Ärzte, Liebe, Schicksal: Arztroman Sammelband 3 Romane

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8

Am Montagmorgen stand Marianne Rath um neun Uhr auf. Sie musste erst um halb elf in der Schule sein und freute sich auf ein gemeinsames Frühstück mit Harry. Sie hatte das Wochenende in seinem Atelier verbracht. Es war wunderschön gewesen. Sie hatten sich immer wieder geliebt - bis zur totalen Erschöpfung.

Doch nun begann allmählich wieder der Ernst des Lebens - von dem Harry Burg so überhaupt nichts wissen wollte. Das war das einzige, was Marianne an ihm auszusetzen hatte. Ansonsten fand sie ihn völlig in Ordnung. Er sah gut aus, war intelligent, man konnte mit ihm über alles reden, und er war ein sehr sinnlicher, äußerst einfallsreicher Liebhaber.

Marianne ging ins Bad. Sie machte einen kurzen Abstecher in die Küche und füllte Wasser und Kaffee in die Filtermaschine. Anschließend duschte sie. Als sie aus dem Bad kam, war sie angezogen, frisiert und geschminkt, und im Atelier roch es verlockend nach frischem Kaffee, doch das konnte Harry nicht zum Aufstehen bewegen.

„He, du Faulpelz!“, rief Marianne. „Raus aus den Federn!“ Harry gab einen unwilligen Grunzlaut von sich. „Es ist ein wunderschöner Tag!“ informierte Marianne ihn.

Er legte sich ein Kissen aufs Gesicht.

„Ist mir egal“, kam es dumpf darunter hervor.

„Sag mal, schämst du dich nicht, hier so herumzulungern?“

Er nahm das Kissen vom grinsenden Gesicht. „Nein.“

„Andere Leute arbeiten schon längst“, erinnerte Marianne.

„Das ist deren Sache.“

„Kommst du dir nicht unnütz vor, wenn du so überhaupt nichts tust?“

„Ich kann es mir leisten, nichts zu tun“, behauptete der junge Mann.

„Es ist nicht richtig, dass du deinem Vater mit vierundzwanzig Jahren noch immer auf der Tasche liegst. Du bist gesund. Du bist kräftig. Du kannst arbeiten und dir deinen Lebensunterhalt selbst verdienen.“

„Ich arbeite ja“, gab Harry zurück, ohne rot zu werden. Über dem zerwühlten Bett, in dem er lag, strahlte ein blauer Himmel.

„Ja, alle heiligen Zeiten mal“, erwiderte Marianne leicht verstimmt.

Er setzte sich auf.

„Man kann einen Künstler nicht wie einen Beamten in ein starres Arbeitszeitkorsett pressen“, belehrte er sie. „Er muss sich frei entfalten können. Jeder Zwang schadet seiner Kreativität.“

„Wann gedenkst du endlich wieder ein Bild zu malen?“

Er sah sie mit schief geneigtem Kopf an.

„Wann wirst du endlich begreifen, dass ein Künstler nicht bloß mit den Fingern zu schnippen braucht, und schon hat er eine Idee? So etwas lässt sich nicht erzwingen. Wenn der Einfall kommt, ist er da, und dann werde ich ihn auf der Leinwand sichtbar machen.“

„Und in der Zwischenzeit lebst du vom Geld deines Vaters.“

Er legte sich wieder hin.

„Ich befinde mich in der glücklichen Lage, nur für meine Kunst leben zu dürfen, auf nichts anderes brauche ich mich zu konzentrieren. Was meinst du, wie viele Maler mich darum beneiden. Sie müssen Gelegenheitsjobs annehmen, um irgendwie zu überleben, müssen zwischendurch immer wieder darben, haben bei jedermann Schulden. Ich schulde niemandem auch nur einen Pfennig.“

„All das Geld, das du von deinem Vater bekommst, schuldest du ihm“, behauptete Marianne.

Doch Harry sah das anders.

„Falsch“, sagte er. „Er leiht es mir ja nicht. Er gibt es mir.“

„Ich würde es nicht nehmen.“

Harry lachte.

