Heliosphere 2265 - Band 1: Das dunkle Fragment

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Aus der Reihe: Heliosphere 2265 #1
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Heliosphere 2265 - Band 1: Das dunkle Fragment
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Table of Contents

Heliosphere 2265

Raumstation SOL-22, Im Orbit um Neptun, 01. November 2265

Interlink-Kreuzer HYPERION, Orbitalwerft Mars I, 01. November 2265

IL HYPERION, 160 Lichtjahre von der Erde entfernt, 10. November 2265

IL HYPERION, Bereitschaftsraum des Captains, 10. November 2265

IL HYPERION, Beim Einflug ins Elnath-System (Beta Tauri), 12. November 2265

Vier Stunden später

IL HYPERION, Elnath-System, Orbit um Elnath III, 26. November 2265

Parlidenkreuzer PAL ANTAROK, Elnath-System, 24. November 2265

IL HYPERION, Elnath-System, Auf Angriffsvektor zur PAL ANTAROK, 24. November 2265

PAL ANTAROK, Kommandozentrum

IL HYPERION, Im Interlink-Flug auf dem Weg zur Erde, 29. November 2265

12. Dezember 2265, Raumstation SOL-22, Büro von Admiral Sjöberg

12. Dezember 2265, Raumstation SOL-22, Büro von Admiral Michalew

13. Dezember 2265, Leichter Kreuzer PROTECTOR, Frachtraum I

Vorschau

Seriennews

Impressum

Heliosphere 2265

Band 1

»Das dunkle Fragment«

von Andreas Suchanek


Raumstation SOL-22, Im Orbit um Neptun, 01. November 2265

»Nehmen Sie Platz, Captain Cross.« Admiral Sjöberg deutete auf den Konturensessel vor seinem Schreibtisch.

Jayden versuchte, seiner Aufregung Herr zu werden. »Danke, Sir.« Er wollte souverän wirken, was eindeutig misslang. Seine Hände waren schweißnass. Und zitterte da nicht seine linke Hand?

Die Ereignisse hatten ihn komplett überrollt.

»Ihre ärztlichen Befunde sehen ausgezeichnet aus, auch wenn wir Sie leider zu früh von Kassiopeia I zurückholen mussten.« Sjöberg bedachte Jaydens rechten Handrücken mit einem durchdringenden Blick. »Die Dermalregeneration konnte nicht beendet werden, wie ich sehe.«

Jayden strich über die Brandnarben. Das einzige Überbleibsel jenes Kampfes, der 260 Leben gekostet hatte. Erneut glaubte er, den Rauch von verschmorten Uniformen, verbrannter Haut und ionisiertes Gas in der Luft zu riechen. In seinem Geist sah er Lieutenant Patricia Falsi, die, von einem scharfkantigen Trümmerstück getroffen, zu Boden ging. Während die junge Frau in einer Lache ihres eigenen Blutes ertrank, zerfetzte die Explosion einer Konsole Captain Hekuns Gesicht. Kurz vor seinem Ruhestand kostete ihn eine Handvoll Piratenschiffe des Eriin-Bundes das Leben.

Jayden hatte das Kommando über die DEFENDER an sich gerissen und die Schiffe des Eriin-Bundes in einem blutigen Gemetzel besiegt. Doch zu welchem Preis? Es gab nur vierzig Überlebende! Von den Senioroffizieren schaffte es neben ihm nur Lieutenant Guevara – schwer traumatisiert.

Doch anstatt Jayden für den Verlust eines Schiffes und so vieler Leben vor ein Militärgericht zu stellen, hefteten sie ihm einen Orden an die Brust, klopften ihm auf die Schulter und beförderten ihn zum Captain. Noch während er in einem Heiltank auf Kassiopeia regenerierte, erhielt er das Kommando über die HYPERION.

Mit einem Kopfschütteln vertrieb er die Erinnerung. »Mir geht es gut, Sir. Aber Ihre Nachricht hat mich überrascht. Bis zum ersten Auslaufen der HYPERION sollten noch Wochen vergehen.«

»Wir mussten unseren Zeitplan anpassen. Ich fürchte, die abschließende Regeneration Ihrer Haut muss von Ihrem Schiffsarzt durchgeführt werden.« Admiral Sjöberg atmete schwer aus. »Wir vermissen die PROTECTOR.«

»Captain Bowmans Schiff?«

Sein Gegenüber nickte.

