Ärzte, Liebe, Schicksal: Arztroman Sammelband 3 Romane

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18

Die Sause bei Harry Burg hatte es in sich und ließ keine Wünsche offen. Das Atelier drohte aus allen Nähten zu platzen. Obwohl es groß war, vermochte es die vielen mehr oder weniger erfolglosen Künstler, die gekommen waren, um auf Harrys Kosten zu feiern, kaum zu fassen. Menschen. Menschen. Überall waren Menschen: in der Küche, im Bad, auf der Toilette ... Sie hatten alle mit der Kunst zu tun, ohne von ihr leben zu können. Und sie hielten sich alle für verkannte Genies, die von der hartnäckigen Hoffnung aufrecht gehalten wurden, dass ihnen eines Tages - vielleicht schon morgen - der große Durchbruch gelingen würde. Dann würden sie Geld haben, reich sein, sich alles leisten können, glücklich sein, nicht mehr von der Hand in den Mund leben müssen.

Sie standen, saßen, hockten, lagen herum, unterhielten sich, hörten der lauten Musik zu, tanzten miteinander, tauschten vor den anderen ungeniert Zärtlichkeiten aus. Obwohl es ihnen finanziell nicht rosig ging, waren sie stolz darauf, anders zu sein als die breite Masse. Es gab ihnen viel, dass man sie nicht mit normalen Maßstäben messen konnte, und sie trugen eifrig dazu bei, dass sich daran auch in Zukunft nichts änderte, denn sie hassten nichts so sehr wie den grauen Einheitsbrei, der den Alltag der meisten Menschen bestimmte.

Nikki Mandrakis hing schon den ganzen Abend wie eine Klette an Harry. Erstens, weil sie es genoss, in seiner Nähe zu sein, und zweitens, weil sie nicht wollte, dass sich irgendein anderes Mädchen an ihn heranmachte. Wohin er auch ging, er musste sie mitschleppen. Nach etlichen Drinks machte ihm das nichts mehr aus, da nahm er sie dann kaum noch wahr.

Er hatte sich schon lange nicht mehr so gut amüsiert. Er war ausgelassen, übermütig und - betrunken. Und er gab an allem Marianne Rath die Schuld. Einer ließ in der Küche ein Glas fallen,

es zerbrach - Mariannes Schuld. Ein anderer stieß eine Bodenvase um, sie ging zu Bruch - Mariannes Schuld. Ein Mädchen übergab sich in die Badewanne - auch Mariannes Schuld ... Denn wenn Marianne sich nicht von ihm getrennt hätte, hätte es diese exzessive Party nie gegeben.

Harry zog - mit Nikki Mandrakis am Hals - seine Kreise. Man schmeichelte ihm, bewunderte und beneidete ihn, und keiner der Anwesenden hätte Mariannes unsinnige Forderung verstehen können. Harry ließ den Blick schweifen. Das war seine Welt - und Marianne passte hier nicht herein. Sie wäre für alle ein Fremdkörper gewesen, wäre von allen gemieden, abgelehnt worden.

Gotthilf Wiesmath schielte glücklich.

„Traumhafte Fete, Harry!“

„Amüsierst du dich gut?“

„Ich habe mich schon lange nicht mehr so wohlgefühlt“, behauptete Gotthilf.

Das Mädchen neben ihm kicherte und sagte zu Harry: „Ich fühle mich sauwohl. Fühlst du Sau dich auch wohl?“ Sie kicherte wieder. „War ein Scherz. Nichts für ungut, Harrylein.“

Die Musik dröhnte so laut, dass man sie in ganz München hören musste, und so blieb es nicht aus, dass die Mieter im Haus, die sich in ihrer Nachtruhe erheblich gestört fühlten, die Polizei anriefen. Die Polizisten wurden mit frenetischem Jubelgeschrei empfangen. Man bot ihnen etwas zu trinken an, forderte sie auf, mitzumachen. Ein Mädchen wollte sich die Mütze eines der beiden Beamten aufsetzen. Sie griff danach, und der Mann, der keinen Spass verstand, herrschte sie an: „Lassen Sie das gefälligst!“

Als der betrunkene Tassilo Maier das Wort „Beschwerde“ aufschnappte, wurde er unangenehm. „Wer hat sich beschwert?“, wollte er mit schwerer Zunge wissen. „Verdammt, wir feiern hier ein harmloses Fest!“

„Es ist zu laut“, sagten die Beamten.

