Das Wanderkind

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Das Wanderkind
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»Eines dieser Bücher, die tief in dir widerklingen und Gutes tun.«

ANNICK DUCHATEL IN ›FEMME PLUS‹

Ein Zwillingspaar, der eine groß und kräftig, der andere klein und zerbrechlich. Einem von ihnen ist es bestimmt, den anderen am Leben zu erhalten. Ein kleiner, sehr feiner, beinahe märchenhafter Roman über die Brüchigkeit des Lebens und die schmerzhafte Schönheit menschlicher Bindungen.

Claudette Charbonneau alias Aude wurde 1947 in Montréal geboren und gilt als eine der wichtigsten Figuren der frankokanadischen Literaturszene. Nach dem Studium unterrichtete sie in Québec Kreatives Schreiben und Literaturtheorie. Ihr preisgekrönter Kurzgeschichtenband Cet imperceptible mouvement (1997) erschien 1998 auf Englisch (The Indiscernible Movement). Nach einer Phase des düsteren Erzählens über Wahnsinn und Tod wandte sie sich mit L’enfant migrateur einer hoffnungsfrohen Weltsicht zu. Aude starb 2012 an Leukämie. Sie wurde zur Ehrenpräsidentin des nach ihr benannten Centre Aude d’études sur la nouvelle zur Förderung der Gattung Kurzgeschichte.

Ina Böhme, Jahrgang 1988, studierte Romanische Philologie und Interkulturelle Deutsch-Französische Studien. Nach einigen Jahren in Frankreich lebt sie inzwischen als literarische Übersetzerin und Lektorin in Berlin. 2018 war sie Stipendiatin des Georges-Arthur-Goldschmidt-Programms für junge Literaturübersetzer.


Aude

Das Wanderkind. Roman

Aus dem kanadischen Französisch

von Ina Böhme

Stuttgart: Kröner 2021

ISBN Druck: 978-3-520-61601-2

ISBN eBook: 978-3-520-61691-3

Originaltitel: L‘enfant migrateur, © Les Éditions XYZ 1999

Wir bedanken uns für die Unterstützung durch

Canada Council for the Arts


Die Übersetzung wurde gefördert durch ein Initiativstipendium des Deutschen Übersetzerfonds.

Umschlagestaltung Denis Krnjaić

unter Verwendung eines Fotos von Juan Pablo Rodriguez, unsplash.com

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2021 by Alfred Kröner Verlag Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Konvertierung: Zeilenwert GmbH Rudolstadt

Für Denise, meine zu früh verstorbene Schwester Für Jean-Guy, meinen geliebten Bruder

Er ist ein komisches Kind

Er ist ein Vogel

SAINT-DENYS GARNEAU


ERSTES KAPITEL

Die Krankenhausflure sind bereits von frühmorgendlichen Geräuschen erfüllt. Corinne wäre am liebsten nicht mehr aufgewacht.

Ihre Zimmernachbarin sitzt in einem Sessel und stillt ihr Neugeborenes. Corinne wendet sich ab und schließt die Augen, um die beiden nicht sehen zu müssen.

Jeden Morgen weint sie.

Seit vier Wochen liegt sie in diesem Bett. Am Ende des sechsten Schwangerschaftsmonats hat ihr Hausarzt in der Amnionhöhle des einen Fötus eine Fruchtwasservermehrung festgestellt. Letztes Jahr hat sie eine Fehlgeburt erlitten. Um die Risiken zu mindern, hat der Arzt diesmal entschieden, Corinne ins Krankenhaus einzuweisen.

Vor zwei Wochen hat der Frauenarzt die endgültige Diagnose gestellt: Der Blutaustausch zwischen den Föten sei gestört. Der eine, den man zunächst für bedrohter gehalten habe, sei überraschend gewachsen und habe sich alles einverleibt, während der andere, anfangs kräftigere, langsam verkümmert sei, weil er sein eigenes Blut dem Zwilling übertragen habe. Und man könne nichts tun, um das Gleichgewicht wiederherzustellen.

Ihr Wachstum hat sich so unterschiedlich entwickelt, dass der Größere binnen kürzester Zeit fast den gesamten Platz in Beschlag genommen und seinen Bruder hinter sich versteckt hat. Es ist allmählich sogar schwierig geworden, den Herzschlag des Schwächeren von dem des Stärkeren, dem der Mutter und von den ganzen Aktivitäten der umliegenden Organe zu unterscheiden.