Jayden kannte Angelica Bowman. Sie war ein hervorragender Captain: nicht zu waghalsig, aber auch keine sture Paragrafenreiterin.

»Sie befand sich auf einer Erkundungsmission am Rande des Parliden-Sektors«, erklärte der Admiral.

Jayden sog scharf die Luft ein. »Sie vermuten eine Attacke von deren Seite? Das könnte einen zweiten Krieg verursachen.«

Der Krieg gegen das Volk der Parliden lag fast ein Jahrhundert zurück. Von 2173 bis 2177, ganze vier Jahre lang, hatten die Aliens versucht, die Solare Union ihrem Imperium einzuverleiben. Doch während dieser gesamten Zeit war es nicht gelungen, auch nur einen Parliden lebend oder tot gefangen zu nehmen.

Schiffe, die kampfunfähig geschossen wurden, zerstörten sich selbst. Tote Parliden zerfielen zu Nanostaub. Bis heute wusste die Menschheit fast nichts über sie. Erst im Verlauf der Friedensgespräche nach dem Krieg war es zu ersten persönlichen Kontakten zwischen Botschaftern beider Seiten gekommen.

Sjöberg nickte. »Und aus genau diesem Grund muss diese Sache schnell aufgeklärt werden. Die HYPERION ist bisher das einzige Schiff mit Interlink-Antrieb. Damit kann sie das fragliche Gebiet innerhalb kürzester Zeit erreichen. Ein Phasenraumflug würde zu lange dauern. Erschwerend kommt hinzu, dass alle zur Verfügung stehenden Schiffe nur Phase-2-fähig sind.«

Die Sache gefiel Jayden nicht im Geringsten. Er kannte die HYPERION bisher nur aus Berichten und Datenblättern von technischen Spezifikationen. Er sollte diesen wichtigen Auftrag mit einer Crew durchführen, die er bisher noch nicht kannte, die sich noch nicht aufeinander eingespielt hatte. Leider hatte er einmal mehr keine Wahl. Wenn ein anderes Schiff Hilfe benötigte, stand das weitere Vorgehen außer Frage. »Was wissen wir über das Verschwinden der PROTECTOR?«

Sjöberg verzog das Gesicht. »Nicht viel. Bowman befehligt das Schiff seit mittlerweile zwei Jahren. Es ist ein Leichter Kreuzer der ersten Generation. Die Aufrüstung stand kurz bevor. Der letzte bekannte Aufenthaltsort und ein Auszug des Logbuchs wurden in Ihren persönlichen Speicher überspielt.«

»Dann sollte ich wohl aufbrechen.«

»Da ist noch etwas, Captain.«

Die Art, wie Sjöberg das Wort Captain betonte, verhieß schlechte Neuigkeiten. Der Admiral verzog sein Gesicht, strich kurz über seinen Vollbart und streckte den Rücken kerzengerade durch.

»Sir?«

»Sie können sich zweifellos vorstellen, welch ein Gerangel es bei der Verteilung der Posten auf der HYPERION gab. Innerhalb der Admiralität kam es zu einem heftigen Disput über die Besetzung des Kommandobrückenpersonals.«

Jayden nickte.

»Vergessen Sie das nicht.« Sjöberg biss sich auf die Unterlippe. »Ihre Ernennung war nicht das Problem. Was kann schon gegen einen Captain eingewendet werden, der von der Präsidentin persönlich den Tapferkeitsorden der Solaren Union umgehängt bekommen hat?!«

Ich habe nicht darum gebeten, dachte Jayden. Es fiel ihm schwer, den Ausführungen des Admirals zu folgen, ohne diesem deutlich zu sagen, was er von alledem hielt.

»Abgesehen von Ihrem Schiffspsychologen, Commander Tauser, wurden all Ihre spezifischen Personalanforderungen abgelehnt.«

Jayden gelang es nur mit Mühe, Fassung zu bewahren. Noch während der Rekonvaleszenz auf Kassiopeia hatte er eine Liste der Führungsoffiziere zusammengestellt, die er für sein neues Kommando haben wollte. Ab und an kam es vor, dass einer solchen Anforderung nicht nachgegeben werden konnte, weil die entsprechenden Offiziere auf ihrem Posten benötigt wurden. Doch er hatte sich informiert. Bei seinen Anforderungen war das nicht der Fall gewesen. »Alle!?«

»Ich fürchte, so ist es. Es ist mir gelungen, Ihnen eine solide Crew zusammenzustellen, was mich eine Menge Gefallen gekostet hat. Bedenken Sie, dass alle politischen Fraktionen zufriedengestellt werden mussten. Mehr war einfach nicht drin.«

In diesen Momenten verfluchte Jayden lautlos die verkrusteten Strukturen der Admiralität. Nichts ging mehr ohne Gefallen, persönliche Beziehungen und Verbindungen in die Kreise der großen Firmendynastien.

