Das Mysterium der Wölfe

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Das Mysterium der Wölfe
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Anna Brocks



Das Mysterium der Wölfe



Band 2: Die sieben Amulette








Anna Brocks






Das Mysterium der Wölfe




Die sieben Amulette






Impressum



Texte:   © 2022 Copyright by Anna Brocks



Umschlag: © 2022 Copyright by Anna Brocks




Verantwortlich



für den Inhalt: Anna Brocks



annabrocks.autorin@gmail.com




Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin




Kapitel 1





Der Aufbruch






Kyrion ist tot. Er hat uns so viel beigebracht. Nun ist er von uns gegangen, einfach so. Wir sind auf uns allein gestellt. Meine Gedanken überschlagen sich regelrecht. Ich denke zurück an die Zeit, als unsere Mission noch in weiter Ferne lag.



Wie lange ist es wohl her, dass ich mein Zuhause hinter mir gelassen habe? Mittlerweile kommt es mir wie eine Ewigkeit vor. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie es dort war. Auch George und Jane liegen nun endgültig hinter mir. Hier gehöre ich hin. Genau an diesem Ort soll ich sein, bei meinem Rudel, bei meiner Familie.



Es ist erstaunlich, wenn ich daran denke, wie es zu all dem gekommen ist. Hätte mich Jake nicht vor mehreren Monaten mit auf seine Reise genommen, wäre ich jetzt gar nicht hier. Dann hätte Kyrion seine Aufgabe nie erfüllen können und wäre vielleicht noch am Leben.



Ich würde die Zeit gerne zurückdrehen und zu dem Punkt zurückkehren, als wir in Kyrions Tal angekommen sind, zum ersten Trainingstag und auch zu dem heutigen Morgen, an dem Kyrion noch am Leben war. Eigentlich begann der Tag ja, wie jeder andere auch.



„Zeit aufzustehen! Kommst du runter, Jess?“ Dies waren die ersten Worte, die ich an diesem Tag vernommen hatte. Jake hatte den Weckdienst übernommen.



„Ich komme gleich!“ Ich hörte, wie seine Schritte langsam leiser wurden und schließlich ganz verstummten.



Also startete ich mein alltägliches morgendliches Ritual. Zuerst befreite ich mich aus meiner dicken Decke, was sich meistens als schwierigster Teil herausstellte, da ich mich kaum von ihr trennen konnte. Dann begab ich mich ins Bad und sprang unter die Dusche. Noch wusste ich nicht, dass es die letzte für eine längere Zeit sein sollte.



Ich hatte jedoch schon eine Vermutung, dass unser Aufbruch in nicht allzu ferner Zukunft lag, immerhin war es an diesem wunderschönen Frühlingsmorgen noch wärmer als sonst. Das Eis musste fast vollständig geschmolzen sein, dessen war ich mir sicher.



Im Esszimmer warteten bereits die anderen: „Guten Morgen, Leute.“ Jake und Logan begrüßten mich mit einem Nicken. Es wunderte mich nicht, dass sie als erste beim Frühstück saßen. Ich begab mich also zu ihnen und nahm den gewohnten Platz neben Jake ein.



Dann drang eine vertraute Stimme an mein Ohr: „Guten Morgen, Jessica. Hast du gut geschlafen?“ Diese freundliche und enthusiastische Stimme trotz aller Frühe konnte doch wohl nur einem gehören. Dennoch hob ich meinen Kopf, um mich zu vergewissern und blickte zur Küche, wo Kyrion stand und mich anlächelte.



Ich erwiderte sein Lächeln: „Ich wünsche dir auch einen guten Morgen, Kyrion. Du kennst mich doch, geschlafen wie ein Stein.“ Ich schaute kurz an ihm vorbei durch die großen Fenster. „Ein wunderschöner Morgen, nicht wahr? Es wird immer wärmer draußen.“



Er nickte eifrig: „Der Frühling ist endlich da. Eine großartige Zeit, wenn ihr mich fragt. Ich liebe es, wenn alles blüht und wächst.“ Kyrion warf einen kurzen Blick nach draußen, als er sich dann an uns alle wandte. „Apropos Frühling, ich denke, dass wir etwas besprechen müssen.“ Nun horchten auch Jake und Logan auf.