Über Ultraschall und Elektrokardiografie kann man noch nicht beurteilen, ob das kaum hörbare Hintergrundgeräusch von dem hinten liegenden Fötus oder von Corinnes Gebärmutter stammt.

Der Kleinere ist wahrscheinlich tot. Es gibt zwar keine absolute Gewissheit, aber alles deutet darauf hin.

Als Corinne und Pierre diese Nachricht überbracht wurde, haben sie geweint. Als Corinne aber klar geworden ist, dass sie den toten Fötus bis zur Geburt des anderen Babys in sich behalten muss, hat sie geschrien und sich in den Bauch geschlagen. Sie hat sich vorgestellt, dass die kleine Leiche wie ein Ertrunkenes in ihr aufschwemmen und dann ein Verwesungsprozess einsetzen würde.

Stundenlang hat man versucht, sie zu beruhigen und von der Notwendigkeit der krankhaften Einlagerung zu überzeugen.

Als Corinne erfahren hatte, dass sie Zwillinge bekommen würde, war ein idyllisches Bild in ihr herangereift: zwei Babys, ineinander verschlungen in demselben feuchten Kokon, das eine am Daumen des anderen saugend.

An dessen Stelle ist ein entsetzliches Bild getreten: Corinne ist nun das Grab des Kleineren und gleichzeitig die Höhle des jungen Ungeheuers, das seinen Bruder aufgefressen hat.

Sie weiß inzwischen, dass der tote Embryo nicht in ihr aufquillt und verwest. Man hat ihr genau erklärt, was passieren wird. Wann immer Panik in ihr aufsteigt, sagt sie es sich vor: Isoliert in seiner keimfreien Blase, schrumpft der tote Fötus zusammen und wird allmählich zur Mumie. Nach der Austreibung wird er wie ein Lebkuchen aussehen. So hat man es ihr gesagt, mit genau diesen Worten. Und der andere, größere Fötus ist kein Monster. Er leidet. Auch sein Leben ist in Gefahr.

Das Kind regt sich in ihr, als ob es auf sich aufmerksam machen wollte. Sie fühlt jetzt keine Wut und keinen Abscheu mehr, eher ein sonderbares Mitleid mit dem Kind, das nur noch seinen kalten, erstarrten Schatten umarmt. Es muss den entseelten, an ihn geschmiegten Körper seines Bruders spüren.

Corinne legt die Hände behutsam auf den gedehnten Bauch. Es scheint, als würde sie zu dem einsamen Baby sprechen – aber in Wirklichkeit trauert sie, wie das Kind auf der anderen Seite der Scheidewand vielleicht auch.

ZWEITES KAPITEL

Es ist der zweihundertzweiunddreißigste Tag der Schwangerschaft. Die Wehen setzen ein. Corinne hat Angst.

Sie hatte gehofft, betäubt zu werden, wenn der Augenblick gekommen wäre, um nichts von dem Kaiserschnitt mitzubekommen. Beim Aufwachen würde Pierre ihr das Neugeborene in die Arme legen und alles wäre normal. Die letzten Wochen hätte es nie gegeben, nicht einmal die Zwillingsschwangerschaft. Aber die Ärzte sagen, dass eine natürliche Entbindung für den überlebenden Fötus sicherer sei.

Corinne denkt kaum noch an das in ihr gestorbene Kind. Im Beisein der Psychologin, die sie regelmäßig besucht, hat sie mit Pierre eine symbolische Bestattung vollzogen. Das Kind ruht jetzt irgendwo in ihrem Kopf, in einer hübschen, metallenen Keksdose. Sie hat geweint, weil es ihr nicht gelingen wollte, sich etwas anderes als dieses aberwitzige Grab vorzustellen, aber man hat ihr gesagt, es sei sehr gut so.

Das überlebende Kind soll Hans heißen. Pierre hat den Namen vorgeschlagen, er bedeutet: ›Dem Gnade gewährt wurde‹.

Pierre begleitet Corinne, die in den Kreißsaal geschoben wird. Einmal mehr bereut er die gemeinsame Sehnsucht nach einem zweiten Kind, die vor eineinhalb Jahren zu einer Fehlgeburt, dann zum Tod des Zwillings und jetzt in diesen Flur geführt hat, an dessen Ende sich allem Erlebten ein weiteres Gräuel anschließen wird.

Denn anders als Corinne, die man belogen hat, um sie zu beruhigen, hat man Pierre eingeweiht: In einem so späten Stadium und innerhalb so kurzer Zeit ist die kleine Leiche nicht zur Mumie geschrumpft, sondern gegoren.