„Zu laut?“, ärgerte sich Tassilo. „Gotthilf, dreh mal volle Pulle auf, damit die Herren Bullen hören, was wirklich laut ist!“

Gotthilf Wiesmath gehorchte sofort. Es dröhnte gewaltig aus den Boxen.

„Das ist laut!“, brüllte Tassilo grinsend.

Die Beamten fühlten sich provoziert. Sie verlangten, dass der Lärm augenblicklich abgestellt wurde.

„Und wonach tanzen wir dann?“, fragte Tassilo Maier respektlos. „Soll vielleicht einer von uns auf dem Kamm blasen?“

„Werden Sie nicht frech!“

„Wer ist denn hier frech?“, gab Tassilo gereizt zurück.

„Wem gehört diese Wohnung?“

„Sie gehört uns allen“, tönte Tassilo Maier. „Wir haben sie besetzt.“ Einigen gefiel es, wie er mit den Beamten redete. Sie stellten sich hinter ihn.

„Wenn dieser Krach nicht sofort aufhört, gibt es eine dicke Anzeige wegen nächtlicher Ruhestörung.“

„Und wir verklagen Sie wegen Hausfriedensbruchs“, konterte Tassilo grinsend.

„Wie ist Ihr Name?“

„Dreimal dürfen Sie raten.“ Die Freunde in seinem Rücken machten Tassilo stark.

„Sie kommen mit uns.“

„Ich denke nicht daran“, sagte Tassilo bockig. „Ich gehe erst, wenn diese Party zu Ende ist.“

„Sie ist zu Ende.“

„Wer sagt das?“, wollte Tassilo Maier wissen. Er maß die Beamten despektierlich. „Ihr zwei Witzfiguren etwa?“

Die Sache uferte aus. Es kam zu Handgreiflichkeiten.

„Schert euch zum Teufel!“, schrie Tassilo.

Man warf die Polizisten hinaus und stimmte ein schadenfrohes Siegesgeheul an.

„Denen haben wir es gezeigt!“, rief Tassilo Maier begeistert. „Die sind wir los, Freunde! Die Party kann weitergehen!“

Aber das war ein Irrtum. Die Beamten zogen sich nur zurück, um Verstärkung anzufordern, und als diese eintraf, kamen sie wieder und griffen hart durch.

19

Dr. Thorsten Burg saß in seinem holzgetäfelten Arbeitszimmer am Schreibtisch. Er rieb sich die brennenden Augen und warf einen Blick auf die in Leder gefasste Uhr. Fünf nach eins. Ein Geräusch veranlasste ihn, den Kopf zu heben. Seine Frau trat in das Streulicht der Schreibtischlampe. Sie trug einen Morgenrock aus roter Shantung-Seide.

„Du arbeitest noch?“, fragte sie.

„Ja, ich muss mir die Befunde eines Patienten ansehen, der morgen unters Messer kommt“, antwortete der Chirurg. „Wieso bist du auf? Kannst du nicht schlafen?“

„Ich hatte Durst. Ich hab’ was getrunken“, sagte Bernadette Burg.

„Geh’ wieder zu Bett!“

„Und wann kommst du?“

„Bald“, antwortete Dr. Burg.

„Thorsten ...“

„Ja, Bernadette?“ Er sah sie an.

„Hat es einen Sinn, dich zu fragen, ob du es irgendwie einrichten kannst, mich nach Rom zu begleiten?“

Er lächelte gequält.