Jakes Stimmung hatte sich schlagartig gehoben: „Ist es das, was ich denke?“



„In der Tat, aber ich möchte noch auf die anderen beiden warten, bis ich näher darauf eingehe. Es gibt noch einiges zu besprechen.“ Wenn ich so darüber nachdenke, ist die Zeit wie im Fluge vergangen. Trotz des harten Trainings hatten wir eine Menge Spaß.



In diesem Moment betrat Chris den Raum: „Guten Morgen allerseits.“ Wir vier drehten uns in Richtung Tür, als er in das Esszimmer trat und sich an den Tisch setzte. „Wie ich es hasse, so früh aufzustehen. Können wir denn nicht einmal ausschlafen? Nur einmal nach so vielen Wochen? Ist das denn zu viel verlangt?“ Christopher schien nicht so gut in den Tag gestartet zu sein, wie sonst eigentlich immer.



Logan nutzte diese Gelegenheit sofort: „Hör auf zu jammern! Wirst du jetzt auch schon zu so einem Morgenmuffel wie Rachel?“



„Das habe ich gehört.“ Er zuckte kurz zusammen, als die noch völlig verschlafene Rachel wie aufs Stichwort ins Zimmer kam. Ihre Erscheinung zauberte wie jeden Morgen ein Lächeln auf die Gesichter von uns allen. Völlig zerzaust blickte sie mit nur halb geöffneten Augen zu mir rüber und ich grinste sie verstohlen an.



Auch Kyrion hatte ein Lächeln im Gesicht: „Ich frage wohl besser nicht nach, wie du geschlafen hast.“



Rachel setzte sich an den Tisch und stützte ihren Kopf: „Am Schlaf liegt es nicht. Das Aufstehen macht mir eher zu schaffen.“ Sie schaute noch einmal in all unsere schmunzelnden Gesichter. „Ist es wirklich so schlimm?“ Kurz fasste sie sich prüfend an die Haare und versuchte, einen Teil der blonden Mähne etwas in Form zu bringen, vergeblich. Als sie dann schließlich auch einsah, dass das nur wenig Wirkung zeigte, zuckte sie mit den Schultern und griff nach der Kaffeekanne. Wir anderen widmeten uns auch wieder dem Frühstück.



Nur Jake sah neugierig zu Kyrion: „Wir sind vollzählig.“ Ich horchte auf. „Was gibt es denn so Wichtiges, mein Freund?“ Nun schien auch bei den drei anderen das Frühstück nebensächlich zu werden und alle Blicke waren auf Kyrion gerichtet.



Dieser kam ein paar Schritte näher und setzte sich zu uns an den Tisch: „Nun ja, ihr könnt euch vermutlich schon denken, worum es geht. Ich habe gestern abends den Zugang zum Portal geprüft.“



Neugierig fragte ich nach: „Ist die Eisschicht endlich geschmolzen? Können wir die Höhle betreten?“



Kyrion nickte: „Ja, meine Freunde. Das Warten hat ein Ende.“ In diesem Moment wusste ich kaum, wie ich reagieren sollte. Auch die anderen waren gebannt.



Doch plötzlich sprang Christopher von seinem Sessel auf: „Wird auch langsam Zeit! Dann können wir endlich nach den Amuletten suchen!“ Voller Enthusiasmus schaute er in unsere fröhlichen Gesichter. Sogar Rachel schien nun endlich wach zu sein und grinste bis über beide Ohren.