»Ich verstehe, Sir. Darf ich fragen, wer mein Erster Offizier ist?«

»Commander Noriko Ishida.«

Jayden gelang es gerade noch, nicht impulsiv die Faust auf den Tisch zu schlagen. »Die Ishida?«

»Lassen Sie sich nicht von Vorurteilen leiten, Captain. Commander Ishida wurde von mir persönlich als I.O. der HYPERION ausgewählt. Mir ist bewusst, dass innerhalb der Flotte allerlei Gerüchte über die Ereignisse kursieren, die zum Verlust der INCEPTION geführt haben. Vertrauen Sie meinem Urteil: Nichts davon trifft zu. Geben Sie ihr eine Chance.« Der Tonfall Sjöbergs machte klar, dass er keine Bitte aussprach.

 

Jayden nickte, wenn auch gezwungen. Eigentlich sollte er über solchen Vorurteilen stehen. Als Dynastiespross hatte er einen harten Weg in der Flotte zurückgelegt. Immer wieder hatten seine Kameraden es ihn spüren lassen, was sie in ihm sahen. Einen zweitklassigen Offizier, der es nicht verdient hatte, die Uniform zu tragen. Der nur aufgrund persönlicher Gefallen und Vetternwirtschaft aufgenommen worden war. Immer wenn die Presse über Einsparungen oder Massenentlassungen bei einem der großen Familienkonzerne berichtete, hatten sie es ihn spüren lassen. Denn er war einer von denen. »In Ordnung.«

»Begeben Sie sich zu Orbitalpod 27. Ein Schnellshuttle fliegt Sie zur Orbitalwerft 1 im Marsorbit.«

Cross schüttelte dem Admiral die Hand, dann machte er sich auf den Weg. Sein erstes eigenes Kommando wartete auf ihn. Die Admiralität vertraute ihm ein neues Schiff an, eine neue Besatzung, vertraute ihm das Leben dieser Männer und Frauen an. Er sollte sie befehligen und beschützen.

Im Geist sah er zum x-ten Mal das Konterfei von Captain Hekun vor dem brennenden Wrack der DEFENDER.

*


Als das Schott hinter Captain Cross zufuhr, trat Admiral Santana Pendergast aus dem angrenzenden Holo-Konferenzraum, in dem sie das Gespräch verfolgt hatte. Björn machte sich auf eine Tirade gefasst.

Wie immer trug seine Co-Admiralin ihr braunes schulterlanges Haar zu einem Pferdeschwanz im Nacken gebunden. Die Uniform glänzte makellos, ihr Blick war eiskalt und klar. Santana Pendergast war das Paradebeispiel einer »Hart-aber-fair«-Admiralin, die Björns Meinung nach oftmals über das Ziel hinausschoss.

»Er ist der Falsche für diesen Posten«, sagte sie.

»Und das erkennen Sie nach einer einzigen Unterhaltung?«

»In der Tat.« Sie nickte. »Als Sie Cross als Captain durchsetzten, haben Sie Ihren Feinden Munition geliefert – Michalew und seine Hardliner konnten doch nicht anders, als alle übrigen Anträge abzulehnen.«

Björn gestattete sich ein wohldosiertes Grinsen. »Worauf ich mit der Mehrheit der gemäßigten Admiräle meine jeweilige Zweitwahl durchsetzen konnte.«

Pendergast sank in den Sessel vor seinem Schreibtisch. Da ihre Körperwerte im integrierten Speicher hinterlegt waren, passten sich Sitzfläche und Rückenlehne umgehend an.

