Ärzte, Liebe, Schicksal: Arztroman Sammelband 3 Romane

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3

„Vati, bitte sei mir nicht böse“, sagte die achtzehnjährige Dana Härtling, als Sören das Wohnzimmer betrat, „aber ich finde dich leicht overdressed.“

Ihr Zwillingsbruder Ben nickte.

„Würde ich auch sagen.“

Dr. Härtling sah sich an.

„Was habt ihr an meiner Kleidung auszusetzen?“

„Viel zu elegant“, behauptete Dana.

„Wir sind schließlich eingeladen ...“

„Dr. Burg wird für euch grillen“, sagte Dana.

„Soll ich deshalb in der Lederhose bei den Burgs erscheinen?“, fragte Sören Härtling seine hübsche Tochter.

„Du hast ja gar keine Lederhose“, meldete sich die zehnjährige Josee, das Nesthäkchen der Familie, zu Wort.

Ottilie, die Wirtschafterin, erschien.

„Gut sehen Sie aus, Herr Doktor.“

Sören atmete auf. „Danke, Ottilie. Wenigstens Ihnen gefalle ich.“

Ihr Blick wanderte an ihm auf und ab.

„Hat Dr. Burg den Grillabend abgesagt?“

„Nein“, grollte Dr. Härtling. „Wieso?“

„Weil Sie so elegant angezogen sind“, sagte Ottilie.

Sören hob die Hände.

„Aus! Das reicht! Ich gehe mich umziehen!“

„Uns glaubt er ja nicht“, hörte er Dana sagen, während er aus dem Wohnzimmer eilte.

Draußen stieß er mit seiner sportlich flott gekleideten Frau zusammen. Jana musterte ihn überrascht.

„Schatz ...“

„Kein Wort mehr“, polterte Sören. „Ich weiß bereits Bescheid!“ Er verschwand im Schlafzimmer, holte einen kombinierten Anzug aus dem Schrank, zog ihn an, verzichtete auf die Krawatte und präsentierte sich fünf Minuten später wieder seiner kritischen Familie - und diesmal fand sein Outfit Gnade vor aller Augen.

Der vierzehnjährige Tom grinste von Ohr zu Ohr und sagte: „Jetzt hat keiner mehr was an dir auszusetzen.“

Sören wiegte mit einem ironischen Lächeln den Kopf.

„Da bin ich aber froh!“

4

Eine glückliche Familie waren die Burgs nicht. Sie waren einfach nur eine Familie. Man lebte mehr oder weniger nebeneinander her, pflegte seine Hobbys, kultivierte seine Neigungen, äußerte ungeniert die kostspieligsten Wünsche und erwartete vom Familienoberhaupt, dass es sie so rasch wie möglich erfüllte. Man praktizierte bei den Burgs eine Art Scheckbuch-Liebe. Je höher der Betrag war, der auf dem Scheck stand, desto größer musste - so wurde angenommen - die Liebe des Ausstellers sein.

Für Bernadette Burg, die reizende Gattin des gut verdienenden Chirurgen, war das Beste gerade gut genug. Sie kaufte ihre Garderobe in Rom, Paris und New York ein und besaß selbstverständlich ein eigenes Reitpferd, das ein kleines Vermögen gekostet hatte. Mit dem Erlös aus dem Verkauf ihres Schmucks hätte man die Bewässerung der halben Sahel-Zone finanzieren können. Sie hatte nicht viel von ihrem hart arbeitenden Mann, deshalb hielt sie sich auf diese Weise schadlos. Und hier biss sich die Katze in den Schwanz, denn Dr. Thorsten Burg war permanent gezwungen, viel Geld zu verdienen, um den kostspieligen Lebensstil seiner Lieben bestreiten zu können. Hätte er weniger gearbeitet, wäre das teure Kartenhaus eingestürzt.

Man konnte nicht sagen, dass Harry, der Sohn, und Bernadette, die Ehefrau, Thorsten Burg nicht mochten, nein, sie hingen sogar sehr an ihm und saugten ihm, ohne jede böse Absicht, das Blut aus. Sie waren Parasiten, doch das war nicht ihre, sondern Thorstens Schuld, denn er hatte sie dazu erzogen.

Harry Burg, zum Beispiel, war Maler. Er war auf der Kunstakademie gewesen, hatte Talent, wäre als Künstler aber verhungert, weil er prinzipiell nur dann arbeitete, wenn die Muse ihn küsste, und das war nur ganz, ganz wenige Male im Jahr. Er konnte es sich leisten, die übrige Zeit auf der faulen Haut zu liegen, brauchte nicht zu darben und hatte immer - dank Vaters Großzügigkeit - genug Spritgeld für seinen zweisitzigen Sportwagen in der Tasche. Damit er sich in aller Ruhe und völlig ungestört seiner sensiblen Kunst widmen konnte, hatte ihm Thorsten Burg erst kürzlich ein großes, teures Atelier gekauft.