„Mein Terminkalender ist gesteckt voll. Tut mir leid. Aber ich denke, Harry wird mit dir nach Rom fahren. Ich habe ihn darum gebeten, musste meine Bitte allerdings auf Band sprechen, weil er nicht zu Hause war. Seine Antwort steht noch aus.“

„Ich würde lieber mit dir ...“

„Das ist leider nicht möglich“, erwiderte Dr. Burg nüchtern. „Und nun geh zu Bett und lass mich arbeiten!“ Bernadette ließ ihren Mann allein. Er war zwanzig Minuten später mit der Durchsicht der Befunde fertig und wusste nun, dass er sich auf eine schwierige Operation gefasst machen musste, denn die Bedingungen, unter denen dieser unaufschiebbare Eingriff vorgenommen werden musste, waren alles andere als beruhigend. Komplikationen konnten nicht ausgeschlossen werden.

Dr. Burg erhob sich seufzend. Er würde, wie immer, sein Bestes geben und konnte nur hoffen, dass es reichte. Er löschte das Licht und verließ das Arbeitszimmer. Er ging mit schweren, müden Beinen. Im Arbeitszimmer läutete das Telefon. Dr. Burg blieb stehen. Wer mochte das sein? Ein Patient?

Krankheiten nehmen auf Patienten und Patienten auf Ärzte keine Rücksicht. Dr. Burg kehrte um. Er nahm den Hörer ab und meldete sich mit matter Stimme.

„Vater, hier ist Harry!“

„Harry, Junge, was ist los?“ Die Müdigkeit war wie weggeblasen.

„Ich ... Es tut mir leid, dass ich dich um diese Zeit belästigen muss. Du hast sicher schon geschlafen.“

„Nein“, antwortete Dr. Burg. „Ich wollte soeben zu Bett gehen. Was gibt es? Deine Stimme klingt so merkwürdig.“

„Ich brauche deine Hilfe.“

Thorsten Burg erschrak.

„Was ist passiert?“

„Ich stecke in Schwierigkeiten.“

„Was ist denn passiert?“, fragte der Chirurg mit größerem Nachdruck.

„Das sage ich dir, wenn du hier bist. Kannst du sofort kommen?“

„Natürlich“, gab Dr. Burg zurück. „In dein Atelier?“

„Nein.“

„Wo bist du?“, fragte der Chirurg irritiert.

„Auf dem Polizeirevier.“ Harry nannte die Adresse.

Thorsten Burg wollte das Haus verlassen, ohne seiner Frau zu sagen, wohin er fuhr, aber irgendwie war das eine Nacht, in der Bernadette nicht zur Ruhe kam. Als hätte sie eine Ahnung, dass etwas sehr Unangenehmes geschehen würde. Als Dr. Burg nach den Wagenschlüsseln griff, stand sie plötzlich wieder vor ihm.

„Wohin fährst du?“

„Zu Harry.“

„Mitten in der Nacht?“

„Er braucht mich“, antwortete der Chirurg.

Bernadettes Augen weiteten sich.

„Wieso braucht er dich?“, fragte sie besorgt.

Dr. Burg zuckte die Schultern.

„Ich weiß es nicht so genau. Er scheint in eine unangenehme Sache verwickelt zu sein.“ Er hatte seine Frau noch nie belogen, und er tat es auch diesmal nicht. Als Bernadette erfuhr, dass sich ihr Sohn auf dem Polizeirevier befand, wurde sie blasser.

„Ich komme mit dir!“

„Nein, Bernadette...“

„Ich zieh’ mich nur schnell an. Dauert nur eine Minute.“

„Du bleibst hier!“, entschied Dr. Burg und ging.

 

20

„Junge ... Harry ... Junge ...“ Dr. Burg schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.

„Tut mir leid, Vater.“ Harry war ganz klein.

Der Arzt hatte erreicht, dass er mit seinem Sohn allein reden konnte. Sie befanden sich in einem kleinen, spartanisch eingerichteten Raum. Ein Tisch, zwei Stühle - das war das ganze Mobiliar.