»Sie wollen mir doch nicht sagen, dass es Ihr Plan war, Cross mit dieser Crew auszustatten.« Pendergast runzelte die Stirn. »Es mögen ja allesamt Spezialisten sein, Asse auf ihrem Gebiet – andernfalls hätten Sie sie niemals auf die HYPERION bekommen -, aber gleichzeitig hat nahezu jeder Mist gebaut oder eine Menge Feinde an der Backe kleben.«

»Ach, Santana, hören Sie doch auf. In jeder Crew sitzen Offiziere, die einer von uns aus politischen oder persönlichen Gründen nicht leiden kann.«

»Natürlich, aber das sind irgendwelche Schiffe. Die HYPERION ist der erste Interlink-Kreuzer der Menschheit. Wenn das erste Logbuch von Captain Cross eingeht, können Sie davon direkt ein Dutzend Kopien anfertigen, denn ich sage Ihnen, jeder Admiral wird mit einem Vergrößerungsfeld nach einer Verfehlung suchen, um ihn an die Wand zu nageln.«

»Inklusive Ihnen?«

Sie nickte. »Inklusive mir. Cross mag Heldentum bewiesen haben, als er das Kommando über die DEFENDER übernahm und Tikara II vor diesem Piratenpack gerettet hat, aber er ist und bleibt ein Anfänger. Ihn nach 199 Tagen als Commander schon zum Captain zu befördern, war ein politischer Schnellschuss. Dieses Schiff ist eine Nummer zu groß für ihn.«

»Ich für meinen Teil halte ihn für genau den richtigen Mann auf der richtigen Position.«

»Und nur aufgrund meines Vertrauens in Ihr Urteil konnten Sie ihn durchsetzen. Aber seien Sie versichert, ich werde Cross im Auge behalten.« Mit diesen Worten stand Pendergast auf. »Und sollte er einen Fehler machen, nutzt ihm auch sein Orden nichts mehr. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«

»Absolut, Santana, absolut.«

»Dann ist es ja gut.« Mit einem Nicken wandte sie sich um und verließ seinen Raum.

Björn aktivierte das Hologramm der HYPERION. Der Interlink-Kreuzer erschien als verkleinertes Abbild in einem Regen aus Pixeln nur wenige Zentimeter über seinem Schreibtisch. Es blieb zu hoffen, dass er Cross nicht überschätzte.

*

Interlink-Kreuzer HYPERION, Orbitalwerft Mars I, 01. November 2265

Jayden starrte mit offenem Mund auf den gewaltigen Körper der HYPERION. Sein Shuttle näherte sich der Orbitalwerft von oben, was ihm einen sensationellen Blick gestattete.

Das Schiff wirkte wie ein überdimensionales Schwert. Anstelle der Parierstange bildete jedoch ein abgeflachter Ring die Grenze zum Antriebssegment. Ein greifarmförmiges Gebilde ragte aus dem Ring hervor. Von ihm ausgehend hielten gerichtete Gravstrahlen den Phasenring in Position, über den der überlichtschnelle Funk und die gerichteten Laserübertragungen liefen.

Mit insgesamt 300 Metern Länge war der Interlink-Kreuzer genauso lang wie ein Schlachtkreuzer, wenn auch deutlich schlanker. Insgesamt zwölf Decks durchzogen das Schiff, unterteilt in jeweils vier Sektionen. Die 420 Mann starke Besatzung unterteilte sich in Offiziere, Crewmen, ärztlichen Stab, Marines, die interne Sicherheit und Techniker.

Das Shuttle flog eine Kurve, um in den Hangar einzufliegen. Schon einige Minuten später – Jayden hätte die Aussicht gerne länger genossen – setzte der Pilot die Maschine sanft auf und gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass er aussteigen konnte.

Eigentlich war es auch heute noch Tradition, den Captain mit einer Ehrengarde zu begrüßen, doch bei diesem Schiff schien einfach alles anders zu sein. Nur eine einzige Offizierin erwartete ihn, während ringsum Techniker herumwuselten, um letzte Feineinstellungen vorzunehmen. Hatte man sein Kommen nicht angekündigt?

Er erkannte Noriko Ishida auf den ersten Blick. Der zierliche Körperbau, die feinen asiatischen Gesichtszüge, die kerzengerade Haltung: Sie wirkte genau wie auf dem 3D-Bild in ihrer Akte, das er noch im Shuttle angesehen hatte.

Sie hob die rechte Hand zum traditionellen militärischen Gruß auf Schläfenhöhe. »Willkommen an Bord, Captain Cross. Die Admiralität hat leider versäumt, ihre Ankunft rechtzeitig bekannt zu geben.«

»Vielen Dank, Commander.« Er erwiderte die Ehrenbezeugung. »Machen Sie sich nichts daraus. Admiral Sjöberg wusste wohl, wie knapp bemessen unser Zeitplan ist. Wir werden später noch genug Zeit für Etikette haben. Wie ich sehe, wird eifrig gearbeitet. Stören wir die Leute nicht länger. Bitte bringen Sie mich direkt auf die Kommandobrücke.«

Während sie den Shuttlehangar verließen, entlud der Pilot Cross' Gepäck.