„Warum sollte ich so verrückt sein, ein Geschenk meines Vaters abzulehnen?“

„Ich würde das nicht als verrückt bezeichnen“, entgegnete Marianne rau.

„Sondern?“

„Das hat meiner Ansicht nach etwas mit Stolz zu tun“, erklärte die junge Lehrerin.

„Soll ich meinen Vater beleidigen? Soll ich ihn vor den Kopf stoßen? Soll ich ihm sagen, ich will dein Geld nicht mehr?“

„Ich bin sicher, es würde ihm Freude machen, zu hören, dass du sein Geld nicht mehr brauchst, sondern endlich auf eigenen Füßen stehst.“

„Und wovon soll ich dann leben? Man kennt mich noch nicht. Ich muss meine Bilder für ’nen Appel und ’n Ei hergeben.“

„Wer von seiner Kunst nicht leben kann, der sollte sie als Hobby betrachten.“

Harry sah Marianne entgeistert an.

„Ich bin nicht auf die Kunstakademie gegangen, um die Malerei nach Feierabend und am Wochenende zu betreiben.“

„Da tust du lieber überhaupt nichts, nicht wahr?“ So langsam geriet sie richtig in Wut.

„Ich male, wenn ich eine Eingebung habe.“

„Wie kommt es, dass andere Maler solche Eingebungen viel öfter haben?“, wollte Marianne wissen.

„Die sind vielleicht mehr motiviert als ich.“

„Was würde dich mehr motivieren?“

„Eine erheblich größere Nachfrage nach meinen Werken würde mich sicher anspornen.“

„Ich habe mit meinem Bruder gesprochen“, sagte Marianne. Ihr Bruder hatte eine Firma, die Geschäftslokale und Lagerhallen einrichtete. „Er hätte Arbeit für dich.“

„Ich mache mich doch nicht zum Sklaven deines Bruders! Von dem Hungerlohn, den er mir zahlen würde, könnte ich nicht leben. Und dafür müsste ich von morgens bis abends schuften und auch noch tausendmal ‘Dankeschön’ sagen.“ Er klopfte mit der flachen Hand auf die Matratze. „Komm zu mir!“

„Nein.“ In ihrem Inneren hatte es irgendwie einen Knacks gegeben.

„Bitte“, sagte Harry Burg mit sanftem Nachdruck.

„Es wird Zeit, dass du aufstehst“, erwiderte sie kühl.

Er lachte: „Ich kann nicht.“

„Du willst nicht.“

„Ich kann es nicht, selbst wenn ich wollte“, behauptete er. „Ich hänge irgendwie mit Widerhaken an diesem Bett fest. Erfahrungsgemäß gibt es mich erst gegen Mittag frei.“

„Kennst du die Steigerung von faul?“

Er grinste. „Faul stinkfaul - zu faul zum Stinken.“

„Genau das bist du - zu faul zu allem.“

„Nicht zu allem“, widersprach er. „Ich denke, das habe ich dir an diesem Wochenende hinlänglich bewiesen, und ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich annehme, dass es dir gefallen hat.“

„Muss ich nun allein frühstücken, oder kommst du raus?“

Er dehnte und streckte sich ächzend.

„Ich frühstücke für mein Leben gern im Bett.“

Marianne ging in die Küche. Sie ärgerte sich über Harrys Faulheit, auf die er auch noch stolz war. Der Ärger schlug sich auf ihren Magen, deshalb verzichtete sie darauf, etwas zu essen. Sie trank nur eine halbe Tasse Kaffee mit Milch. Dann kehrte sie zu Harry zurück und sagte mit vibrierender Stimme: „Tut mir leid, Harry, aber ich komme mit deiner übertriebenen Faulheit einfach nicht klar.“

„Einen Künstler kann man nicht mit normalen Maßstäben messen“, versuchte er sie zu belehren.

