Das Erbe der Macht - Band 23: Engelsfall

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Aus der Reihe: Das Erbe der Macht #23
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Das Erbe der Macht - Band 23: Engelsfall
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Table of Contents

Engelsfall

Was bisher geschah

Prolog

1. Ruinen

2. Das gefallene Reich

3. Hexenholztrümmer

4. Zeitschatten

5. In den letzten Minuten

6. Kinder des Himmels

7. Sprung ins Gestern

8. Dreimal gedreht

9. Das Reich des Himmels

10. Kind des Himmels

11. Unter Venedig

12. Die Beschützer Venedigs

13. Himmelskrieg

14. Abstieg in die Tiefe

15. Maskenball

16. Enthüllungen

17. Die Krypta

18. Der Untergang

19. Über den Dächern von Venedig

20. Der Palazzo Farnese

21. Licht der Zitadelle, Schatten vom Anbeginn

22. Im Auge des Sturms

23. Drei von vier

24. Die Entscheidung

25. Die letzten Jahre

26. Die Erkenntnis

27. Ein letzter Sprung

28. Ein letztes Gespräch

Vorschau

Seriennews

Glossar

Impressum

Das Erbe der Macht

Band 23

»Engelsfall«

von Andreas Suchanek


Was bisher geschah

Die alte Ordnung ist gefallen.

Bran holt zum großen Schlag aus und fegt das Castillo, die Lichtkämpfer und Schattenkrieger hinweg. Hinter der Maske des Gegners von Leonardo und Johanna verbirgt sich in Wahrheit Merlin von Avalon, der im Onyxquader heranreifte, um mit der Macht des Anbeginns das ewige Leben und die absolute Herrschaft zu erlangen.

Im Verlorenen Castillo lecken unsere Freunde ihre Wunden, doch viel Zeit bleibt ihnen nicht.

Auf der Flucht vor den Jüngern Merlins verbünden sich Tomoe Gozen und Anne Bonny. Die Recherche in Jules Vernes Bibliothek führt beide auf eine Insel, wo sie sich den Schatten ihrer Vergangenheit stellen. In einem uralten Tempel stehen die Statuen der letzten Seher, die Glaskugeln mit Blut enthalten. Nach einem Kampf mit Rasputin können Tomoe und Anne eine Prophezeiung auslösen, die eine Taktik gegen Merlin offenbart. Die anschließende Flucht bringt beide in ein geheimnisvolles Splitterreich, wo sie auf Leonardo, Clara und Grace treffen. Die Monolith-Reisenden haben viel zu erzählen.

Unterdessen wollen Alex, Jen und ihre Freunde Chloe retten. Bei einem Ritual wird die Freundin in zwei Seiten aufgespalten – in jenen Teil vor dem Pakt und jenen danach. Es scheint, dass die gute Chloe stirbt. In Wahrheit hat diese jedoch überlebt und wird von Merlin in eine Schlucht hinter dem Ritualplatz geworfen. Obgleich ein solcher Sturz im Normalfall den Tod bedeuten würde, überlebt sie auch das schwer verletzt. Eine unbekannte Person rettet sie. Doch wer?


Die neue Ordnung wurde zu einem Königreich.

Zufrieden blickte Merlin über die Zinnen von Iria Kon. Die Stadt, die vor einer Ewigkeit untergegangen war, wuchs zu neuer Pracht heran. In den Straßen patrouillierte seine Garde, für die Jüngeren war eine erste Universität eröffnet worden. Artefaktmagier bargen die Überbleibsel aus den Katakomben. Seine Häscher waren überall auf der Welt aktiv, sowohl die gewöhnlichen als auch jene, die aus dem Immortalis-Kerker befreit worden waren. Erste Priorität hatten die Unsterblichen, doch auch die normalen Magier wurden eingesammelt oder ausgeschaltet.

»Wir sind soweit.« Patricia war leise eingetreten.