Pierre stützt sich auf dem Bettrand ab. Er berührt Corinne nicht, die aus seiner feuchten Hand seine Panik lesen könnte.

Corinne wird in einen Raum geschoben, dessen Decke weniger besänftigend wirkt als die Decke im Flur. Sie überlegt, was sie dort oben zählen könnte, um ihre Angst zu lindern – doch ehe sie etwas findet, um sich gedanklich daran festzuhalten, spürt sie, wie ihr etwas Warmes die Oberschenkel hinabfließt.

Nur Hans’ Fruchtblase ist geplatzt. Das lässt die weißlich schimmernde Flüssigkeit erkennen.

Trotz ihrer Angst hat Corinne die Presswehen fest unter Kontrolle und übt ausreichend Druck aus, wie in den letzten Tagen trainiert, damit Hans sich befreien kann, ohne dass die andere Blase platzt. Eine Hebamme leitet sie an.

 

Pierre sitzt auf einem Stuhl dicht neben ihr. Er atmet und presst mit, wie bei Alexandras Geburt, obwohl diesmal alles anders ist. Ein breites Tuch vor Corinnes Brust versperrt den Blick auf das, was weiter unten vor sich geht. Sie sehen nichts von der anderen Seite, nicht einmal die Gesichter der Ärzte und Schwestern. Nur ihre Stimmen dringen wie aus einer Traumwelt zu ihnen vor.

Obwohl die Ärzte eine schwere Geburt erwartet haben, gleitet Hans sturzartig aus ihr heraus und zerreißt mit seinem Schrei die Luft.

Corinne und Pierre können ihr Kind nur kurz berühren, ehe es rasch neben ihnen in den Brutkasten gelegt wird. Das Wesen, prall und rosig, scheint vor Gesundheit zu strotzen, ist jedoch unter seiner Schwellung eine kaum zwei Kilogramm leichte Frühgeburt. Am liebsten würde Corinne es an ihre Brust legen, streicheln, mit ihm sprechen. Für sie ist die Geburt beendet. Das Kind ist da, wohlbehalten. Sogar der erste, zornig klingende Schrei ist ein gutes Omen.

Pierre dagegen kann sich nicht wirklich freuen.

Nicht einmal fünf Minuten später setzen die Wehen von selbst wieder ein und überraschen Corinne. Obwohl man ihr gesagt hat, dass die Nachgeburt mit den Überresten des Kleineren unmittelbar nach Hans kommen würde.

Die Wehen sind bald so stark wie die vorherigen. Aber diesmal will Corinne einfach nichts gelingen. Das Pressen fällt ihr schwer. Sie kann die Atmung nicht kontrollieren. Die Hebamme versucht vergeblich, sie in den Rhythmus zurückzubringen.

Das Kind, von dem sie bereits Abschied genommen hat, soll sie jetzt wieder aus seinem Grab holen, und der unbeschreibliche Schmerz flammt erneut in ihr auf. Das Pressen fällt ihr schwer, weil sie ihr Kleines behalten möchte. Sie will, dass es auf ewig in ihr ruht. Unbewusst versucht sie, sich den Kräften zu widersetzen, die ihr das Kind zum zweiten Mal entreißen wollen.

Pierre sieht Corinne unverwandt an. Weder atmet, noch presst er gemeinsam mit ihr. Er ist sich sicher, dass sie verlangen wird, das mumifizierte Kind zu sehen – das winzige Lebkuchenmännchen, das in ihrem Kopf in einer Keksdose liegt, trocken und sauber. Er dagegen weiß, wie der Fötus am Ende aussehen wird. Es wäre ihm lieber, wenn Corinne in dieser Phase betäubt würde, damit sie ihre harmlose Vorstellung vom kleinen Hingeschiedenen für immer behielte und von der grausamen Wahrheit nichts erführe. Mit einem Mal platzt die Fruchtblase.

Entgegen aller Erwartungen ist die austretende Flüssigkeit durchsichtig und rein, wenn auch deutlich spärlicher als bei Hans.

Ein paar Sekunden später wird der Kleine mühelos geboren.

Sofort ertönt ein Raunen hinter dem dünnen Tuch.

Corinne und Pierre halten den Atem an. Auf der anderen Seite des Vorhangs ist etwas passiert, aber sie sind nicht sicher, ob sie davon erfahren möchten.

Plötzlich ist die Aufregung groß.

Eilends wird Hans’ Brutkasten geöffnet und das kleine Ding an die Seite seines Bruders gelegt, der augenblicklich zu weinen aufhört.