„Du bist ein Parasit, ein arbeitsscheues Individuum. So sieht es aus. Und ich schäme mich für dich. Du lachst über all die fleißigen Menschen, die für weniger Geld, als dir dein Vater schenkt, zur Arbeit gehen, wälzt dich träge im Bett herum und führst ein absolut nutzloses Dasein. Ich habe versucht, mich damit abzufinden, aber ich kann es nicht. Du bist ein Taugenichts, ein Faultier, ein Herumtreiber. Mit so einem Menschen möchte ich nicht länger zusammen sein.“

Er setzte sich mit einem jähen Ruck auf.

„Wie war das?“

„Es tut mir leid, Harry.“ Ihre Augen schwammen in Tränen.

„Ich fürchte, ich konnte deiner kleinen Ansprache vorhin nicht richtig folgen. Wie darf ich das Gesagte verstehen?“ Sie putzte sich die Nase. „Ist es aus zwischen uns, Marianne? Lässt du mich stehen? Gibst du mir den Laufpass?“

Sie schlug ihm mit belegter Stimme eine Beziehungspause vor.

„Eine Beziehungspause?“, fragte er ärgerlich. „Was soll der Blödsinn? Willst du mich nicht mehr sehen, bist du aber zu feige, um jetzt gleich Schluss zu machen?“

„Nein, Harry ...“

„Ich dachte, du liebst mich.“ Er starrte sie zornig an.

„Das tue ich.“

„Wie kannst du mich dann so eiskalt abservieren?“, wollte er mit schneidender Stimme wissen.

„Ich serviere dich nicht ab“, widersprach Marianne.

„Du willst mich für eine Weile nicht mehr sehen.“

Sie nickte, ohne ihn anzuschauen. „Ja.“

„An welche Zeitspanne hast du dabei gedacht?“, fragte er zynisch. „An einen Monat? An ein halbes Jahr? An ein ganzes Jahr?“

„Ich möchte dir Gelegenheit geben, über die Sinn und Nutzlosigkeit deines Daseins nachzudenken.“

„Was soll das?“m brauste er auf. „Willst du mich erziehen? Ich bin nicht eines von deinen Schulkindern. Ich bin ein erwachsener Mensch.“

„Dann lebe gefälligst auch wie einer“, gab sie lauter zurück, als sie es eigentlich gewollt hatte.

Harry verdrehte die Augen.

„Großer Gott, unsere Beziehung war so schön. Warum machst du sie kaputt?“

„Ich möchte, dass du deinem Leben endlich einen Sinn gibst“, erklärte sie. „Ich möchte dich achten, nicht verachten.“

Er sah sie konsterniert an.

„Du verachtest mich?“

„Ich verachte das Leben, das du führst.“

„Ich werde es nicht ändern“, sagte er trotzig.

„Nun“, sagte sie frostig, „solange du es nicht änderst, kann ich nicht mehr mit dir zusammen sein.“

Er betrachtete sie entgeistert.

„Du erpresst mich. Du setzt mir das Messer an die Brust.“

„Du lässt mir keine andere Wahl.“

„Und was ist, wenn ich auf stur schalte?“, wollte Harry Burg wissen.

Marianne sah ihn flehend an und schüttelte beschwörend den Kopf.

„Das solltest du lieber nicht tun.“

 

„Was ist aber, wenn ich es doch tue?“, fragte Harry gereizt.

„Dann müsste ich mich - so bedauerlich ich es auch fände - von dir trennen“, erwiderte Marianne Rath tonlos.

9

Dr. Härtling entband eine dreißigjährige, robuste Patientin von ihrem dritten Baby. Der Vater war bei allen Geburten dabei gewesen, und er hatte sich jedes Mal elender gefühlt als seine Frau. Auch diesmal war er wieder bleich wie kaltes Fett, und er zitterte und hatte dicke Schweißtropfen auf der hohen Stirn, obwohl die Niederkunft völlig problemlos gewesen war und die Mutter einem gesunden Knaben das Leben geschenkt hatte.

Der Chefarzt der Paracelsus-Klinik beglückwünschte das Ehepaar zu seinem Stammhalter und verließ den Kreißsaal. In seinem Büro wartete ein Mann Mitte Vierzig auf ihn.