Merlin lächelte. Sie versuchte stets, ihn zu überraschen, doch er spürte ihre Präsenz bereits, wenn sie ihren Fuß auf die erste Treppenstufe setzte. »Dann schieben wir es nicht länger hinaus.«

Er eilte beschwingt aus seinem Büro und die Treppen hinab. Auf dem Platz vor dem Turm des Regenten loderte das Feuer. Sie hielten sich genau an seine Anweisung, gut so.

»Er hat Widerstand geleistet«, fühlte Patricia sich bemüßigt zu berichten.

»Tun sie das nicht alle?«

Welcher von ihnen ging schon freiwillig zum Schafott? Sie mussten davon ausgehen, dass er sie tötete und damit auf direktem Weg zurück in die Zitadelle schickte. Genau das hatte er natürlich vor, wenn auch anders, als sie dachten. Dieser hier war ein Werkzeug, das er sofort einsetzen würde.

Auf einen nassen, kalten Gang folgte ein geradezu barbarisch eingerichteter Raum. Im Zentrum erhob sich ein Steinquader, auf dem der Gefangene lag. Ein Zauber hielt dessen Arme eng an den Körper gepresst, verurteilte ihn zur Bewegungslosigkeit.

»Du warst leicht zu finden«, sagte Merlin. »Gerade von dir hätte ich mehr erwartet.«

»Ich werde dir keine Informationen geben.«

»Warum glauben nur alle, dass ich ihr Wissen benötige?« Er schenkte dem Gefangenen ein dezentes Kopfschütteln. »Was ich wissen muss, habe ich über die Jahrhunderte gesammelt. Genau deshalb bist du hier. Was ich von dir möchte, befindet sich nicht in deinem Kopf.« Er tippte sanft auf seine Brust. »Es fließt durch deine Adern.«

»Mein Blut?« Der Gefangene erbleichte.

»Das, was sich darin befindet.«

Patrica brachte die Schatulle mit dem Dolch. Merlin entnahm ihn in einer fließenden Bewegung.

»Ich war schon immer der Überzeugung, dass Magie und Schwert deutlich effektiver arbeiten als Tinte und Feder. Aber da wirst du mir widersprechen, nicht wahr?«

Der Gefangene betrachtete die Klinge.

Dann sprach er seine letzten Worte.


Ich hätte niemals fortgehen dürfen.« Leonardo versuchte, den dichten gelben Nebel mit seinem Blick zu durchdringen.

»Dann wärst du jetzt gefangen in ewig währenden Sekunden«, erwiderte Tomoe. »In einem Gefängnis, das nie für uns bestimmt war.«

Die Ankunft von Anne und ihr hatte Leonardo überrascht. Es war Grace gewesen, die nach ihrer Reise durch die Splitterreiche zurückgekehrt war und sich auf eine weitere Suche begab. Im Auftrag von Johanna forschte sie über den Verbleib Claras und ihm. Am Ende hatte sie das zur Archivarin geführt, die jedoch längst von Eliot Sarin in einen Bernsteinmonolith gesperrt worden war. Ewiger Bernstein. Das Archiv verging, seine Beschützerin hatte jedoch vorgebaut.

Der Monolith trug Grace in jenes Splitterreich, in das Merlin Clara und Leonardo geschickt hatte. Sie brach den Fluch und rettete sie beide. Und nicht nur das: Sie erbeuteten den Stab von Maginus, der geschaffen worden war, um Sigile an ihrer Rückkehr zu hindern. Damit konnten die Magier dezimiert werden.

Die nächste Etappe der Reise hatte sie hierhergeführt. Plötzlich standen Anne und Tomoe vor ihnen. Was sie berichteten, machte das Ausmaß von Merlins neuer Ordnung deutlich.

»Die Archivarin muss einen Plan verfolgen, sonst hätte sie euch nicht hierhergebracht«, ergänzte seine Begleiterin. »Und immerhin haben Anne und ich die Prophezeiung entdeckt.«

Leonardo hielt nichts von Vorhersagen, das hatte er noch nie. Er war aufgebrochen, um seinen Sohn Piero zu finden. Ein Unterfangen, das katastrophal schiefgegangen war.