All dem leistete Thorsten Burg unbewusst Vorschub, und Dr. Sören Härtling und seine Frau Jana fragten sich, wie lange das wohl gutgehen würde. Der Chirurg war schließlich kein Übermensch. Wenn er sich weiterhin tagtäglich so viel zumutete, würde er eines Tages unweigerlich zusammenklappen.

Sören hatte schon mal versucht, mit ihm darüber zu reden. Thorsten hatte unbekümmert gelacht und gesagt: „Machen Sie sich um mich keine Sorgen, Sören. Ich bin robuster, als ich aussehe. Ich liebe meinen Beruf. Warum also sollte ich ihn nicht ausüben?“

„Ich habe nicht gesagt, Sie sollen ihn nicht ausüben. Ich wollte Ihnen lediglich rechtzeitig nahelegen, ein wenig kürzer zu treten, ehe Sie den Raubbau an Ihrer Gesundheit bereuen müssen.“ „Ich weiß, was ich mir zumuten darf“, hatte Thorsten Burg lächelnd erwidert.

„Sie haben in den vergangenen vier Nächten nur insgesamt acht Stunden geschlafen.“

„Ich gleiche das Schlafmanko nächste Woche aus“, hatte Dr. Burg gesagt. „Da mache ich nämlich mit meiner Familie Urlaub auf Sylt.“

Dr. Härtling hatte es aufgegeben, dem sympathischen, stets gut gelaunten Kollegen ins Gewissen zu reden. Wem nicht zu raten ist, dem ist nicht zu helfen, hatte er sich gesagt, und seither wartete er ohne jede Häme auf Thorsten Burgs vorprogrammierten Zusammenbruch.

Sie brachten der Hausfrau einen wunderschönen Blumenstrauß und dem Hausherrn einen guten Wein mit. Auch Bernadette Burg war salopp gekleidet. Sie hatte viel Geld in ihre gute Figur investiert, und ihr Gesicht war vor einem halben Jahr von einem brasilianischen Spezialisten geliftet worden. Der Pagenschnitt ihres vollen, rot gefärbten Haares machte sie jünger. Sie hatte dunkelbraune, intelligent und aufgeweckt blickende Augen, und es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn sie einen Liebhaber gehabt hätte. Doch diesbezüglich war Sören Härtling noch nichts zu Ohren gekommen.

Die Begrüßung fiel herzlich aus. Auch Harry, der Künstler, war da. Ein schmaler, feinfühliger Mann von vierundzwanzig Jahren, ein wenig nervös, ein bisschen zappelig, der seinem Vater sehr ähnlich sah.

„Freut mich, Sie zu sehen“, sagte er zu Jana Härtling.

Sören gab ihm die Hand.

„Hallo, Michelangelo, was macht die Kunst?“

„Ich habe jetzt ein eigenes Atelier.“

Sören nickte.

„Hab’ ich gehört.“

„Sie müssen mich da mal besuchen.“

„Wenn ich es einrichten kann, sehr gern“, sagte Dr. Härtling. „Wann werden Sie mit Ihren Bildern groß rauskommen?“

Der Maler lachte.

„Die Zeit ist noch nicht reif für Harry Burg.“

Der Chirurg hatte den großen Holzkohlengrill bereits vorbereitet. Nach dem Begrüßungsdrink wollte er ihn mit einer Lötlampe anheizen.

Man nahm zwanglos auf der Terrasse Platz, und jeder bekam von Thorsten Burg den Drink, den er haben wollte. Sie stießen auf einen netten Abend an.

Harry Burg sagte jetzt schon, dass er nicht zum Essen bleiben könne, weil er eine Verabredung habe. Aber eine Stunde konnte er sich noch Jana und Sören Härtling widmen.

Sein Vater war an diesem Sonnabend schweigsamer als sonst. Harry und seine Mutter bestritten einen Großteil der Unterhaltung. Niemand dachte sich etwas dabei. Erst als Harry sich verabschiedet hatte und gegangen war, stockte das Gespräch hin und wieder.

Die Spareribs misslangen. Das machte Thorsten Burg so wütend, dass er sie weit in den Garten hineinschleuderte. Sören hatte den Kollegen noch nie so sehr in Rage erlebt. Er wechselte mit Jana einen raschen Blick, während Bernadette aufstand und ihren Mann zu beruhigen versuchte.