Das Geschöpf ist so winzig, dass es mehr an ein Vögelchen als an ein Menschenkind erinnert. Es gibt auch nur ein schwaches Piepsen von sich.

Seine Gesichtszüge sind außergewöhnlich fein.

Bei jedem Atemzug hebt sich sein Bauch, um dann abrupt wieder zusammenzusinken. Manchmal setzt sein Atem aus. Und dann wieder ein, wie durch ein Wunder. Heftige Bewegungen durchzucken die zierlichen Glieder.

Unter der durchscheinenden Haut fließt bläulich das Leben.

DRITTES KAPITEL

Nur das Rascheln der Seiten ist zu hören, manchmal ein Flüstern oder ein Glucksen. Die Kinder im Klassenzimmer lesen. Manche haben sich Hals über Kopf in ein selbst ausgesuchtes Buch gestürzt und sind schnell darin versunken, andere können sich nur zögerlich vom Unterricht lösen, von den Schulkameraden, den alltäglichen Geräuschen und Gedanken, um sich woanders, in einer fremden Welt wiederzufinden.

Diese Viertelstunde des Tages ist Audrey die liebste. Ein willkommener Moment nicht zuletzt, weil sie dann wunderbar den Kleinen beobachten kann. Sie hat ihm einen Platz ganz in ihrer Nähe, im vorderen Teil des Raumes, zugewiesen, weil zu vermuten stand, dass er stark auf die Trennung von seinem Bruder reagieren würde. Das erste Schuljahr hatten die Zwillinge gemeinsam verbracht.

Der Kleine ist überhaupt nicht so, wie er ihr beschrieben wurde. Er wirkt zwar langsamer als die anderen und spricht nicht viel, doch das hat nichts mit einer geistigen Behinderung zu tun. Da ist sich Audrey sicher.

Es wirkt so, als würde es dem Kind genügen, zu sein, und alles andere ihm überflüssig erscheinen.

Letztes Jahr hat der Kleine nicht wie die Anderen Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt. Als ob es den Zwillingen ausreichen würde, wenn Hans all dies kann. Wenn man dem Kleinen eine Frage gestellt hat, hat er sich oft zu seinem Bruder umgedreht, der daraufhin für ihn geantwortet hat. Das hat sich von selbst verstanden. Wenn man Hans zu erklären versucht hat, dass sein Verhalten den Kleinen davon abhält, sich auszudrücken und zu entwickeln, hat dieser ruhig, aber unmissverständlich entgegnet:

»Lassen Sie ihn in Ruhe.«

Während die anderen Kinder ein Diktat geschrieben oder Wörter und Zahlen geübt haben, hat der Kleine sich bemüht, »Hans« in sein Heft zu schreiben und den gepriesenen Namen mit Vögelchen, Bäumen, Blumen, Girlanden und Luftballons zu umranden. Das war zwar hübsch, aber sein früherer Lehrer hat geglaubt, dies sei alles, wozu der Kleine fähig sei. Monatelang hat er vergeblich versucht, ihn etwas anderes tun zu lassen.

Schon am Anfang des zweiten Schuljahrs hat Audrey bemerkt, dass der Kleine genauso lesen, schreiben und rechnen kann wie die anderen Kinder, obwohl ihm das niemand zugetraut hat und er gemeinhin auch nichts davon zu erkennen gibt.

Audrey wurde gesagt, der Kleine habe von seiner Frühgeburt und dem unausgewogenen Blutaustausch im Bauch seiner Mutter einen Schaden davongetragen. Da er nicht stört und nicht zu weit von seinem Bruder entfernt sein soll, wird er in der Schule geduldet.

Audrey dagegen glaubt, dass der Kleine ebenso schnell lernt wie die anderen Kinder, wenn nicht sogar schneller – dass er nur keine Notwendigkeit sieht, sein Können unter Beweis zu stellen. Er nutzt seine Fähigkeiten, wann und wie es ihm beliebt, was seine scheinbaren Macken erklärt. Er macht den Eindruck, als habe er nicht wie seine Klassenkameraden das Bedürfnis, seine Lehrerin zu beeindrucken – dabei ist er derjenige, der sie am meisten beeindruckt – oder den Wünschen seiner Eltern zu entsprechen.

Gerade hat der Kleine zu ihr aufgesehen, was oft passiert, wenn sie ihn beobachtet und über ihn nachdenkt. Sein Blick unterscheidet sich von dem aller anderen Kinder. Er ist klarer, durchdringender.