Er war mittelgroß, korpulent und hatte eine Glatze. Seine Oberlippe zierte ein schmales braunes Bärtchen. Sein Name war Dr. Johann Broesigke. Er war Internist und wollte in der Paracelsus-Klinik arbeiten, doch leider eilte ihm kein guter Ruf voraus. Er war ein Spieler und ziemlich hoch verschuldet, und er verlor nach zwei Klaren bereits die Kontrolle über sich, wurde aggressiv und gewalttätig. Die meisten Klinikchefs wollten ihn nicht einmal zum Vorstellungsgespräch sehen, und auch Dr. Härtling hatte keine Lust, das ausgezeichnete Renommee der Paracelsus-Klinik aufs Spiel zu setzen, indem er Dr. Broesigke einstellte. Man hätte einen guten Internisten gebrauchen können, aber Johann Broesigke kam für Sören Härtling als Mitarbeiter nicht in Frage, deshalb gab er dem Arzt seine Bewerbungsunterlagen zurück und bedauerte, ihm einen ablehnenden Bescheid geben zu müssen. Dr. Broesigke erweckte einen Moment lang den Eindruck, als wollte er sich auf Sören stürzen und ihn verprügeln. Seine Kiefer mahlten, seine Wangenmuskeln zuckten, und seine Augen verschossen Blitze.

„Na schön!“, knurrte er schließlich. „Na schön, dann eben nicht!“ Er stürmte aus dem Raum und schleuderte die Tür hinter sich zu.

Moni Wolfram, Sörens Sekretärin, erschien sogleich und sah den Chefarzt besorgt an.

„Ist alles in Ordnung, Chef?“

„Ja, Moni“, antwortete Dr. Härtling. „Danke.“

„Dieser Mann hatte einen Blick, als könnte er einen Mord begehen“, sagte Moni schaudernd.

„Er sieht nicht ein, dass er für uns nicht der Richtige ist“, gab Sören Härtling gelassen zurück.

„Vor dem würden sich unsere Patienten ja fürchten.“

Der Leiter der Paracelsus-Klinik nickte.

„Deshalb habe ich seine Bewerbung abgelehnt.“

Schwester Annegret klopfte an die offene Tür.

„Ah, Annchen, kommen Sie herein“, sagte Dr. Härtling.

„Eben bin ich auf dem Flur diesem Patientenschreck begegnet“, sagte die alte Pflegerin. „Er hätte mich beinahe umgerannt. Ein Arzt wie er sollte sich um einen Job in der Pathologie bewerben. Auf lebende Menschen sollte man den nicht loslassen.“

„Er wird das früher oder später selbst einsehen“, gab Sören Härtling lächelnd zurück.

Annegret trug eine Flügelmappe unter dem Arm. Dr. Härtling wusste, was da drin war: Die beiden Kapitel ihres schriftstellerischen Gehversuchs. Moni Wolfram ging hinaus, und es war Annegret anzusehen, dass sie sich lieber nicht von ihrer Mappe getrennt hätte.

„Schön, dass Sie daran gedacht haben, Annchen“, sagte Sören Härtling.

Die Pflegerin drückte die Mappe gegen ihre Brust.

„Ich habe mir die beiden Kapitel noch einmal angesehen, Chef.“

„Und?“

Schwester Annegret verzog das Gesicht.

„Ich sollte sie vielleicht besser wieder mitnehmen.“

„Das können Sie - aber erst, nachdem ich sie gelesen habe.“

Annegret seufzte.

„Das Ganze ist stümperhaft konzipiert, langweilig geschrieben und schlecht formuliert.“ „Niemand erwartet, dass Sie mit Ihrem Erstlingswerk gleich den Literatur-Nobelpreis gewinnen“, entgegnete Dr. Härtling.

„Ich hätte die Finger davon lassen sollen“, sagte Annegret. „Wie konnte ich glauben, was meine Freundin kann, das kann ich auch?“

Der Chefarzt streckte die Hand verlangend aus.