Stolz blickte Kyrion in die Runde: „Wie schnell doch die Zeit vergangen ist. Vor einigen Monaten seid ihr noch als unerfahrene Wölfe zu mir gekommen, die nicht wussten, was ihre Aufgabe in dieser Welt sein würde, und nun? Ich bin stolz auf euch.“



Wir haben viel geschafft. In den letzten Monaten ist kein Tag vergangen, an dem wir nicht trainiert oder gelernt haben. Jeder hat sich angestrengt und sein Bestes gegeben. Das Ergebnis sahen wir nun vor uns in den Gesichtern eines jeden, der am heutigen Morgen am Tisch saß. Es wurde Zeit zu zeigen, dass sich die harte Arbeit gelohnt hatte.



Jake erhob seine Stimme: „Ich denke, dass ich für das ganze Rudel sprechen kann, wenn ich nun sage: wir sind bereit. Es gibt niemanden, der besser für diese Aufgabe gewappnet ist. Wir haben vieles erreicht, das es nun umzusetzen gilt. Mittlerweile sind wir schnellere Jäger, bessere Kämpfer und unsere Ausdauer ist schier unermüdlich. Wir haben viel über unsere Gegner gelernt und wissen, womit wir es zu tun haben. Es ist Zeit.“



„Gut, ihr werdet heute noch aufbrechen.“ Diese Ansage kam für uns alle dann doch etwas überraschend. „Es gibt nichts mehr, was ich euch noch beibringen könnte. Außerdem haben eure Gegner ohnehin einen Vorsprung, den es aufzuholen gilt. Ich gebe euch noch ein paar Stunden, um euch auszuruhen und euch auf die Reise vorzubereiten. Ruft euch alles nochmal in Erinnerung. Heute Mittag macht ihr euch auf den Weg.“ Stille. Es gab nichts mehr zu sagen. Alles stand fest. So lange hatten wir auf diesen Tag gewartet und nun war er endlich da. Schluss mit dem Training, jetzt wurde es ernst.




Nachdem ich mich in mein Zimmer begeben hatte, machte ich es mir auf dem Bett gemütlich, um nochmal alles durchzugehen. Dabei war ich eingeschlafen und als ich aufwachte, war es kurz nach elf. Leider wusste ich nicht, was ich mit der restlichen Zeit noch anfangen sollte.



Plötzlich klopfte es an meiner Tür: „Jess?“ Als ich sie öffnete, blickte ich in zwei vertraute Augen. „Störe ich?“ Es war Jake. Noch hatte ich keine Ahnung, was er von mir wollte.



Ich schüttelte den Kopf: „Komm ruhig rein.“ Er betrat das Zimmer und setzte sich aufs Bett, während ich die Tür hinter ihm schloss. „Was ist denn los? Ist etwas passiert?“



„Nein, eigentlich nicht.“ Jake lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lag nun quer über dem Bett. „Ich wollte nur nicht länger warten. Langsam werde ich ungeduldig.“ Es tat gut zu wissen, dass es nicht nur mir so ging.



Also lächelte ich ihn an: „Da bist du nicht der Einzige. Ich bin gespannt, was uns da draußen erwartet.“



Jake schaute kurz auf: „Bist du nervös?“



„Gute Frage.“ Ich setzte mich neben ihn und starrte an die Decke. „Eigentlich nicht, aber die Schattenwölfe bereiten mir Sorgen. Früher oder später werden wir ihnen über den Weg laufen und das macht mir Angst.“



„Ach was.“ Jake richtete sich mit einem Lächeln auf. „Vor denen brauchst du dich nicht zu fürchten. Die sind doch gar nichts, verglichen mit unserem Rudel. Wir passen aufeinander auf, versprochen.“ Er schien sich dieser Sache sicher zu sein, vielleicht sogar etwas zu sicher. Wir dürfen nicht vergessen, was uns Kyrion über die Schattenwölfe erzählt hat.

 



Sie sind stärker, schneller und vor allem hinterlistiger als andere Wölfe. Nebenbei kennen sie keine Furcht und verstehen es, ihrem Gegner Angst einzujagen. Außerdem sind sie zu sechst, während wir nur fünf sind. Das alles spricht nicht gerade für einen guten Kampfausgang, aber das ist es eigentlich nicht, was ich gemeint hatte.