Hans hat die gleichen Augen, wie ihr immer wieder auffällt, wenn die Zwillinge sich in den Pausen zusammenfinden. Aber ihr Blick ist nicht der gleiche. Der von Hans ist spöttisch und scheu. Wie bei einem jungen wilden Tier.

Hans und der Kleine sind sieben Jahre alt. Abgesehen von ihrer Größe sehen sie vollkommen identisch aus. Der Kleine könnte eineinhalb Jahre jünger sein als Hans, ohne allerdings jünger zu wirken. Ein Schüler aus der dritten Klasse hat den Kleinen einmal »Miniaturmodell« genannt. Hans hat nach der Schule auf ihn gewartet und seitdem hat sich niemand mehr über seinen Bruder lustig gemacht.

Auf der Klassenliste ist der Kleine unter dem Namen Benoît Fortier verzeichnet. Allerdings hat er noch nie auf diesen Namen gehört und keiner nennt ihn mehr so. Im ersten Schulhalbjahr hat der Rektor darauf bestanden, dass der Kleine bei seinem Namen genannt wird, statt ihn über den Vergleich mit seinem Bruder zu definieren. Das sollte ihm helfen, eine eigene Identität zu finden.

Eigentlich war der Kleine auf den Namen Benoît getauft worden, um wohlbehütet eine Reise antreten zu können, die nie stattgefunden hat.

Seine ersten Tage waren aufgrund einer Herzschwäche und großer Atemnot so kritisch gewesen, dass man einmal mehr gedacht hatte, der Kleine würde sterben. Der Seelsorger im Krankenhaus hatte angeregt, ihn möglichst bald zu taufen, um ihm den Limbus zu ersparen.

Corinne und Pierre glauben nicht an Himmel und Hölle. Aber das scheinbar harmlose Wort – Limbus – hatte sie verunsichert. Ein leerer Begriff, wie ein bodenloser Brunnen, in den der Kleine auf ewig zu fallen drohte.

Am nächsten Tag war das schwächliche, kränkliche Baby getauft worden. Während der kurzen Zeremonie hatte der Priester wissen wollen, welchen Namen Corinne und Pierre für das Kind ausgesucht hätten. Pierre hatte darauf gesagt:

»Wir haben ihn immer den ›Kleinen‹ genannt.«

Dies sei kein Vorname, hatte der Priester erwidert und den Tagesheiligen Benoît vorgeschlagen, ›Der von Gott Gesegnete‹, um der kleinen Seele den Weg ins Jenseits zu weisen.

Aber der Kleine war auch dieses Mal nicht gestorben, allen Prophezeiungen zum Trotz. Alle nennen ihn immer noch den Kleinen. Und wenn man ihn nach seinem Namen fragt, antwortet er:

»Der Kleine.«

VIERTES KAPITEL

Hans hat den holzigen Geruch des Kleinen in der Nase. Er ist als Einziger in der Lage, den zarten Duft, den sein Zwilling verströmt, schon von Weitem zu riechen. Ohne seinen Bruder sehen zu müssen, weiß Hans, dass er da ist, irgendwo versteckt, vollkommen regungslos, vermutlich im Flur nahe der halb offenen Tür oder im Wandschrank. Der Kleine versteckt sich häufig auf diese Weise, um Hans zu beobachten, wie andere einen Vogel beobachten würden.

Hans sitzt auf seinem Bett und tut so, als ob er sich unbeobachtet fühlt, aber nichts ist mehr wie vorher, weil sich jetzt alles vor den Augen des Kleinen abspielt. Vor ihm steht Ticopin, der große, schwarze Pudel. Hans flüstert:

»Turnschuhe!«

Aufgeregt durchsucht der Hund das Kinderzimmer. Unter einem Berg Decken, Kleidern und Schulheften, die Hans absichtlich aufgetürmt hat, findet er die Stoffschuhe und bringt sie seinem Herrchen.

Es folgt eine Reihe kurzer Kommandos, die Ticopin ausführen soll.

»Licht!«

Der Hund bewegt sich in Richtung Zimmertür und legt mit der Schnauze den Schalter um.

»Teppich!«

Ticopin drückt sich sofort flach auf den Boden, als ob er eine Fußmatte wäre.

»Der Kleine!«

Mit lautem Gekläffe stürzt der Pudel in den Flur. Seine Krallen schrammen über den Dielenboden. Immer wieder rutscht er aus.