„Nun geben Sie’s schon her, Ihr Manuskript.“

„Sie dürfen es hier auf keinen Fall herumliegen lassen. Ich möchte nicht, dass es in dieser Klinik außer Ihnen noch jemand liest.“

„Ich werde es in meinen Schreibtisch einschließen“, versprach Dr. Härtling. „Zufrieden?“

Endlich überließ ihm die alte Pflegerin die Mappe. Er legte sie vor ihren Augen in die linke obere Schreibtischlade und schloss ab.

„Warum habe ich Ihnen nur von diesen zwei Kapiteln erzählt?“, stöhnte Schwester Annegret und schlich hinaus.

Zwei Stunden später schaute Dr. Thorsten Burg bei Sören herein. Er hatte eine Appendektomie, eine Meniskus- und eine Leistenbruchoperation hinter sich und sah müde und abgespannt aus, aber er hätte mit Sicherheit nicht zugegeben, dass die Arbeit ihn mal wieder arg geschlaucht hatte.

„Na, Thorsten, wie geht’s?“, fragte Sören Härtling freundlich.

„Es geht.“

Der Leiter der Paracelsus-Klinik zeigte auf den Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand.

„Setzen Sie sich!“

„Danke.“

„Kaffee?“, fragte Dr. Härtling.

„Gute Idee.“ Dr. Burg fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er war nicht so fröhlich wie sonst. Irgendetwas schien ihn zu bedrücken. Sören Härtling drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage.

„Moni ...“

„Wenn Sie Kaffee möchten - der läuft bereits durch, Chef.“

„Sie sind die Beste.“

Moni lachte.

„Gute Sekretärinnen können hellsehen, wussten Sie das nicht?“

Kurz darauf bekamen die beiden Ärzte ihren Kaffee.

„Haben Sie irgendetwas auf dem Herzen, Herr Kollege?“, erkundigte sich Dr. Härtling, während er Kaffeesahne in die schwarze Brühe rührte.

„Ich hoffe, Sie sind gut nach Hause gekommen.“

„O ja“, antwortete Dr. Härtling. „Es war nicht viel Verkehr.“

„Sie sind früh gegangen.“

„Ich war müde“, erwiderte Sören Härtling.

„Die anderen Male sind Sie mit Jana länger geblieben.“ Es klang wie ein leiser Vorwurf.

„Ich sagte bereits ...“

Dr. Burg sah Dr. Härtling ernst an.

„Es hat Ihnen bei uns nicht gefallen, nicht wahr?“

„Unsinn, Thorsten, es war ein netter Abend.“ Sören trank einen Schluck von seinem goldbraunen Kaffee.

„Ich möchte mich entschuldigen“, sagte der Chirurg.

„Weshalb denn?“

Dr. Burg kräuselte die Nase und wiegte unangenehm berührt den Kopf.

„Na ja, ich hätte mich nicht so gehenlassen dürfen.“

„Sie waren vielleicht ein wenig überreizt, aber das kann schon mal vorkommen.“

„Ich habe zum ersten Mal so sehr die Kontrolle verloren“, gestand Thorsten Burg.

Dr. Härtling winkte großzügig ab. „Kein Problem.“

„Jana hat mich ganz entsetzt angesehen.“ Dr. Burg lächelte verlegen. „Ist ja auch nicht gerade die feine englische Art, die misslungenen Spareribs einfach in den Garten zu werfen. Aber ich habe mich so geärgert, dass sie ungenießbar waren, dass ich für einen Augenblick total die Beherrschung verlor.“

„Schwamm drüber. Vergessen wir’s!“

Als Dr. Burg seinen Kaffee trank, zitterte seine Hand.

„Würden Sie Jana ausrichten, dass ich meinen Ausrutscher sehr bedauere?“

„Aber natürlich, Thorsten. Wenn Sie das möchten.“

Der Chirurg zwang sich zu einem Lächeln. Es wurde eigentlich mehr eine hilflose Grimasse. „Und wenn wir wieder mal zusammenkommen, werde ich mich gesitteter benehmen, das verspreche ich.“

Sören Härtling hatte Mitleid mit dem tüchtigen Kollegen, ohne genau zu wissen, warum.