 

»Wir stapfen durch ein Reich, das aus gewaltigen Trümmern und gelbem Sand besteht«, fasste er zusammen. »Hier scheint nichts Lebendiges mehr zu existieren, und doch bist du noch immer voller Optimismus. Was ist auf der Insel mit dir geschehen?«

Tomoe hielt ihr Katana umklammert, ließ keinen Augenblick in ihrer Wachsamkeit nach. »Ich habe mit einem alten Freund getanzt, unsere Schwerter haben gesungen und Kirschblüten fielen. Es hat mir klargemacht, wer ich in Wirklichkeit bin. Das hatte ich viel zu lange vergessen.«

Innerlich lächelte Leonardo. Was auch sonst passiert sein mochte – immerhin das war etwas Gutes. Er kannte Tomoe schon viele Jahre und ihr Weg war noch nie einfach gewesen. Doch endlich schien sie einen Teil des Schattens abgestreift zu haben, der ihre Seele vergiftet hatte.

»Das klingt, als sei dieser alte Freund genau das, was du gebraucht hast.« Er machte eine ausladende Handbewegung, die Trümmerteile, Sand und Gebäudereste einschloss. »Da du der Archivarin ja Weitsicht unterstellst, hast du eine Idee, was wir hier sollen? Langsam glaube ich, dieses Ziel war ein Unfall.«

Und nach einer guten Woche an jenem Ort knickte auch Anne ein. Grace suchte Hinweise, damit sie ihre Analysefähigkeiten und ihre Kombinationsgabe einsetzen konnte, doch vergeblich.

Sie bildeten täglich Gruppen und gingen auf Erkundung, aber abgesehen von gewaltigen Statuen und riesigen Trümmerteilen hatten sie nichts gefunden.

»Du bist noch so ungeduldig wie früher.« Tomoe lächelte. »Manche Dinge scheinen sich nie zu ändern.« Ihr Blick glitt auf etwas in der Ferne, hinter ihm.

Er fuhr herum. Doch da war nichts. Oder doch?

»Ist da …«

Tomoe setzte sich bereits in Bewegung. Flink pirschte sie in den gelben Nebel. Leonardo blieb hinter ihr, in seiner Hand lag längst der Essenzstab.

Sie hatten mit mehr als einem Zauber versucht, Licht ins Dunkel dieses Ortes zu bringen. Doch obgleich Magie problemlos funktionierte, enthüllte sie nichts. Im vorliegenden Fall gab es jedoch etwas, das sie tun konnten.

Tomoe zeichnete ein Symbol in die Luft und murmelte die notwendigen Worte. Eine Windböe fegte den Nebel hinweg. Der Effekt hielt nur wenige Minuten vor, doch das reichte aus.

»Ein Trümmerfeld«, hauchte Leonardo.

»Was auch immer hier geschehen ist, die Ruinen sind weit verstreut. Möglicherweise handelt es sich um die Reste von Städten, die über das Splitterreich verteilt waren.«

»Ein Krieg?«, überlegte er. »Ich habe mehrere davon erlebt, in einem sogar selbst Apparaturen angefertigt, die eingesetzt wurden.«

In seinem Geist wirbelten die Bilder umher. Er erinnerte sich an Venedig, die Medici und vieles mehr. Auf Gondeln war er durch die Wasserstraßen geglitten, hatte an Maskenbällen teilgenommen und sich in seinen jungen Jahren vergnügt.

Eine Zeit, die lange zurücklag.

Eine Ewigkeit.

In seinem Leben als Nimag, vor der Magie, vor Johanna und Piero.

»Sind es nicht immer die Kriege, die eine Zivilisation zu Fall bringen?«, fragte Tomoe.