„Warum tust du mir das an?“, fragte Dr. Burg deprimiert. „Hast du nicht immer alles von mir bekommen?“

„Ja“, antwortete Harry Burg zerknirscht.

„Hat es dir jemals an irgendetwas gemangelt?“

„Nein“, musste Harry zugeben.

„Du hast Talent. Ich glaube an dich als Künstler. Ich bin davon überzeugt, dass du mit deinen Bildern eines Tages ankommen wirst, deshalb ermögliche ich dir ein sorgenfreies Leben. Deshalb habe ich dieses Atelier für dich gekauft. Ich wollte für deine künstlerische Arbeit die allerbesten Voraussetzung schaffen. Es war mir egal, wie viele Bilder du in welcher Zeit malst. Ich sagte mir: Wenn er erst mal Erfolg hat, wird ihn das motivieren. Er wird anfangen, mehr zu malen und wird der Welt viele wunderbare Werke schenken. Und wir werden stolz sein auf unseren begabten Sohn. Du hattest jede Freiheit, standest niemals unter Leistungsdruck. Was immer dein Leben gekostet hat, ich bin dafür aufgekommen.“

Harry sah seinen Vater unglücklich an. In seinen Augen glänzten Tränen.

„Ich bedauere zutiefst, dass ich dir solchen Kummer mache, Vater. Ich kann mir vorstellen, wie dir jetzt zumute ist. Mich hier sitzen zu sehen ... Deinen Sohn ... Deine Hoffnung ... Deinen Stolz ...“

„Ach, Harry ...“ Jetzt hatte auch Dr. Burg Tränen in den Augen. „Was habe ich falsch gemacht?“

„Nichts, Vater.“

Der Chirurg sah seinen Sohn unendlich traurig an.

„Ich begreife nicht, wie du so abrutschen konntest.“

„Ich bin nicht abgerutscht. Ich wollte bloß ein bisschen Spass haben. Ich habe lediglich eine Party für meine Freunde gegeben. Die Spießer im Haus haben sich wegen des Lärms bei der Polizei beschwert, und nun sitze ich hier fest.“ Dr. Burg schwieg. „Bitte hol mich hier raus, Vater.“

„Das kann ich nicht, Harry.“

„Ich will hier nicht bleiben. Ich hasse es, eingesperrt zu sein.“

„Daran hättest du früher denken sollen“, sagte der Chirurg sehr ernst.

„Herrgott, die Sache ist außer Kontrolle geraten, das kann doch mal vorkommen. Ich hatte keine Möglichkeit, Tassilo Maier zum Schweigen zu bringen. Er hat uns das alles eingebrockt. Ich habe nichts getan. Ich bin unschuldig. Wenn du das den Beamten sagst, lassen sie mich gehen.“

Dr. Burg verlor die Beherrschung. Er sprang auf und schrie: „Man hat Kokain in deiner Wohnung gefunden!“

„Es gehört mir nicht.“

„Wirklich nicht?“, fragte Thorsten Burg. Er hatte bisher noch nie an den Worten seines Sohnes gezweifelt, und es schmerzte ihn, dass es ihm diesmal so schwerfiel, Harry zu glauben. Er spürte, dass ihm diese ganze Aufregung nicht guttat. Sein Herz klopfte wild, und eine Hitzewelle nach der ändern schoss ihm in den Kopf.

„Nein“, beteuerte Harry. „Glaubst du mir etwa nicht?“

„Schlucken Künstler nicht alles mögliche Zeug, um ihr Bewusstsein zu erweitern und ihre Kreativität zu steigern?“

„Ich habe noch nie Rauschgift genommen“ , erwiderte Harry heiser. „Welche Kreativität sollte ich denn steigern? Ich male ja kaum.“ Er sah Dr. Burg flehend an. „Du musst mir glauben, Vater, ich bin sauber. Ich habe noch nie irgendwelche Drogen besessen. Der Typ, dem der Koks gehörte, muss ihn schnell weggeworfen haben, bevor die Polizei ihn kassierte.“

Thorsten Burg hob ohne große Hoffnung die Schultern.