„Du wirst wohl recht haben.“ Diese halbherzige Antwort ließ Jake aufhorchen. Er wollte mir in die Augen sehen, aber ich blickte zu Boden.



„Du machst dir keine Sorgen wegen eines Kampfes, nicht wahr? Dir liegt doch etwas anderes auf dem Herzen.“ Jake schien schon zu wissen, worum es mir ging. „Glaubst du, ich habe nicht mitbekommen, wie sehr dich das beschäftigt? In den letzten Monaten warst du stets in Gedanken versunken, sobald es um die Schattenwölfe ging, und ich habe schon eine Ahnung, warum.“



Ich zögerte: „Was ist, wenn die Begegnung mit den Schattenwölfen nicht gut für mich ist? Sie werden bestimmt merken, dass ich zum Teil eine von ihnen bin. Wie werden sie dann wohl reagieren? Und vor allem, wie werde ich reagieren?“ Diese Frage beschäftigt mich schon sehr lange. Welche Wirkung werden die Schattenwölfe auf mich haben? Ich weiß genau, dass ich etwas Dunkles in mir trage und es wird mit der Zeit immer heftiger versuchen, aus mir herauszubrechen. Wenn ich der puren Bösartigkeit von sechs Schattenwölfen ausgesetzt bin, kann ich dann meine eigenen dunklen Gedanken noch in Zaum halten?



Jake sah mir besorgt in die Augen: „Jess? Muss ich mir Sorgen machen?“



Schuldbewusst schüttelte ich den Kopf: „Ich weiß es nicht.“ Die Gefahr besteht, dass ich mich selbst verliere. Seitdem ich erfahren habe, was ich bin, habe ich oft Angst vor mir selbst, vor meinem Inneren. Ich spüre, dass etwas ausbrechen möchte und es erfordert viel mentale Stärke, um das zurückzuhalten. In dieser Hinsicht bin ich umso froher, dass ich Jake bei mir habe. Sei es die Tatsache, dass er mein bester Freund ist, oder die, dass er ein Lichtwolf ist, in seiner Nähe ist die Dunkelheit so gut wie verschwunden. Hoffentlich bleibt das auch so.



Jake stand auf und schaute aus dem Fenster: „Hat dir Kyrion nicht gezeigt, wie du dich in Zaum halten kannst? Ihr hattet doch ein spezielles Training, nicht wahr?“ Das überraschte mich. Immerhin wollte ich nicht, dass er es den anderen erzählt. Es wäre mir unangenehm gewesen, wenn sie wüssten, dass ich eine tickende Zeitbombe bin. Es stellte sich also die Frage: warum wusste Jake davon?



Ich wurde neugierig: „Woher weißt du das? Hat Kyrion dir davon erzählt? Wissen es die anderen auch?“ Mir ist zwar mittlerweile klar, dass sie hinter mir stehen, dennoch würde es dem Zusammenhalt der Gruppe schaden, dachte ich.



Jake schüttelte aber den Kopf: „Keine Sorge, die anderen wissen nichts davon. Ich habe es bereits kurz nach dir von Kyrion erfahren und das aus einem guten Grund. Schließlich bin ich der Anführer dieses Rudels. Ich möchte über alles und jeden Bescheid wissen. Meine Aufgabe ist es, das Rudel zusammenzuhalten.“ Das war wieder mal typisch Jake. Er nimmt seine Rolle als Leitwolf nach wie vor ernst.



Trotzdem vermutete ich, dass noch mehr dahintersteckte: „Gibt es noch etwas? Das ist doch nicht der einzige Grund, nicht wahr?“



Mit einem Lächeln im Gesicht sah er zu mir: „Dir kann man wirklich nichts vormachen, oder Jess?“ Dann wurde er ernst. „Dass ich euer Anführer bin, ist eigentlich nur nebensächlich. Der wahre Grund dafür, warum ich von deinem Training weiß, ist, dass ich selbst auch eines gemacht habe.“ Diese Worte ergaben für mich keinen Sinn. Immerhin war ich die Schattenwölfin im Rudel und nicht Jake.