10

Harry Burg, der sensible Künstler, der sich von der eigenen Freundin missverstanden und ungerecht behandelt fühlte, reagierte auf Mariannes Beschluss mit kindischem Trotz. Er liebte Marianne Rath, doch deshalb durfte sie ihm noch lange keine solchen widersinnigen Bedingungen steifen. Arbeiten sollte er. Für weniger Geld, als er von seinem Vater bekam. Auf Vaters Geld sollte er verzichten. Er war doch nicht von allen guten Geistern verlassen! Eine Beziehungspause hatte sie erzwungen. Nun gut, er konnte damit leben. Er hatte seine alten Freunde in letzter Zeit sowieso stark - zu Mariannes Gunsten - vernachlässigt. Jetzt konnte er sich ihnen wieder mehr widmen. Kein Schaden ohne Nutzen. Vielleicht würde es ihnen beiden ganz guttun, wenn sie sich mal eine Weile nicht sahen. Umso schöner würde es hinterher sein, wenn sie wieder zueinander fanden.

Im Moment aber wollte Harry Burg seiner Freundin beweisen, dass sie den falschen Weg eingeschlagen hatte. Sie war zwar Lehrerin, aber er wollte sich trotzdem nicht von ihr schulmeistern lassen. Es war Zeit, dass er sich mal wieder bei seiner alten Clique blicken ließ. Es gab da ein Lokal in der Nähe des Hauptbahnhofs, das seit jeher von Künstlern frequentiert wurde.

Bestens gelaunt verließ er sein Atelier und machte sich auf den Weg dorthin, um mal wieder mit Gleichgesinnten zusammenzutreffen. Jetzt erst merkte er, wie sehr ihm das Gespräch mit anderen Künstlern gefehlt hatte. Von denen hatte ihn noch nie einer missverstanden.

Die Clique bewunderte und beneidete ihn. Er war der einzige Maler, der kein Bild zu verkaufen brauchte und trotzdem ein sorgenfreies, finanziell abgesichertes Leben führen konnte. Alle anderen standen unter starkem Leistungsdruck, unter permanentem beruflichem Erfolgszwang. Sie mussten Miete bezahlen, wenn sie nicht unter einer Isarbrücke oder auf einer Parkbank schlafen wollten, und ihr knurrender Magen zwang sie auch täglich, irgendwo irgendwie Geld aufzutreiben. Sie bemalten Gehsteige, zeichneten Porträts, ließen sich kurzfristig für jeden Job anheuern, der ein bisschen was einbrachte, während Harry Burg im angenehm warmen väterlichen Geldregen stand und nichts weiter zu tun brauchte, als die reichlichen Zuwendungen seines großzügigen alten Herrn mit vollen Händen auszugeben.

Das Lokal hieß „Boheme“, ein schmuddeliger Schuppen mit hässlichen braunen Wänden, wackeligen Stühlen und zerkratzten Tischen. Wer sich hier wohlfühlte, konnte wohl nicht ganz dicht sein. Dennoch war das „Boheme“ für viele Künstler die zweite Heimat. Es roch nach kaltem Rauch, nach Bier und Schnaps, nach Schweiß und billigem Parfüm, nach serbischer Bohnensuppe und Bratkartoffeln. Und die Typen, die hier herumlungerten, fügten sich so hervorragend in die Schmuddeligkeit des Lokals, als hätten sie ihr Äußeres gewissenhaft und mit einem guten Auge für Details darauf abgestimmt.

Der Besitzer des „Boheme“ hieß Bernd Lehmann. Er hatte sich selbst eine Zeitlang als Maler ziemlich erfolglos durchs Leben geschlagen und schließlich begriffen, dass sein Talent nicht ausreichte, um ihn zu ernähren, deshalb hatte er umgesattelt und der trunksüchtigen Wirtin des „Boheme“ - das damals noch „Enzianstüberl“ geheißen hatte - einen Heiratsantrag gemacht. Zwei Monate nach der Hochzeit hatte ihre Leber kapituliert. Sie war mit einer schweren Gelbsucht ins Krankenhaus gebracht worden, und eine Woche danach war Bernd Lehmann Witwer und alleiniger Besitzerdes „Enzianstüberls“ gewesen. Er hatte das Lokal umbenannt und im Laufe der Jahre zum Musentempel gemacht. Wann immer man sich als Künstler einsam oder unverstanden fühlte, kam man zu Bernd Lehmann ins „Boheme“, um Menschen zu treffen, die genauso einsam und unverstanden waren wie man selbst.

