vielleicht haben die Kinder aber auch diesem Hurrapatriotismus kritisch gegenüberstehende Stimmen wahrgenommen.


Abb. 31: Wilhelmsburger Zeitung vom 1. August 1914 © MEW

Was haben die Kinder gezeichnet?

Bei allem ist zu bedenken, dass Kinder eine Art schützendes Schutzschild entwickeln, durch das sie die Welt wie durch einen Filter sehen und so auch zeichnen. Fast alle Zeichnungen stellen Soldaten mit Kriegsgerät in einer Landschaft dar. Gezeichnet wird meist aus der Vogelperspektive, aber auf jeden Fall mit großen Abstand. Die jüngeren Kinder der Klassen 4 zeichnen kleine Soldaten - fast in Strichmännchenart, bei den älteren Kindern der Klasse 2 sind die Soldaten größer und mit mehr Details ausgeführt, was dann manchmal an Zeichenvorlagen erinnert.


Abb. 32: Landkrieg. W. Regutzi, Klasse 2a (12 bis 13 Jahre) © MEW

Links deutsche Soldaten mit Pickelhaube hinter einem Drahtzaun in Deckung und rechts Franzosen ohne Deckung auf freiem Schussfeld. Die französischen Soldaten sind an den roten Hosen zu erkennen, die erst ab 1915 durch blaue, weniger auffällige ersetzt wurden. Die deutschen Soldaten trugen presslederne Pickelhauben, die erst ab 1916 durch besser schützende Stahlhelme ersetzt wurden. Die Gruppen der Soldaten sind auf deutscher Seite besser geordnet und überlegen wirkend gezeichnet, auf französischer Seite hingegen ohne Deckung, ungeordneter und unterlegen wirkend.

 


Abb. 33: „Zusammenstoß einer Patrouille“. Karl Mohr, Klasse 2a (12 bis 13 Jahre) © MEW

Auf einigen Zeichnungen erklären Beschriftungen die Situation bzw. Zugehörigkeit. Hier trifft auf freiem Feld links eine deutsche Patrouille mit Pickelhaube und Bajonett auf eine Gruppe von Franzosen in roten Hosen. Die deutschen Soldaten haben Gewehre mit aufgesetzten Bajonetten, die Franzosen ohne.

Abb. 35: Zwei deutsche Soldaten kommen von rechts (über einen Fluss, den Rhein?) und treffen auf drei Franzosen. Ein Franzose schießt, einer hat sich kniend ergeben (Hände erhoben) und einem auf der Erde liegenden fließt Blut aus dem Kopf. Hier kann man die Selbstüberschätzung der deutschen Seite erkennen. Zwei aufrecht marschierende deutsche Soldaten mit Pickelhaube töten einen Franzosen, bringen einen zur Aufgabe und nur einer der Franzosen schießt.


Abb. 34: Nahkampf. P. Babke, Klasse 2a (12 bis 13 Jahre) © MEW


Abb. 35: Landkrieg. H. Fick, Klasse 2a (12 bis 13 Jahre) © MEW

Angriff der Franzosen: Acht Franzosen verlassen unter Beschuss den getroffenen Schützengraben und die Zaunsperren davor und laufen ungedeckt auf den Schützengraben mit den deutschen Soldaten (Pickelhauben) zu. Ein Franzose ist wohl getroffen. Auch hier scheinen die deutschen Soldaten sich klüger zu verhalten.


Abb. 36: Belagerung einer französischen Stadt. R. Raschke, Klasse 2a (12 bis 13 Jahre) © MEW

Vorne zwei deutsche Soldaten mit Pickelhaube und drei Kanonen, das Feuer hinter der Stadtmauer weist auf Treffer hin. Aus der Stadtmauer wird zurückgeschossen. Links aus dem Wald schießt ein französischer Soldat auf die Deutschen.


Abb. 37: Land- und Luftkrieg. Frieda Bischoff, Klasse 2a (12 bis 13 Jahre) © MEW

Drei Deutsche gegen vier Franzosen, von denen einer gerade erschossen wird. Ein fünfter Franzose fällt aus dem abgeschossenen Flugzeug.


Abb. 38: Land- und Luftkrieg. Karl Mietke, Klasse 4a (10 bis 11 Jahre) © MEW

Der Zeppelin und zwei Flugzeuge fliegen nach Frankreich, zwei Flugzeuge kommen aus Frankreich, aus dem abstürzenden Flieger fällt ein französischer Soldat, Bomben fallen. Aus dem Baum heraus wird in Richtung Frankreich geschossen. Hier wird der Kampf am Boden mit Unterstützung aus der Luft von einem jüngeren Kind (10 bis 11 Jahre) dargestellt. Auf deutscher Seite gibt es Soldaten auf Tragen und am unteren Blattrand einen Rotkreuzzug. Das Feuer auf der Frontlinie scheint riesengroß zu sein, vielleicht sogar durch Flammenwerfer erzeugt. Die Darstellung der Soldaten ist altersgemäß in der Art der Strichmännchen wenig detailgerecht. Dieses auf den ersten Blick relativ leere Blatt kommt der Realität sehr nahe mit der Darstellung der Angreifer, der Gegner, der Versorgung der Verwundeten, dem Luftkampf mit dem herabstürzenden französischen Soldaten.


Abb. 39: Landkrieg, Grabenkrieg. Reddmann, Klasse 4a (10 bis 11 Jahre) © MEW

Auf beiden Seiten der Front mit Drahtverhau gesicherte Gräben, aus denen der Gegner beschossen wird. Beschriftung oben „Deutscher“ und unten „Französischer“. Die Soldaten erscheinen nur durch das Mündungsfeuer ihrer Gewehre. Diese sehr abstrakte Arbeit erinnert an eine Zeichnung zu einem Frontverlauf, wie er in der Wilhelmsburger Zeitung regelmäßig veröffentlich wurde.