»Es mag seltsam klingen, aber es kommt durchaus vor, dass Gesellschaften dadurch wachsen.«

»Auf die falsche Art, möchte ich sagen.«

»Und da kann ich dir nur zustimmen.« Leonardo erschuf einen Agnosco-Zauber. »Dort vorne. Da ist etwas.«

Sie eilten zwischen den Ruinen hindurch, wo der Nebel sich das verlorene Territorium zurückeroberte. Immer dichter wurde das Gespinst, sank herab und verschlang die Welt erneut.

Stufen ragten vor ihnen aus dem Sand, dahinter ein halb eingefallener Eingang. Entgegen ihrer ersten Vermutung, dass die Wesen dieses Splitterreichs von enormer Größe gewesen sein mussten, besaßen die Durchgänge normale Proportionen.

Von einer Halle zweigten mehrere Gänge ab. Die Böden waren von Mosaiken bedeckt, doch darüber hinaus wies nichts auf die Bewohner hin.

»Dort.« Tomoe war unvermittelt stehen geblieben und deutete auf einen der Durchgänge »Da lang.«

»Was ist los?«

»Ich weiß nicht … Nur ein Gefühl.« Sie ging voraus, doch etwas in ihrer Gestik hatte sich verändert.

»Tomoe, was ist?«, hakte Leonardo noch einmal nach.

»Die Bauweise, die Strukturen.« Sie blickte zu Boden. »Die Mosaikmuster. Das habe ich schon mal gesehen.«

»Wo?«

Sie schüttelte den Kopf. »In einem Buch? Auf Zeichnungen? Ich weiß es nicht.«

Erst bei diesen Worten realisierte Leonardo, dass es ihm ähnlich erging. Er war noch nie hier gewesen, das stand fest. Doch etwas an diesem Ort wirkte vertraut.

Schweigend folgten sie dem Gang, der in eine kleine Halle führte. Zumindest einer Hälfte davon, der Rest war von Sand verschüttet. Das Wenige reichte aus, um die Vermutung zu bestätigen.

In eine der Wände war ein Satz gemeißelt worden.

»Möge der Friede erhalten bleiben«, las Tomoe. »Ich denke, wir sollten die anderen holen.«

Leonardo nickte nur.

Der Satz an sich war nichts Außergewöhnliches, die Sprache indes durchaus.

»Wie kann das sein?«, fragte er.

»Ich habe eine Vermutung«, erklärte Tomoe. »Aber zuerst die anderen.«

Leonardo verließ das Gebäude und erschuf ein Signalfeuer. Die anderen würden sich sofort zu ihnen auf den Weg machen.

Ohne zu warten, kehrte er zurück zu Tomoe. »Erledigt.« Sein Blick wanderte wieder an jene Stelle an der Wand, an der die Worte wie ein Mahnmal auf ihn herabschauten. »Die alte Sprache von Iria Kon.«

»Möge der Friede erhalten bleiben«, wiederholte Tomoe. »Eine Hoffnung, die eindeutig scheiterte.« Sie sah sich langsam um. »Wir müssen herausfinden, was hier geschehen ist.«


Ich sehe es dir an, du hast eine Theorie.«

»Leonardo da Vinci.« Grace betrachtete ihn süffisant. »Immer noch das Genie von damals. Natürlich habe ich eine Theorie.«

Auch wenn er froh darüber war, die alte Freundin wieder in ihrer Mitte zu wissen, war ebenfalls das Bedürfnis zurückgekehrt, sie permanent durchzuschütteln.

»Ich war nie auf Iria Kon«, ergänzte Grace.

Sie war als Frau Anfang der Vierziger ins Leben zurückgekehrt. Das schwarze Haar trug sie schulterlang, an ihrem linken Ringfinger einen Siegelring. In ihren Händen hielt sie einen Expeditionshelm, wie er 1914 gängig gewesen war. Grace‘ Hemd war blütenweiß, selbst nach den Erlebnissen ihrer bisherigen Reise, und die Treckinghose nur leicht verschlissen. Sie wirkte wie eine Urwaldentdeckerin aus einem Tarzan-Film.