Also wollte ich mehr wissen: „Worum ging es dabei?“



„Ich bin ein Lichtwolf und kann die Dunkelheit in dir besser in Zaum halten als jeder andere.“ Langsam begriff ich, worauf er hinauswollte. „Kyrion hat mir gezeigt, wie ich im Notfall reagieren sollte.“



Ich nickte nachdenklich: „Großartig.“ Ich muss zugeben, dass ich das mit etwas mehr Enthusiasmus hätte sagen können, aber mir war in diesem Moment ehrlich gesagt nicht danach zumute. Es war merkwürdig, dass sogar Jake schon Sicherheitsvorkehrungen für den Notfall treffen musste. Ich fühlte mich immer mehr wie ein Monster, das eingesperrt werden sollte.



Wieder ließ sich Jake zurück auf das Bett fallen: „Wir schaffen das schon. Und damit meine ich nicht nur das mit dir, sondern alles. Ich bin mir sicher, dass wir die uns auferlegte Aufgabe meistern werden.“



Nun legte auch ich mich neben Jake: „Wäre nur schön, wenn wir langsam erfahren würden, was wir wirklich zu tun haben. Mir ist schon klar, dass wir die sieben Amulette vor den Schattenwölfen finden und sicher verwahren müssen, aber haben wir überhaupt eine Ahnung, wo sie sich befinden?“



Jake zuckte mit den Schultern: „Ich denke, dass uns Kyrion kurz vor unserem Aufbruch den ersten Anhaltspunkt geben wird. Dann werden wir wohl oder übel selbst danach suchen müssen. Wut, Hass, Furcht, Zweifel, Trauer, Einsamkeit und Eifersucht. Diese sieben Amulette gilt es zu finden und das werden wir.“




Es war schon merkwürdig, ein letztes Mal vor dem Haus zu stehen. In den letzten Monaten ist dieses wie ein neues Zuhause für mich geworden und nun ließ ich es hinter mir. Das machte mich traurig. Außerdem stieg die Unsicherheit in mir hoch. Ob ich diesen Ort jemals wiedersehen würde? Es ist nicht einmal sicher, ob jeder von uns die Reise übersteht. Das gilt auch für mich.



„Ich werde diesen Ort vermissen.“ Diese Aussage von Logan bestätigte meine Vermutung. Den anderen ging es ähnlich, jetzt da es ernst wurde.



Chris stimmte ihm zu: „Ich auch. Vom trauten Heim direkt in die Wildnis. Ich vermisse mein warmes Bett jetzt schon.“



Rachel setzte fort: „Und die Dusche und das gute Essen erst!“ Ihre Worte trafen ins Schwarze. Das erste Mal seit Langem verspürte ich Heimweh und das, obwohl wir noch nicht einmal weggegangen waren.



„Ihr werdet doch wohl nicht jetzt schon zu jammern beginnen! Kommt schon, Leute! Wir sind noch nicht einmal richtig aufgebrochen!“ Jake hatte recht. Wir waren tatsächlich etwas bequem geworden.



Somit unterstützte ich ihn: „Irgendwie freue ich mich ja schon auf unsere Reise. Das wird wie früher, bevor wir hierhergekommen sind.“ Verwirrte Blicke schweiften zu mir. Nur Jake und Kyrion lächelten mich stolz an.



Die Reise zu Kyrion war im Nachhinein betrachtet gar nicht so schlimm, im Gegenteil. Natürlich haben wir auch schlechte Erfahrungen gemacht, aber alles in allem haben wir viel dazugelernt. Jetzt sind wir eine Einheit, die fest zusammenhält. Da kann uns doch gar nichts Schlechtes widerfahren, oder?



Kyrion verkürzte die Sache: „Wir sollten uns langsam auf den Weg machen. Je länger wir warten, desto schwerer wird euch der Abschied fallen.“ Sein Unterton hatte mir bei diesen Worten gar nicht gefallen. Kyrion wirkte traurig. So kannte ich ihn gar nicht. Ich dachte mir zuerst noch, dass das damit zu tun haben könnte, dass wir ihn nun verlassen sollten, aber dieser Gedanke sollte sich später als falsch herausstellen.