Breit wie ein Schrank stand Bernd hinter dem Tresen. Er war von dort nicht mehr wegzudenken.

Als Harry Burg das Lokal betrat, zapfte Bernd gerade Bier. Harry schnippte mit den Fingern und sagte: „Mach gleich mehr Gläser voll, Junge! Ich gebe für alle einen aus.“

Bernd riss erfreut die Augen auf.

„Harry! Dass du dich auch mal wieder bei uns blicken lässt!“

Harry Burg grinste breit und streckte Lehmann die Hand über den Tresen entgegen.

„Ich vergesse doch meine alten Freunde nicht.“

„Hat aber fast so ausgesehen.“ Lehmann schlug mit nassen Fingern kräftig ein. „Du warst bestimmt ein halbes Jahr nicht mehr hier.“

„Dafür wirst du mich von nun an wieder öfter sehen.“

„Das freut mich.“

Harry inhalierte die dicke Luft.

„Ich hab’s ohne den Mief hier einfach nicht mehr ausgehalten.“

„Oja, das ‘Boheme’ hat einen ganz speziellen, unverwechselbaren Geruch.“

 

„Der süchtig macht“, behauptete Harry. „Man kann gehen, wohin man will - irgendwann werden die Entzugserscheinungen so unerträglich, dass man unbedingt hierher zurückkehren muss.“ Lehmann nickte zustimmend.

„So soll es sein.“

„Wie geht es dir, Bernd?“

Lehmann zog die Mundwinkel nach unten.

„Ich habe Wasser in den Beinen.“

„Woher kommt das?“

Der Wirt zuckte die Schultern.

„Schwaches Herz!“

„Ein kraftstrotzender Mann wie du hat ein schwaches Herz?!“

Lehmann lachte gepresst.

„Kaum zu glauben, was?“ Er stellte weitere Gläser neben den Zapfhahn und begann sie mit hellem, schäumendem Bier zu füllen.

„Du siehst überhaupt nicht krank aus“, stellte Harry Burg verwundert fest.

„Ich fühle mich auch nicht krank - solange ich regelmäßig meine Tabletten nehme.“

„He! Ist das nicht Harry Burg, unser verlorener Sohn?“, rief jemand.

Harry drehte sich um und schaute in das magere, bartstoppelige Gesicht von Tassilo Maier. Seine Eltern hatten wohl gedacht: Wenn der arme Junge schon so wie Tausende anderer Menschen heißen muss, soll er wenigstens keinen alltäglichen Vornamen haben.

„Hallo, Tassilo“, sagte Harry.

Tassilo Maier klatschte begeistert in die Hände.

„Er ist es! Er ist es!“ Er umarmte Harry mit der ihm eigenen Herzlichkeit und führte ihn zu einem großen runden Tisch, an dem niemand saß, den Harry nicht kannte.

Lautes „Hallo!“ begrüßte den verlorenen Sohn. Harry schüttelte Hände, Hände, Hände ... Der Wirt brachte das von Harry ausgegebene Bier. Man ließ den Heimkehrer hochleben.

Harry saß neben Nikki Mandrakis - Mutter Deutsche, Vater Grieche - dem einzigen weiblichen Wesen in der trinkfesten Männerrunde. Nikki wurde von der Clique voll akzeptiert. Sie gehörte dazu wie der Schaum zum Bier. Sie war hübsch. Wenn sie sich nicht so schwarz wie eine Krähe gekleidet hätte, wäre sie noch hübscher gewesen. Dass sie einen schönen Körper hatte, wusste Harry von den Aktzeichnungen, die es von ihr gab. Zu sehen war es nicht, denn sie trug weite Pluderhosen und einen selbst gestrickten Pullover, der immer länger und weiter wurde. Ihr schwarzes Haar war lang und leicht gewellt. Sie hatte dunkelbraune, fast schwarze Augen, dicke schwarze Augenbrauen, und Harry fand es übertrieben, dass sie ihre Augenlider und ihre Lippen auch noch schwarz schminkte - aber das war nun einmal ihre Macke.