„Ich fürchte, ich werde die Polizei davon nicht überzeugen können.“

„Bitte versuche es, Vater.“

Dr. Burg versuchte es - und es gelang ihm nicht. Harry musste auf dem Revier bleiben.

21

Es läutete an der Haustür. Die Familie Härtling saß vollzählig am Frühstückstisch. Ottilie sah nach, wer draußen war. Es war - Dr. Thorsten Burg. Die Wirtschafterin ließ ihn ein und holte den Hausherrn. Sören sah den Kollegen überrascht und besorgt an.

„Thorsten.“

„Guten Morgen, Sören, bitte entschuldigen Sie die Störung ...“

Sören hatte den Eindruck, dass der Kollege in der vergangenen Nacht nicht im Bett gewesen war. Wie lange wollte Dr. Burg diesen unverantwortlichen Raubbau an der eigenen Gesundheit noch fortsetzen? Wann würde der Chirurg für seine Patienten zur echten Gefahr werden?

„Mein Gott, Thorsten, Sie sehen schrecklich aus! Total übermüdet.“

„Ich habe eine schlaflose Nacht hinter mir“, ächzte Dr. Burg.

„Sie bringen sich noch um. Wie kann ein intelligenter Mensch wie Sie nur so entsetzlich unvernünftig sein?“

„Ich brauche Hilfe, Sören. Mein Sohn sitzt auf dem Polizeirevier.“

„Was hat er angestellt?“

Der Chirurg schüttelte den Kopf.

„Nichts.“

„Man wird nicht grundlos von der Polizei festgehalten, Thorsten.“

Dr. Burg erzählte offen, was sich zugetragen hatte. Jana gesellte sich zu ihnen. Thorsten Burg unterbrach sich kurz, um sie zu begrüßen, dann redete er mit einer Stimme, die sich sehr fremd anhörte, weiter. Und schließlich sagte er: „Ich ertrage es nicht, dass man meinen Sohn auf diesem Revier festhält. Sie haben doch einen Schwager, der Rechtsanwalt ist. Glauben Sie, dass der uns helfen kann?“

„Am besten fragen wir ihn“, sagte Sören Härtling. „Kommen Sie, wir fahren zu ihm!“ Er rief einen Gruß ins Wohnzimmer. Seine Kinder antworteten vierstimmig. Von Jana verabschiedete er sich mit einem Kuss, und wenige Minuten später waren sie zu Dr. Axel Lassow unterwegs. „Um diese Zeit müsste er noch zu Hause anzutreffen sein“, bemerkte Dr. Härtling.

Sören Lassow, Dr. Härtlings Neffe, trat gerade aus dem Haus, als sie vorfuhren.

„Ist dein Vater noch da?“, fragte der Chefarzt.

„Ja. Er hat erst in zwei Stunden einen Gerichtstermin.“

„Das trifft sich gut“, sagte Dr. Härtling, der nicht nur Sören Lassows Onkel, sondern auch dessen Pate war. Deshalb hatten sie denselben Vornamen.

Dr. Härtlings Neffe tippte sich grüßend an die Stirn und stieg in seinen Wagen. Der Chefarzt der Paracelsus-Klinik und Dr. Burg betraten das Lassowsche Haus. Trix Lassow war erfreut, ihren Bruder zu sehen.

„Sören, was führt dich zu uns?“ Sie umarmte ihn und musterte dann Dr. Burg neugierig.

Dr. Härtling erzählte ihr mit wenigen Worten, worum es ging.

„Axel ist in seinem Arbeitszimmer“, sagte die hübsche Trix.

Sören Härtling und Thorsten Burg begaben sich zu Axel Lassow. Der Rechtsanwalt hörte sich Dr. Burgs Geschichte an und schlug dann vor, sofort zum Polizeirevier zu fahren. Eine halbe Stunde später war Harry Burg frei. Das war jedoch nicht so sehr Dr. Lassows Verhandlungsgeschick zu verdanken als vielmehr der Tatsache, dass die Polizeibeamten inzwischen den Mann gefunden hatten, der sich bei ihrem Eintreffen ganz schnell des Rauschgifts entledigt hatte.