„Na dann los!“ Jake schien das nicht aufgefallen zu sein. Sein Startkommando klang so fröhlich wie eh und je. Mit einer weniger fröhlichen Miene ging Kyrion voraus. Jake, Chris, Rachel und Logan folgten ihm. Ich warf einen letzten Blick auf das Haus, das uns Schutz und Geborgenheit geboten hatte. So begann ich zu hoffen, dass ich das alles noch einmal wiedersehen würde.



Plötzlich rief mich Rachel zu sich: „Komm schon, Jessica! Die warten nicht!“ Ohne lange zu zögern lief ich ihr entgegen und wir beide schlossen uns der Gruppe an. Wir folgten Kyrion, der uns zum Portal führte. Ich fragte mich, wie das Portal wohl aussehen würde und vor allem, wie es funktionieren sollte? Außerdem brannte ich darauf zu erfahren, wo unsere Reise nun tatsächlich hinging. So viele Fragen und keine Antworten. Da musste Kyrion Abhilfe schaffen.



Ich beschleunigte meinen Schritt etwas, bis ich neben ihm herlief: „Darf ich dich etwas fragen?“



Freundlich wie immer gab er mir eine Antwort: „Natürlich, Jessica. Du kannst mich alles fragen, was du willst.“



„Wohin wird uns dieses Portal bringen? Du hast nie erwähnt, wo wir eigentlich anfangen sollen zu suchen. Hast du es selbst auch schon benutzt und ist es wirklich sicher?“ Ich gebe zu, ich klang in diesem Moment unheimlich nervös, aber auch aus gutem Grund.



Kyrion schien das aufgefallen zu sein und er lächelte mich verständnisvoll an: „Du sollst deine Antworten bekommen.“ Als ich zurückblickte, sah ich, wie auch die anderen näherkamen und aufmerksam wurden. „Tut mir leid, dass ich euch so lange im Unklaren ließ, aber ich wollte euch nicht von Anfang an alles preisgeben. Immerhin hattet ihr ein hartes Training vor euch und ich wollte, dass ihr euch nur darauf konzentriert. Die Portale werden durch die Magie unserer Vorfahren angetrieben. Sie schaffen eine Lücke zwischen Raum und Zeit.“



Logan war skeptisch: „Klingt nicht sehr vielversprechend. Wir sollten kein unnötiges Risiko eingehen.“



Doch Kyrion schien unbesorgt zu sein: „Keine Angst, ich selbst bin schon oft damit gereist. Für einen alten Mann wie mich ist es von Vorteil, wenn man nicht immer über den Berg hinweg bis in die nächste Stadt muss, um die Vorräte für den Winter zu besorgen. Bisher hat es immer einwandfrei funktioniert.“



Nun mischte sich Jake ein: „Ist ja alles schön und gut, aber die wichtigste Frage hast du uns noch nicht beantwortet. Wo wird es uns hinbringen?“



Ein selbstsicheres Grinsen folgte: „Zum ersten Amulett natürlich. Ich selbst habe es vor langer Zeit versteckt. Es ist an einem sicheren Ort, der nur von Wölfen betreten werden kann.“



Nun wurde auch Rachel ungeduldig: „Hast du noch genauere Informationen für uns? Was ist das für ein Ort?“



Kyrion erhob ehrwürdig seine Stimme: „Ihr begebt euch in die Tiefen des Kristallwaldes. Die Bäume bestehen aus Kristallen verschiedenster Formen. Wenn Licht darauf scheint, erstrahlt er heller als die Sonne selbst. Ein fantastischer Anblick, glaubt mir.“



Logan meldete sich erneut zu Wort: „Ist es nicht etwas leichtsinnig, eines der wichtigsten Relikte unserer Rasse einfach unbewacht zu lassen?“



„Das habe ich nie behauptet. Ich habe damals Vorkehrungen getroffen und den Herrscher des Waldes damit beauftragt, das Amulett zu verwahren. Begebt euch in die Tiefen des Waldes, trefft den Herrscher dieses Gebiets und erweist euch als würdig, das Amulett zu besitzen.“ Unsichere Blicke unsererseits folgten. „Macht euch keine Sorgen, ihr werdet es schaffen, da bin ich mir sicher.“



„Da ist die Höhle!“ Jake deutete in die Ferne.