»Die Alpha-Schicht ist komplett versammelt«, sagte Ishida. »Commander Lorencia, Ihre Chefingenieurin, koordiniert die letzten Feineinstellungen des Interlink-Antriebs. Sobald wir die Freigabe erhalten, kann es losgehen.«

»Ausgezeichnet.«

In seinem Gesichtsfeld erschien ein Eingabefenster. Beinahe wäre er gestolpert. »Verdammt!« Abrupt blieb er stehen.

»Sir?« Verwirrt blickte seine I.O. ihn an. Dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. »Ich verstehe, Sie wurden also ebenfalls nicht informiert.«

»Nicht informiert?«

»Der Computer stellt eine Verbindung zu Ihrem Kommandochip her.«

Seit einigen Jahren besaß die komplette Brückencrew eines Schiffes einen solchen Chip. Auf ihm waren alle notwendigen Kommandocodes gespeichert, um auf neuralgische Schiffsfunktionen zuzugreifen.

Dem Captain und seinem I.O. war es mit diesen Codes möglich, die interne Sicherheit zu überbrücken oder die Selbstzerstörung auszulösen. Stellten die Lebenszeichensensoren in den Anzügen der Crew den Tod eines der Offiziere fest, wurden die entsprechenden Codes auf dem Chip des Nachfolgers automatisiert freigeschaltet.

Ein solcher Chip musste aber bisher bei Dienstantritt vom Chefarzt auf der Krankenstation aktiviert werden.

»Die HYPERION wurde mit dem neuen Incept-System ausgestattet. Mit den alten Systemen konnten die Codes auf den Chips der Führungsoffiziere zwar in Notfallsituationen freigeschaltet werden, bei Dienstantritt auf einem neuen Schiff war jedoch eine manuelle Übertragung der aktuellen Codes durch einen Sicherheitschip notwendig. Um diesen einzusetzen, mussten Chefarzt und Sicherheitschef anwesend sein und die Freigabe autorisieren. So zumindest bisher. Das neue System überträgt die Daten nun sofort, wenn ein Führungsoffizier sein neues Schiff betritt.« Ishida grinste ihn an. »Glauben Sie mir, ich war genauso überrascht wie Sie. Aber die Admiralität baut das neue System schon seit Monaten in die Schiffe ein. Bestätigen Sie die Anfrage der K.I., und alle Codes werden auf Ihren Chip überspielt.«

Cross befolgte den Rat seiner I.O. Der Chip projizierte eine Statusanzeige auf seine Netzhaut, die den Fortschritt der Übertragung anzeigte. Einige Sekunden später war alles vorbei.

Gemeinsam gingen sie weiter.

»Es gefiel mir schon nicht, als diese verdammten Dinger vor fünf Jahren eingeführt wurden«, sagte Cross. »Und jetzt ist sogar eine drahtlose Übertragung der Kommandocodes möglich. Was haben diese Technik-Heinis der Flotte sich dabei nur gedacht?«

»Die Argumentation für die Einführung der Chips war stichhaltig, Captain«, widersprach Ishida. »Durch die Vernetzung des Chips mit dem Hirn des jeweiligen Kommandooffiziers stehen Codes nur diesem Offizier zur Verfügung. Sie können nicht geklaut oder kopiert werden. Auch bei einer Enterung des Schiffes fallen sie dem Feind nicht in die Hände. Und bei einer Entnahme zerstört der Chip sich selbst. Die Vorschriften …«

»Ich weiß, was die Vorschriften besagen«, unterbrach er sie. Mit einem Zischen fuhren die Türen zur Seite und sie betraten den multidirektionalen Lift. Jayden berührte das Kommandobrücken-Icon auf der 3D-Touch-Oberfläche, worauf die Kabine sich auf Magnetfeldern in Bewegung setzte. »Trotzdem war mir schon immer unwohl bei dieser Sache.«

»Dann sind Sie generell kein Anhänger von technischen oder bionischen Erweiterungen?«

Der Lift kam zum Stehen. Sie betraten das Kommandodeck und hielten vor dem Schott zur Hauptbrücke an. Ein bläulich glimmender Strahl tastete sie beide ab.