Noch reduzierter wird der Krieg in dieser Zeichnung gezeigt.


Abb. 40: Landkrieg. Ohne Namen, aus der Mappe der Klasse 4a (10 bis 11 Jahre) © MEW

Extrem reduzierte Darstellung einer kriegerischen Situation. Zwei an den Mützen zu unterscheidende Soldaten, zwei Kanonen: Zwei Gegner schießen aufeinander.


Abb. 41: Lazarett und Gräber. A. Jauschewski (?), Klasse 2a (12 bis 13 Jahre) © MEW

Ein deutscher Soldat wird zu einem Lazarettzelt getragen, zu dem auch eine Krankenschwester geht. Links unten eine Gruppe gefangener, bewachter Franzosen, rechts unten nur die Füße eines am Boden liegenden Menschen, bei der Pumpe liegt ein Franzose auf einer Trage. Auf nur wenigen Blättern finden sich Gräber mit Kreuzen, dann meist in Nähe von Lazarettzelten. Hier ein Gräberfeld mit neun Grabhügeln und ein einzelnes Grabkreuz. Oben links führt ein Weg zu einem sonnenbeschienenen schlossartigen Haus (Symbol für die Heimat?).


Abb. 42: „Hinter Front“, Lazarett und Gräber. A. Poek, Klasse 2a (12 bis 13 Jahre) © MEW

Auf dieser an eine Kollage erinnernde Zeichnung zum Thema „Hinter der Front“ sind zwei Lazarettzelte und zwei Gräber mit der Aufschrift „Der Heldentod“ gezeichnet. Außerdem zwei Rotkreuztransporte mit Pferdewagen, eine Gulaschkanone, Sanitäter mit einem Verwundeten auf einer Trage, ein Wachsoldat und am Himmel ein Zeppelin und ein Flieger.


Abb. 43: Lazarettzug. Brückner, Klasse 2a (12 bis 14 Jahre) © MEW

Oft werden Eisenbahnzüge mit dem Symbol des Roten Kreuzes gezeichnet. Züge mit Nachschub für die Front kommen nicht vor. In Wilhelmsburg gab es damals einen sehr großen Verschiebebahnhof, das mag die Vorliebe für das Zeichnen der Eisenbahn erklären. Zur Rechts liegenden Front werden am unteren Blattrand zwei Kanonen von Pferden gezogen, ein Rotkreuzauto fährt nach links. Bomben fallen. Drei Soldaten auf Tragen werden zum Lazarettzelt gebracht, einer liegt auf einer Trage neben dem Zug, daneben zwei Soldaten mit einem Stuhl. Von links wird eine Gruppe Soldaten mit geschulterten Gewehren in Richtung Front geführt.


Abb. 44: Lazarett, Krankenschwestern. Elsa M, Klasse 4a (10 bis 11 Jahre) © MEW

Krankenschwestern werden immer größer und kräftiger als die Soldaten dargestellt. Hier steht wohl die kindliche Sicht auf eine helfende, beschützende Mutter dahinter und natürlich auch das Weiblichkeitsideal der Kaiserzeit als helfende, dienende Person. Der linke Soldat am Baum wird wohl versorgt, der rechts Liegende scheint mit der Schwester zu beten oder ist bereits tot. Bedroht wird diese Szene durch Bomben.


Abb. 45: Lazarett, Krankenschwester. Steckelberg, Klasse 4a (10 bis 11 Jahre) © MEW

Der Soldat ist als kleines Kind im Bett gezeichnet, das von der Krankenschwester-Mutter mit Medizin versorgt wird.


Abb. 46: „Lazarettgarten“. E. Möller, Klasse 2a (12 bis 13 Jahre) © MEW

Das Leben im Lazarett ist angenehm und fast wie bei einem Kuraufenthalt dargestellt. Die Soldaten im Lazarett werden gut versorgt mit Armbinden und Holzbein gezeichnet, die Sonne, die Gartenbank und die Apfelbäume vermitteln den Gedanken an Geborgenheit in Heimat und Sicherheit. Schlimme Verletzungen und Verstümmelungen tauchen nicht auf, die Phantasie der Kinder reicht hier wohl nicht aus und das Kaiserreich hat solcher Art entstellte Soldaten vor der Bevölkerung vorenthalten und abgesondert.


Abb. 47: Lazarett, Verwundetentransport. Scharweit, Klasse 2 (12 bis 13 Jahre) © MEW

Die reduzierteste Darstellung zu „Lazarett“. Der ruhige, gut versorgte Soldat wird auf einer Trage transportiert. Nur eine Krankenschwester erscheint, gebeugt und konzentriert bei ihrer Arbeit.


Abb. 48: Luft- und Landkrieg. Friedrich Schröder, Klasse 4a (10 bis 11 Jahre) © MEW

Am Boden im Landgefecht die Franzosen in roten Hosen gegen die Deutschen mit Pickelhauben. In der Luft „D“ Deutschland gegen „F“ Frankreich. Die Entwicklung der Flugzeuge und der Zeppeline brachte neue Kriegstechniken hervor. Der Luftschiffhafen Hamburg-Fuhlsbüttel wurde 1911 gegründet, folglich dürften die Kinder Luftschiffe und Flieger schon einmal gesehen haben.

Abb. 49: Luftkrieg. W. Bischoff, Klasse 2a (12 bis 13 Jahre) © MEW

Abwehr gegen ein Flugzeug mit Lichtkanonen. Ein Pilot im Flugzeug und ein französischer Soldat an einem Geschütz. Aktueller Stand der Kriegstechnik.

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