»Flüchtlinge«, mischte Anne Bonny sich in das Gespräch ein. »Könnte das sein?«

»Es gab nicht viele Überlebende«, sagte Clara mit krächzender Stimme. Nach der Rettung aus dem Albtraum, zu dem Merlin sie und Leonardo verdammt hatte, wirkte sie noch ein wenig ausgezehrt. »Die Schattenfrau hat jedes lebende Wesen auf Iria Kon getötet, bevor sie die Stadt von der Landkarte verschwinden ließ.«

»Folgen wir doch weiter dem Hinweis, den der Agnosco geliefert hat«, schlug Anne vor.

Ein wahres Labyrinth aus Gängen schloss sich an, wobei ein großer Teil unter dem Sand vergraben war. Sie mussten Schwerkraftzauber und Muskelkraft kombinieren, um sich den Weg freizuschaufeln. Stunden vergingen. Schließlich rauschte ein letzter Rest Sand davon und gab den Blick frei auf einen Raum mit einem gewaltigen Schwimmbecken, in dessen Innerem sich Flüssigkeit erhalten hatte. Sie war brackig, durchzogen von Schlamm.

Als sie eintraten, leuchtete etwas im Boden auf und die durchscheinende Silhouette einer Frau erschien. Sie hatte dichtes, welliges Haar und fein geschnittene Züge. Ihr Alter mochte in den Dreißigern oder Vierzigern liegen, so genau war das nicht auszumachen.

»Willkommen, Gesandte des Castillos«, sprach sie sanft. »Ihr seid hier und sucht nach Antworten, ihr sollt sie erhalten. Kommt und seht, was einst geschah. Mehr kann ich nicht mehr tun. Wenn ihr diesen Ort betretet, liegt die Dämmerung längst über dem Licht.« Ein trauriges Lächeln lag auf ihrem Antlitz. »Mögen die Vorfahren mit euch sein.«

In einem Flackern verschwand das Bild.

Im Boden des Beckens öffnete sich ein Spalt, was dazu führte, dass der gesamte Schlamm nach unten wegschwappte. Direkt in einen verborgenen Raum.

»Wunderbar.« Leonardo stöhnte. »Wer hat den besten Putzzauber parat?«

»Du sicher nicht.« Grace lächelte frech.

»Wart‘s nur ab.«

Gemeinsam sprangen sie voran, kamen auf dem Boden des Beckens auf und wirkten Zauber, die den Schlamm aus dem Wasser zogen und abtransportierten. Danach wurde das Wasser zu Dampf, was erst einmal alles in dichten Nebel hüllte, doch am Ende waren Raum und Becken sauber.

»Wie kann das sein?«, fragte Clara, als sie den Raum betraten. »Wieso konnte sie uns als Gesandte des Castillos identifizieren? Woher wusste sie überhaupt, dass wir kommen?«

Seltsamerweise glaubte Leonardo, die Antwort auf Claras Frage wissen zu müssen. Etwas an der Fremden hatte vertraut gewirkt, wie auch die Schrift von Iria Kon und das Mosaik.

»Kannst du sie zuordnen?«, fragte er die junge Ashwell.

»Weder durch meine eigenen Erinnerungen noch irgendwelche Fragmente der Schattenfrau«, erwiderte sie.

»Aber das Castillo wurde erst Jahrhunderte nach dem Untergang von Iria Kon gebaut«, sagte Grace.

»Mich braucht ihr nicht anzuschauen.« Anne machte eine abwehrende Geste. »Ich bin quasi erst ein paar Monate alt. Von diesem ganzen Kram weiß ich nichts. Ich lebte als Nimag außerdem vor dem Castillo und lange nach Iria Kon.«

Ein gespanntes Kribbeln ließ Leonardo erschaudern. Mittlerweile teilte er die Zuversicht Tomoes, dass die Archivarin sie aus einem bestimmten Grund hierhergeführt hatte.

Der Raum erwies sich als überschaubar, was hauptsächlich daran lag, dass es keinerlei Einrichtungsgegenstände gab. Die Wände waren aus dem typischen gelben Gestein gefertigt, das Leonardo längst auf die Nerven ging. In der Mitte stand etwas, das an eine angeschmolzene Schneekugel erinnerte.