»Ich will meinen Körper in seiner natürlichen Form behalten«, erwiderte er. »Aber meine Urgroßeltern waren auch noch gegen genetische Aufwertung und heute gehört das zum Alltag. Die Gesellschaft verändert sich.«

»Das tut sie. Und urplötzlich gehört man zum alten Eisen.« Ishida lächelte bitter.

Das Schott rollte zur Seite und gab den Weg ins Zentrum des Interlink-Kreuzers frei.

*

»… werden wir gemeinsam die Herausforderung meistern.«

Jayden atmete auf, als die Brückencrew applaudierte und sich alle nach und nach wieder ihren Konsolen widmeten. Er war kein guter Redner, doch diese war ihm scheinbar gelungen, obwohl er sie aus dem Stegreif gehalten hatte. Damit war zumindest das erste Eis zwischen ihm und seinen Offizieren gebrochen. In den folgenden Tagen würde er natürlich mit jedem ein ausführliches Gespräch führen. Aber einstweilen galt es, sein neues Schiff kennenzulernen.

Die Kommandobrücke glich in ihrer Form einem abgeflachten Ei. Die HYPERION besaß als eines der ersten Raumschiffe einen Holotank, genau in der Mitte der Zentrale. Das Ganze sah aus, als hätte jemand einen Quader an die Decke geklebt, an dessen unterem Ende eine Tischplatte befestigt war. Das Gegenstück stand auf dem Boden. Zwischen den beiden Platten konnte ein Feld aus gerichteten Gravitations-Ebenen aufgebaut werden, in dem die entsprechenden Pixel projiziert wurden.

Die Primärkonsolen der Senioroffiziere waren ringsherum angeordnet. Jeder von ihnen musste nur den Kopf heben, um auf den Holotank sehen zu können.

Der Kommandosessel des Captains – und damit sein neues zweites Zuhause – stand neben dem von Commander Ishida auf einem leicht erhobenen Podest gegenüber des Brückenschotts.

Wie Perlen einer Kette reihten sich zudem ringsum an der Wand die Sekundärstationen auf. Hier arbeiteten Wissenschaftler, Astrogatoren und Taktiker, um die Primärstationen mit Daten zu versorgen.

»Sir, die Orbitalwerft wünscht einen guten Flug«, meldete Lieutenant Sarah McCall von der Kommunikationskonsole. Jayden fühlte bei ihrem Anblick sofort eine Art Beschützerinstinkt aufwallen. Die junge Offizierin wirkte wie ein Hundewelpe, den man ins kalte Wasser geworfen hatte.

 

»Richten Sie meinen Dank aus«, sagte Jayden.

Während McCall in ihr Headset sprach, wandte er sich an Lieutenant Peter Task, den Navigator. »Also gut, Mister Task, bringen Sie uns raus.«

Der bullige Mann mit dem roten Stoppelhaar nickte behäbig. Nach außen wirkte es, als sei Peter Task ständig in Gedanken versunken und fände nur kurz in die Wirklichkeit zurück, um seinen Pflichten als Navigator nachzukommen.

Neben Jayden streckte seine I.O. die Beine aus und loggte sich in ihren Kommandoaccount ein. Er tat es ihr gleich und wurde prompt mit einer Flut an Nachrichten in seinem persönlichen Speicher begrüßt. Admiral Sjöberg wünschte einen guten Flug, die Raumkontrolle sendete ihren Abschlussbericht, die Sicherheit und das Technikteam meldeten den aktuellen Status. Der »Papierkram« begann bereits vor dem Start. Mit einer Wischbewegung schob er das Nachrichteninterface zur Seite und öffnete die Dateien, die die technischen Spezifikationen des Schiffes enthielten.

Die HYPERION beschleunigte und ließ den Mars weiter hinter sich. Der Interlink-Kreuzer brachte es auf 3700 m/s² und würde damit in etwa zehn Stunden 0,45 LG erreicht haben. An diesem Punkt wechselten gewöhnliche Schiffe in den Phasenraum, da der Fusionsfluss zur Energiegewinnung aus bisher ungeklärten Gründen bei dieser Geschwindigkeit zusammenbrach, worauf die Raumer nicht weiter beschleunigen konnten.

Die HYPERION würde dies als erstes reguläres Raumschiff nicht tun. Natürlich hatte es bereits Testsonden und –Raumer gegeben, doch das war einfach etwas anderes. Sie waren das erste Schiff im aktiven Dienst, das den Interlink-Antrieb einsetzte.