Vor vier Jahren ist Ticopin in die Familie gekommen, an einem verregneten Abend im Oktober. Der Tag hatte ganz im Zeichen des Wartens gestanden. Hans hatte sich auf nichts anderes konzentrieren können. Nervös war er hin- und hergeeilt, ohne sich beruhigen zu können. Gegen fünfzehn Uhr hatte Corinne ihn zum Ausruhen in sein Zimmer geschickt.

Alexandra war den ganzen Weg von der Schule nach Hause gerannt, voller Angst, sie könnte die Ankunft des Welpen verpassen und von den beiden Jungen, die ihr bereits alles genommen hatten, ausgeschlossen werden.

Der Kleine war Hans wie üblich auf ihr Zimmer gefolgt, um seinem Bruder beizustehen, der schier überquoll vor Ungeduld und Vorfreude.

Beim Abendessen hatte niemand Appetit verspürt. In Anbetracht der baldigen Ankunft des Welpen war ihnen alles andere fad erschienen.

Zwei Monate zuvor hatte Pierre den kleinen Pudel aus einem Wurf ausgesucht und für sie reserviert. Corinne und die Kinder hatten ihn bislang nur auf einem Foto gesehen, das am Kühlschrank hing. Ohne die anderen um ihre Meinung zu fragen, hatte Hans dem Hund seinen Namen gegeben. Sie hatten ihn gewähren lassen.

Als der Kombi endlich auf der von Lärchen gesäumten Allee aufgetaucht war, waren Hans und der Kleine schon seit fast einer Stunde draußen gewesen. Obwohl der Wind ihnen den eisigen Regen ins Gesicht geblasen hatte, hatten sie in der großen Schaukel auf der Terrasse ausgeharrt, die Hans immer wieder heftig in Schwung versetzt hatte.

Die Stirn gegen das Wohnzimmerfenster gelehnt, hatte Alexandra still vor sich hin geweint, weil sie inzwischen nicht mehr daran zweifelte, dass dieser Hund niemals ihr gehören würde – oder auch nur der Familie. Corinne hatte sich ihrer Tochter zugewandt und ihr sanft übers Haar gestrichen, aber keine tröstenden Worte über die Lippen gebracht. Das wäre verlogen, mindestens aber nicht ehrlich gewesen. Lieber hatte sie geschwiegen.

 

Corinne hatte zuerst gar keinen Hund gewollt. Aber die Argumente des Psychologen, den Pierre und sie schließlich mit den Zwillingen aufgesucht hatten, hatten sie umgestimmt. Der Kleine war gegenüber seinem Bruder so unterwürfig, dass er anscheinend kein eigenständiges Leben führte. Außerdem war seine Sprachentwicklung deutlich verzögert. Der Psychologe hatte gemeint, dass ein Haustier vielleicht Hans’ Aufmerksamkeit binden und es ihm ermöglichen würde, sich von seinem Bruder zu lösen. Denn anders als Corinne und Pierre immer geglaubt hatten, sei Hans der Abhängigere der beiden, der sich an den Zwilling klammere, um zu überleben, so der Experte.

Hans war johlend in Richtung Wagen gestürmt. Der Kleine war seinem Bruder ein Stück weit gefolgt, alle Aufmerksamkeit auf Hans’ Gesten und Worte und Taten gerichtet, als ob er nur zusehen müsste, was der andere tat und sagte, um das Gefühl zu haben, selbst auch getan und gesagt zu haben.

Sobald die Wagentür aufgesprungen war, hatte Hans den Welpen auf den Arm genommen und mit Küssen und zärtlichen Worten überhäuft.

Im selben Moment hatte der Kleine sich vom Ort des Geschehens abgewandt, war in Richtung Apfelbaum umgeschwenkt und in dem schweren, feuchten Schnee stehen geblieben, der mittlerweile vom Himmel gefallen war.

Bei diesem Anblick hatte Corinne plötzlich bereut, den Rat des Psychologen befolgt zu haben, der ja eigentlich gar nicht wusste, was hier wirklich vor sich ging.

Vielleicht würde der Kleine mit Ticopins Ankunft auch den winzigkleinen Platz verlieren, den Hans ihm gerade noch zugestand – wie sie alle vor vier Jahren gewissermaßen ihren Platz verloren hatten, als Hans auf die Welt gekommen war, rund und rosig, satt vom Lebenssaft seines Bruders.

Aber der Kleine, mit dem Rücken zu Hans, hatte aus der Ferne dessen Geplauder mit dem vergnügt kläffenden Hund gelauscht, und gelächelt.

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