Nikki Mandrakis war Malerin, Aktmodell und Lebenskünstlerin, und sie hatte mit allen, die hier an diesem großen runden Tisch saßen, schon mal im Bett gelegen, nur mit Harry noch nicht - noch nicht!

„Gehst du noch mit dieser Tussi?“, fragte Nikki. Das Bier glänzte auf ihren schwarzen Lippen. „Wie hieß sie doch gleich ...?“

„Marianne“, sagte Harry.

„Ach ja, Marianne - die Kindergärtnerin.“

„Lehrerin“, stellte Harry richtig.

„Ach ja, die Lehrerin. Gehst du noch mit ihr?“

„Im Augenblick nicht“, antwortete Harry.

„Was heißt, im Augenblick nicht? Man geht entweder mit jemandem oder man geht nicht mit ihm.“

„Wir haben uns für eine Weile getrennt“, erklärte Harry.

In Nikki Mandrakis’ dunklen Augen erschien sogleich ein interessiertes Funkeln.

„Für eine Weile? Was soll denn der Blödsinn?“

„Es war nicht meine Idee.“

Nikki lachte: „Das kann ich mir denken!“

„Sie hat eine Beziehungspause verlangt.“

Nikki sah ihn erstaunt an.

„Und du hast eingewilligt?“

„Ich hatte keine andere Wahl.“

„Armer Harry.“ Nikki legte ihm die schmale Hand auf den Schenkel. Ihre Fingernägel waren - wie hätte es anders sein können - ebenfalls schwarz lackiert. Und bestimmt auch ihre Zehennägel. „Deine kleine Lehrerin macht mit dir, was sie will. Wozu braucht sie eine Beziehungspause? Möchte sie zwischendurch ein paar andere Männer ausprobieren?“

„Das mit Sicherheit nicht.“

„Wozu braucht sie ihre Freiheit?“, wollte Nikki Mandrakis wissen.

„Ich soll nachdenken“, antwortete Harry Burg offen.

„Worüber?“ Die schwarze Schönheit ließ nicht locker.

Harry hob die Schultern.

„Über sie. Über mich. Über meine Arbeit. Über das Leben, das ich führe ...“

„Was ist schlecht an dem Leben, das du führst?“, fragte Nikki.

„Es gefällt ihr nicht“, gestand Harry unumwunden.

„Jeder von uns würde sofort mit dir tauschen, wenn das möglich wäre. Du bist zu beneiden. Du lebst im Schlaraffenland. Dir fliegen die gebratenen Tauben in den Mund.“

Harry trank einen Schluck Bier.

„Und genau das soll ich ändern.“

„Verlangt Marianne das von dir?“, fragte Nikki Mandrakis völlig verständnislos.

Harry wischte sich mit dem Handrücken über die feuchten Lippen.

„Ja.“

„Sie muss bescheuert sein.“ Das schöne Mädchen schüttelte temperamentvoll den Kopf.

„Sie hat mich einen Taugenichts genannt, einen Parasiten“, brummte Harry, der froh war, sich einer Gleichgesinnten anvertrauen zu können.

„Soll ich dir mal was sagen? Ich wusste von Anfang an, dass das mit euch nicht gutgehen würde. Ihr seid zu verschieden. Ein knochentrockener, überkorrekter, langweiliger Finanzbeamter würde besser zu ihr passen.“

Harry musterte Nikki amüsiert.

„Und wer würde nach deiner Meinung besser zu mir passen?“

Sie drückte seinen Schenkel und sagte leise: „Zum Beispiel ich.“

Er hatte gewusst, dass sie das sagen würde!