»Commander Ishida, kommen Sie bitte mit in meinen Bereitschaftsraum«, bat Jayden. »Commander Akoskin, Sie haben das Kommando.«

Er gedachte, die verbleibenden Stunden auf sinnvolle Art zu nutzen und damit zugleich seine Nervosität loszuwerden. Immerhin bot der neue Antrieb noch immer etliche Risiken. Und die Gemütlichkeit von Lieutenant Task war nicht dazu angetan, ihn zu beruhigen.

*

Noriko betrat den Bereitschaftsraum von Captain Cross. Während ihr kommandierender Offizier hinter seinem Schreibtisch Platz nahm, sah sie sich ein wenig um. Auf die Wände wurden die Standardbilder von Wäldern und Landschaften projiziert; aus transparenten Deckenplatten leuchtete warmes Licht; der Schreibtisch war leer. Dem Raum fehlte bisher noch jede persönliche Note. Noriko roch Plastik, frisch entpackte Formmöbel und verschweißte Nähte.

»Nehmen Sie Platz, I.O.« Captain Cross deutete auf den Besuchersessel vor seinem Schreibtisch.

Sie setzte sich und schlug die Beine übereinander. Ihr neuer Captain war ganz anders, als sie es erwartet hatte. Statt eines souveränen Alpha-Tiers hatten die Admiräle das Schiff diesem unscheinbaren Mann gegeben. Laut seiner Akte war Captain Cross 33 Jahre alt – und damit für ein solch wichtiges Kommando noch verdammt jung. Sein braunes Haar war sauber nach hinten gekämmt, die Zähne blitzten beim Lachen schneeweiß und die Gesichtszüge waren ebenmäßig. Vermutlich hatten seine Eltern eine mittlere Genskulpturierung springen lassen.

»Wie Sie wissen, wurde unser Start vorverlegt«, begann Cross. »Das hat mir leider jede Möglichkeit genommen, die Crew vor dem Start kennenzulernen. Wie lange befinden Sie sich bereits auf der HYPERION?«

Der Captain saß entspannt in seinem Konturensessel und blickte sie offen an. Keine Spur von Abneigung oder Vorbehalten. Doch auch ihm mussten die Gerüchte über sie zu Ohren gekommen sein. Verbarg er es nur gut? »Seit vier Wochen, Sir.«

»Ihr bisheriger Eindruck?«

»Bis letzte Woche war das gesamte Schiff eine einzige große Baustelle. Es wird noch einige Zeit dauern, bis alle Kinderkrankheiten beseitigt sind und die Crew sich aufeinander eingespielt hat.«

»Das dachte ich mir. Was mich zu meinem nächsten Punkt bringt.« Cross machte einige Tippbewegungen auf der Touch-Oberfläche seines Schreibtischs, worauf mehrere Gesichter holografisch in den Raum zwischen der Decke und dem Tisch projiziert wurden. »Erzählen Sie mir etwas über meine Crew.«

Noriko räusperte sich. »Ich hatte die Möglichkeit, mit allen ein erstes Gespräch zu führen.« Und Ihre Vorbehalte mir gegenüber deutlich zu spüren.

Jayden berührte das Konterfei eines Mannes, das daraufhin vergrößert wurde. Das Label am unteren Rand wies ihn als Lieutenant Commander Lukas Akoskin aus.

»Da hätten wir Ihren Waffen- und Taktikoffizier, Commander Akoskin. Er ist 26 Jahre alt und entstammt der Kolonie Comienzo. Deren Bewohner bestehen zu 80 Prozent aus den Nachkommen von Siedlern aus dem spanischen Sektor. Die Admiralität war der Meinung, dass seine Jugend kein Hindernis darstellt. Er hat bei der Ausarbeitung der neuen Waffendoktrin für den Interlink-Kreuzer mitgearbeitet. Messerscharfer Verstand, Bester seines Jahrgangs.«

Als sie schwieg, sagte der Captain: »Die Fakten aus der Akte sind ja ganz nett, aber was halten Sie von ihm?«

Noriko begriff, dass Cross ihr diese Frage primär stellte, um seine I.O. einschätzen zu können. Zweifellos würde er mit jedem Kommandobrückenoffizier im Verlauf der Reise ein persönliches Gespräch führen.