„Diese Nacht auf dem Revier werde ich nie vergessen“, ächzte Harry Burg. Er bedankte sich bei seinem Vater, bei Dr. Härtling und bei Dr. Lassow für ihre prompte Hilfe und sagte, jetzt müsse er heim und erst mal richtig ausschlafen.

Für Dr. Burg war Ausruhen nicht drin, denn er konnte und wollte die angesetzten OP-Termine nicht absagen. Übernächtigt würde er am Operationstisch stehen und wie immer pflichtbewusst seine Arbeit tun.

Harry sollte sich an seinem fleißigen Vater ein Beispiel nehmen, dachte Sören Härtling, und plötzlich sagte er sich, dass er sich an einer möglicherweise bevorstehenden Katastrophe mitschuldig machte, wenn er nicht mit all der ihm zur Verfügung stehenden Energie versuchte, die Familie Burg dazu zu bringen, einen neuen, vernünftigeren Weg einzuschlagen.

Man trennte sich. Harry Burg fuhr nach Hause. Thorsten Burg fuhr zur Paracelsus-Klinik. Axel Lassow fuhr zum Gericht. Und Sören Härtling fuhr zu Bernadette Burg ...

Er erzählte ihr erst einmal, dass ihr Sohn wieder auf freiem Fuß war, und dann begann er über Thorsten zu sprechen.

„Was er sich zumutet, ist zu viel“, sagte Dr. Härtling besorgt.

„Was glauben Sie, wie oft ich ihm das schon gesagt habe?“ Bernadette Burg atmete schwer aus. „Er behauptet, er könne ohne Arbeit nicht sein.“

„Lieben Sie Ihren Mann, Bernadette?“, fragte Sören Härtling.

„Ja. Aber es ist nicht leicht, jemanden zu lieben, der die meiste Zeit nur auf einem Foto zu Hause ist.“

„Hätten Sie Thorsten gern öfter daheim?“

„Selbstverständlich, aber er erklärt mir immer, dass das nicht möglich sei, weil sein Beruf es nicht zulasse.“

„Thorsten ist ein exzellenter Arzt“, sagte Dr. Härtling, „aber wenn er weiterhin jeden Tag bis zur totalen Erschöpfung arbeitet, wird er eines Tages einen verhängnisvollen Fehler machen.“

„Sie meinen, er könnte einem Patienten in übermüdetem Zustand schaden?“

Sören nickte.

„Dazu muss es irgendwann mal kommen. Es ist ein Wunder, dass noch nichts passiert ist.“ Er sah die attraktive Frau ernst an. „Bernadette, es muss endlich etwas geschehen.“

„Denken Sie, das weiß ich nicht?“

„Ihr Mann arbeitet sich zu Tode“, sagte Sören gepresst.

Bernadette Burg rutschte unruhig hin und her. Sie saßen einander in Sesseln gegenüber, die Bernadette in Paris gekauft hatte.

„Wieso sehen Sie mich so vorwurfsvoll an?“, sagte sie unangenehm berührt.

„Weil er sich für Sie umbringt“, erklärte Dr. Härtling hart.

„Für mich?“

„Und für Harry“, sagte Sören. „Für seine Familie.“ Er beugte sich etwas vor. „Es ist durchaus zu begrüßen, wenn ein Mann dafür sorgt, dass es seiner Familie gutgeht, aber Thorsten übertreibt es. Und Sie und Harry übertreiben es auch. Bitte verzeihen Sie mir meine Offenheit, aber ich dramatisiere die Sache nicht, wenn ich sage, dass das Leben Ihres Mannes auf dem Spiel steht. Als ich ihn heute Morgen gesehen habe, dachte ich: Der Mann steht knapp vor einem schlimmen Kollaps. Es ist mir unbegreiflich, woher er die Kraft nimmt, immer noch einen weiteren Tag zu überstehen.“

Es zuckte nervös in Bernadette Burgs Gesicht.