Nun kehrte die Freude in Christophers Gesicht zurück: „Tatsächlich? Ist sie das?“



Wir alle schauten erwartungsvoll zu Kyrion, der etwas geistesabwesend nickte: „Ja, das ist sie. In dieser Höhle befindet sich das Portal.“ Etwas stimmte nicht. Er klang anders als sonst. Außerdem ging er seit einer Weile immer langsamer. Es wirkte fast so, als ob er sich anstrengen müsste, um zur Höhle zu gelangen.



Die anderen schienen das nicht bemerkt zu haben. Sie beschleunigten ihre Schritte und gingen erwartungsvoll auf die Höhle zu. Kyrion blieb zurück. Ich beschloss, bei ihm zu bleiben. Plötzlich gab sein linkes Bein nach und er knickte ein.



Ich konnte ihn gerade noch auffangen und stützte ihn: „Alles in Ordnung mit dir? Du siehst mitgenommen aus.“ So langsam machte ich mir Sorgen.



Er nahm meine Hilfe an und stand bald wieder selbstständig auf beiden Beinen: „Es ist alles gut.“



Ich ließ aber nicht locker: „Du bist ganz blass. Muss ich mir Sorgen machen?“



Nun hatte er wieder das für ihn so typische, gütige Lächeln im Gesicht: „Du bist etwas ganz Besonderes, Jessica. So eine liebenswerte und hilfsbereite Wölfin wie dich habe ich selten getroffen.“ Ich lächelte. „Die Lichtwölfin in dir ist der reinste Sonnenschein, meine Liebe. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich das jemals ändern könnte. Vergiss das nie.“



Seine Worte rührten mich zutiefst. Trotzdem wusste ich nicht recht, was ich davon halten sollte. Ein Teil von mir spürte bereits, dass seine Worte die letzten waren, die er an mich richten würde.



„Nun kommt schon! Wir wollen weiter!“ Rachel winkte uns zu sich.



Kyrion ging wieder etwas schneller: „Wir sind gleich bei euch! Keine Hektik!“ Er senkte die Stimme und wendete sich an mich. „Du brauchst mich nicht mehr zu stützen, Jessica. Ich kann allein laufen.“ Mit einem Nicken folgte ich seiner Anweisung und wir waren bald bei den anderen, die schon ungeduldig vor dem Höhleneingang warteten.

 



„Was hat denn so lange gedauert, ihr zwei? Alles klar bei euch?“ Anscheinend war auch Logan mehr als bereit für den Aufbruch. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, dass wir Kyrion ganz allein hier zurücklassen sollten, nachdem er fast zusammengebrochen wäre.



Jake musterte ihn: „Du bist ganz blass, mein Freund. Geht es dir gut, Kyrion? Irgendwas stimmt doch nicht mit dir.“



Er wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn und grinste gezwungen: „Gut, ich sehe, dass ich es euch nicht mehr länger verheimlichen kann. Bis jetzt war ich mir nicht sicher, ob ich euch davon erzählen sollte, oder euch einfach im Unwissen gehen lasse. Dies ist jetzt wohl nicht mehr möglich.“ Ich verstand rein gar nichts. Er klang so angestrengt. Meine Sorge wurde immer größer.