»Schauen Sie ihn an. Vermutlich haben seine Eltern eine Genaufwertung der Alpha-Klasse herausspringen lassen. Er sieht gut aus – schwarzes dichtes Haar, hellblaue Augen, strahlend weiße Zähne – und ist sich dessen bewusst. In den vergangenen Wochen bestand seine Hauptfreizeitbeschäftigung aus Flirts. Sein Umgangston ist ab und an etwas flapsig, aber nie unverschämt.« Wenn auch oft nahe dran. »Er ist ein Heißsporn.«

Cross schmunzelte. »Ich verstehe.« Er beugte sich vor und berührte ein weiteres Gesicht.

»Lieutenant Tess Kensington«, sagte Noriko, als das Gesicht der blonden Ortungsoffizierin vergrößert wurde. »32 Jahre, stammt von Tikara II.«

Der Captain sog bei der Erwähnung der Kolonie unvermittelt scharf die Luft ein.

»Vermutlich haben Sie in ihr eine glühende Verehrerin, immerhin haben Sie unter Einsatz Ihres Lebens die Heimat ihrer Eltern verteidigt.« Noriko lächelte, als sie das Unbehagen im Blick des Captains erkannte. So viel Lob war ihm sichtlich unangenehm. »Davon abgesehen kann ich sie nur als resolut bezeichnen. Sie entstammt der Unterschicht von Tikara II, was in der Regel gleichbedeutend mit einer Laufbahn als Pirat, Schmuggler oder Dieb ist. Die Intelligenteren wandern aus oder sterben recht früh, da nur die Gewalttätigen überleben.« Wenn nur ein Teil von dem, was in ihrer Akte stand, der Wahrheit entsprach, hatte Lieutenant Kensington einen verdammt harten Weg hinter sich. »Sie ist tough, spricht offen aus, was sie denkt, und jongliert mit Ortungsalgorithmen wie mit Gravbällen. Sie hat in einer der Übungen, in der ihre Gruppe eigentlich nur verlieren konnte, ein kleines Wunder vollbracht, in dem sie ein getarntes Parlidenschiff aufspürte.«

»Beeindruckend.«

»Sie ist es gewohnt zu kämpfen«, fügte Noriko hinzu.

Der Captain nickte bedächtig, verweilte mit seinem Blick noch kurz auf Kensington und berührte eines der beiden verbliebenen Abbilder.

Während Kensingtons Konterfei wieder verkleinert wurde, vergrößerte die K.I. das Gesicht eines Mannes mit rotem Stoppelhaar und gemütlichem Blick.

»Peter Task«, sagte Noriko. »Er ist … besonders.«

»Das habe ich schon bemerkt.«

»Anders, als Sie vielleicht denken.« Sie schwieg einen Augenblick, um die richtigen Worte zu finden. »Man sagt, er habe drei Anläufe gebraucht, um an der Akademie aufgenommen zu werden. Trotzdem ist er ein ausgezeichneter Navigator. Entgegen dem leicht behäbigen Eindruck, den er macht, kann er eine Menge.«

»Sprechen Sie weiter.«

»Ich kann nicht wirklich viel über ihn sagen. Außerhalb der Arbeit sitzt er meist neben anderen Offizieren auf dem Entspannungsdeck an der Bar. Aber er redet nur wenig, stattdessen hört er zu. Ich denke, man tut gut daran, ihn nicht zu unterschätzen.«

Während der Blick des Captains gedankenverloren durch sie hindurchging, berührte sie das letzte Abbild.

»Lieutenant Sarah McCall«, erklärte sie. Eine stupsnasige Frau mit braunen Locken blickte lächelnd in das Aufnahmeobjektiv.

»Holt die Admiralität jetzt schon Leute direkt von der Akademie?«

»Die Brückencrew wurde aus Offizieren zusammengestellt, die …«

»Ist schon gut.« Er winkte ab. »Die Admiralität hat ihre Gründe.«

Zweifellos. Wie sie es immer hat. Es fiel ihr schwer, bei diesen Gedanken nicht auszuspucken. Nach allem, was sie durchgestanden hatte, galt es nach wie vor, ihr Schild nicht sinken zu lassen. »McCall ist die Verkörperung des Schüchternen. Wenn Sie mit ihr sprechen, wird sie meist zu Boden schauen, scheu nicken und mit piepsiger Stimme sprechen.« Noriko lachte auf. »Von diesen Punkten abgesehen verrichtet sie ihre Arbeit tüchtig und kompetent. Ihre Familie ist ihr sehr wichtig. Sie übernimmt ab und an Schichten von anderen Offizieren im Tausch gegen zusätzliche Phasenfunkzeit. Die verbringt sie dann im Gespräch mit ihrer Familie.«

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