„Müssen Sie diesen aufwendigen Lebensstil beibehalten, Bernadette?“, fragte Dr. Härtling eindringlich. „Müssen Sie Ihre Garderobe bei Modeschöpfern in Rom, in Paris, in New York und weiß Gott noch wo kaufen? Finden Sie hier bei uns nichts, das Ihnen gefällt? Sie sind eine schöne Frau. Ihnen würden auch preiswertere Modelle hervorragend stehen.“ Sie wollte etwas erwidern. Sören hob die Hand. „Sagen Sie jetzt nicht, Geld ist dazu da, um ausgegeben zu werden. Wenn Sie nicht so viel davon verschwenden würden, brauchte sich Thorsten nicht so sehr anstrengen, dafür zu sorgen, dass immer welches nachkommt.“

Bernadette stand auf und ging zur Terrassentür. Sie schaute in den Garten und sagte mit belegter Stimme: „Ich fürchte, Sie verkennen mich, Sören. Ich bin nicht als verwöhnte Modepuppe in diese Ehe gegangen. Ich hatte zu Geld eine ebenso vernünftige Einstellung wie zum Beispiel Ihre Frau. Es war immer wieder Thorsten, der sagte: ‘Kauf dir, was immer dein Herz begehrt! Mach dir eine Freude, wenn dir danach ist! Schau nicht aufs Geld, es ist genug da!’ Anfangs widerstrebte es mir, unser Geld mit vollen Händen auszugeben, aber wenn man immer wieder dazu gedrängt wird, und wenn man so viel Zeit allein verbringen muss wie ich, wächst man allmählich in dieses Verschwenderleben hinein und findet irgendwann nichts mehr dabei, aus dem Vollen zu schöpfen und sich jeden Wunsch, selbst den teuersten, ohne Gewissensbisse zu erfüllen. Man wird ja nie gerügt. Niemand sagt: ‘Jetzt reicht es aber. Diesmal hast du den Bogen überspannt. Überlege dir beim nächsten Mal, ob es eine preiswertere Anschaffung nicht auch tut!’ Irgendwann ist einem nur das Beste gerade noch gut genug.“ Sie drehte sich langsam um. Ihre Augen schwammen in Tränen.

„Was meinen Sie, Bernadette, wäre es wohl möglich, dass Sie Ihre Ansprüche Ihrem Mann zuliebe etwas zurückschrauben?“, fragte Dr. Härtling. „Wenn er nicht mehr so viel Geld zu verdienen braucht, braucht er nicht mehr so viel zu arbeiten, und wenn er nicht mehr so viel zu arbeiten braucht, hat er zwangsläufig mehr Zeit für Sie. Ganz abgesehen davon, dass weniger Stress seiner Gesundheit sehr zuträglich wäre.“

 

„Da Thorsten sich so wenig um mich kümmern konnte, habe ich versucht, mir mein Leben auf eine andere Weise so angenehm wie möglich zu gestalten.“

„Hat es Sie glücklich gemacht?“, fragte Sören Härtling.

„Nein.“ Bernadette kam zurück und setzte sich wieder. „Ich hätte lieber mehr von meinem Mann gehabt.“

„Wenn er heute Abend nach Hause kommt, reden Sie mit ihm. Sagen Sie ihm klipp und klar, dass Sie nie sein Geld, sondern immer nur ihn haben wollten! Erklären Sie ihm, dass dieser ganze Kaufrausch lediglich eine Ersatzhandlung war, mit der Sie Ihrer auf gezwungenen Einsamkeit beizukommen versuchten!“

„Glauben Sie, dass ich ihn damit veranlassen kann, einen Gang zurückzuschalten? Er hat sich selbst eine Tretmühle geschaffen, aus der er nicht mehr herauskommt.“

„Nicht allein“, sagte Dr. Härtling. „Aber mit Ihrer Hilfe wird es ihm gelingen.“

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