»Ein Mentiglobus.« Anne sank neben dem Erinnerungsspeicher in die Hocke. »Will jemand ausprobieren, ob Sicherungen eingebaut wurden?«

Tomoe schob sie beiseite, berührte den magischen Speicher mit ihrem Essenzstab und führte erneut einen Agnosco aus. »Er ist sauber.«

Irgendwie hätte es Leonardo auch gewundert, wenn sich das Ganze als Falle herausgestellt hätte. Etwas Wichtiges verbarg sich in den gespeicherten Erinnerungen, davon war er längst überzeugt.

»Dann sind wir uns einig?«, fragte er in die Runde.

»Vielleicht nicht alle auf einmal«, schlug Grace vor. »Immerhin kann sich noch immer etwas Destruktives darin verbergen. Ich erinnere mich an einen perfiden Mordplan, den ich einst aufdeckte. Eine Magierin verankerte grauenvolle Erinnerungen an Folter in ihrem eigenen Geist und extrahierte sie von dort in einen Mentiglobus. Eine recht simple Abfolge, die ihren Ehemann beinahe in den Tod getrieben hätte, als er den Erinnerungsspeicher auslas. Letzteres tat er ohne ihr Einverständnis, deshalb hielt mein Mitleid sich in Grenzen.«

»Das muss ich mir merken«, sagte Anne begeistert.

Leonardo verdrehte die Augen. »Da vergesse ich doch immer wieder, dass du eigentlich gar nicht auf unserer Seite stehst.«

»Was ist heute schon ›unsere‹? Ich kämpfe mit euch gegen Merlin, insofern solltest du dich freuen. Hat der Mann überlebt?«

»Das tat er«, bestätigte Grace. »Allerdings musste er zahlreiche Sitzungen bei einem Heiler absolvieren. Die Frau wanderte in den Immortalis-Kerker. Vermutlich muss ich sie nun noch einmal einfangen, da Merlin dessen Tore geöffnet hat.«

»Ende gut, alles gut«, schloss Tomoe.

»Sieht man davon ab, dass der Kerker wieder geöffnet wurde, aber lassen wir das.« Sie deutete auf den Mentiglobus. »Also, wer macht den Anfang?«

Clara trat nach vorne. »Ich will es sehen.«

»Dabei«, sagte auch Tomoe.

»Ich sowieso.« Leonardo deutete auf den Erinnerungsspeicher.

»In diesem Fall übe ich mich in Geduld und warte auf euren Bericht, bevor ich ebenfalls eine Reise in die Erinnerungen unternehme«, erklärte Grace. »Natürlich werde ich euch mit einem Agnosco genauestens überwachen.«

»Und nebenbei kannst du mir Geschichten erzählen«, schlug Anne vor. »Du hast doch bestimmt noch weitere wunderbare Mordfälle erlebt. Gelöst, meine ich.«

 

»Du kannst sie auch Grace Marple nennen«, stichelte Leonardo. »Das freut sie ganz besonders.«

»Und du nimmst gleich eine Abzweigung in die Folterszene«, drohte Grace.

Zu dritt ließen sie sich um den Erinnerungsspeicher herum in den Schneidersitz sinken. Leonardo betrachtete das braun-gelbe Glas und die Symbole auf der Basis. Wie alt mochten diese Erinnerungen sein? Und, noch wichtiger: Von wem stammten sie?

Als er die magischen Zeichen genauer betrachtete, beantwortete sich die Frage. »Es sind verschiedene Erinnerungen, nicht nur von einer Person. Jemand hat Sichtweisen verschmolzen.«

»Dann erwartet uns zweifellos eine interessante Geschichte.« Tomoe legte ihre Finger auf das Glas. »Memorum Excitare.« Ihre Lider schlossen sich.

Clara und Leonardo taten es ihr gleich.

Sie sprachen die magischen Worte – und die Vergangenheit wurde lebendig.