Ähnlich besorgt trat Rachel einen Schritt näher an ihn heran: „Was kannst du uns nicht mehr verheimlichen? Kyrion, was hat das alles hier auf sich?“



Unser Freund atmete heftig: „Es tut mir leid, dass ich es euch nicht schon früher gesagt habe, aber ich hielt es für besser so. Wie ihr wisst, bin ich nun schon sehr lange am Leben, zu lange, wenn ihr mich fragt. Meine Zeit ist vorbei.“



Schockiert fragte ich nach: „Wie meinst du das? Willst du etwa sagen?“



Gütig sah er uns der Reihe nach in die Augen: „Es muss so sein, meine Freunde. Jedes Leben endet, das ist nun mal so. Ich habe euch doch damals schon gesagt, dass mich all die Jahre nur ein Ziel am Leben erhielt. Meine Aufgabe war es, euch auf eure Reise vorzubereiten, euch zu unterrichten und zu trainieren. Diese Tat ist nun vollbracht.“ Er wusste es schon die ganze Zeit. Seitdem wir bei ihm angekommen sind, hat er uns so viel beigebracht und immer hatte er den Gedanken im Hinterkopf, dass mit unserem Aufbruch sein Leben enden würde. Wie konnte er uns das nur all die Zeit verschweigen?



Chris wollte es nicht wahrhaben: „Du darfst nicht sterben! Ohne dich schaffen wir das alles nicht!“



Er schüttelte den Kopf: „Was redest du denn da? Ich habe euch alles beigebracht, was ich weiß. Mehr kann euch selbst ich nicht zeigen. Ihr seid bestens vorbereitet und habt einander. Als Rudel werdet ihr es schaffen.“



Nun mischte sich auch Rachel ein: „Aber es geht nicht nur darum, dass wir deine Hilfe brauchen könnten. Du bist unser Freund, unser Mentor. Ich will nicht, dass du einfach so gehst!“ Sie sprach mir aus der Seele. Kyrion war die Person, die uns alle näher zusammengebracht hatte. Durch ihn als gemeinsamen Freund und Lehrer hatten wir stets eine enge Verbindung zueinander. Er hat uns Halt gegeben, wenn wir am Verzweifeln waren. Wenn wir gedacht haben, dass wir all das niemals schaffen würden, hat er uns wieder aufgerichtet und Mut gemacht. Kyrion war einfach immer für uns da.



Es folgten die letzten Worte Kyrions an uns: „Meine Freunde.“ Er klang immer schwächer. „Es tut mir leid, dass ich euch verlassen muss. Ich habe euch in unserer gemeinsamen Zeit sehr liebgewonnen, glaubt mir. Kein Abschied im Leben ist leicht, doch trotzdem werdet ihr darüber hinwegkommen. Meine Zeit ist gekommen. Ich gehe zu meinen Freunden, die ich schon seit vielen, vielen Jahren nicht mehr gesehen habe. Doch seid euch gewiss, ich werde über euch wachen. Das schwöre ich.“ Sein Gesicht wurde immer blasser.



Logan wandte sich ab: „Vielen Dank für alles. Du hast deine Sache sehr gut gemacht.“



Auch Rachel kämpfte mit den Tränen: „Wir werden dich nie vergessen.“



Jakes Blick blieb entschlossen: „Keine Sorge, ich halte das Rudel zusammen. Ich werde sie beschützen.“ Mit einem erleichterten Nicken stimmte ihm Kyrion zu.



So blieben die letzten Worte an mir hängen: „Wir werden dich nicht enttäuschen. Das Mysterium der Wölfe liegt in sicheren Händen. Lebe wohl, mein Freund.“ Mir kullerte eine Träne über die Wange, als sich Kyrion mit einem Lächeln im Gesicht vor unseren Augen in Luft auflöste.



Chris stand kopfschüttelnd da: „Weg, einfach so. Er ist einfach verschwunden.“



Logan legte die Hand auf seine Schulter: „Wir sollten nicht unnötig um ihn trauern, das hätte er bestimmt nicht gewollt. Außerdem ist er mit einem Lächeln im Gesicht gegangen. Kyrion war glücklich und findet nun endlich Ruhe.“ Logan hatte vollkommen recht. Nach all den Jahren hat Kyrion seine Rolle auf dieser Welt erfüllt.



Jake richtete das Wort an uns: „Geh