„Aber Liebling“, sagte sie beschwichtigend. „Nimm’s nicht so tragisch! Jedem kann einmal etwas danebengehen.“

„Nicht, wenn man Gäste hat“, stieß Dr. Burg, immer noch auf Hundert, heiser hervor. „Nicht, wenn man Gäste hat!“

„Denk an meinen letzten Truthahn“, erinnerte Bernadette sanft. „Wir hatten die Leitzmanns eingeladen - und du musstest was vom Chinesen holen, weil der blöde Vogel total verkohlt war.“

„Wir lieben chinesisches Essen“, sagte Dr. Härtling lächelnd.

„Nein, nein, es ist genug Fleisch da“, erwiderte die Frau des Chirurgen; „Wir bekommen euch ganz bestimmt satt, das ist überhaupt kein Problem.“ Sie eilte ins Haus und kam mit einer großen Fleischtasse wieder.

5

Harry Burg war mit Marianne Rath, einer hübschen blonden Lehrerin, verabredet. Er kannte sie seit einem halben Jahr und war seit dem Tag, an dem er sie in einem kleinen Antiquitätenladen in der Sendlinger Straße kennengelernt hatte, verliebt in sie. Auch sie liebte ihn, und es störte sie eigentlich nur eines an ihm: dass er so entsetzlich faul war. Aber das würde sie ihm abgewöhnen. In Jeans und karierter Bluse, mit wehendem blondem Haar, stieg sie zu ihm in den zweisitzigen Sportwagen und gab ihm übermütig einen Kuss.

„Na, konntest du dich zu Hause losreißen?“, fragte sie lächelnd.

„Wie du siehst“, gab Harry grinsend zurück.

„War’s schwierig?“

Harry Burg schüttelte den Kopf.

„Überhaupt nicht. Obwohl die Härtlings sehr nette Leute sind.“

Marianne tippte mit dem Zeigefinger auf seine Nasenspitze.

„Ich bin auch nett.“

„Du bist netter“, grinste er breit. „Deshalb möchte ich den Abend auch lieber mit dir allein verbringen.“ Er fuhr los. Sein Ziel war sein neues Atelier, das ihnen gleichzeitig auch als Liebesnest diente. Die Räume waren riesig. Harry hätte die Kaufsumme dafür niemals aufbringen können. Dennoch war er seinem Vater nicht besonders dankbar, dass er das Atelier für ihn erworben hatte. Es war in seinen Augen eine Selbstverständlichkeit gewesen, wie alles, was mit Geld zu tun hatte.

 

„Kaffee?“, fragte Harry in der komplett ausgestatteten Küche. Kühlkombination, Geschirrspüler, E-Herd, Mikrowelle, Elektrogrill ... Es war alles vorhanden, doch die meisten Geräte benutzte Harry nicht. Er war schließlich Maler und kein Hobbykoch. Wenn er Hunger hatte, ging er entweder ins Restaurant, oder er schob irgendein tiefgefrorenes Fertiggericht in den Mikrowellenherd. Im Auftauen solcher Speisen hatte er es bereits zu einiger Perfektion gebracht. Seit er ein paarmal lauwarmes Zeug hinuntergeschlungen hatte, wusste er, dass die Zeitangaben auf den Packungen fast immer zu knapp bemessen waren.

„Kaffee“, sagte Marianne kopfschüttelnd. „Um diese Zeit lieber nicht mehr, sonst liege ich die ganze Zeit wach.“

Harry zog sie zu sich und küsste sie.

„Macht doch nichts. Ich weiß etwas, womit wir uns die Zeit vertreiben können.“

„Du Schlingel.“ Sie drehte sich aus seinem Griff. „Du denkst immer nur an das Eine.“

„Ist doch die schönste Nebensache der Welt. Teilen wir uns eine Pizza?“

„Okay.“

Nach der Pizza tranken sie Bier. Nach dem Bier stellte Harry zwei Campari-Wodka auf den Tisch. Über ihnen befand sich das schräge Glasdach. Sie konnten den abendlichen Himmel sehen. Er war mit funkelnden Sternen übersät. Harry nahm seinen Drink und legte sich aufs Bett. Nicht weit davon stand die Staffelei, um die er sich so selten kümmerte.

„Komm“, sagte er. „Leg dich neben mich!“

Marianne erfüllte ihm den Wunsch.

„Wenn ich manchmal hier so liege, habe ich den Eindruck, mich mitten im Weltall zu befinden“, sagte Harry. Er tastete nach Mariannes warmer, schlanker Hand. „Mir imponiert diese Weite, diese Größe. Angesichts dieser Unendlichkeit komme ich mir immer ganz klein und unbedeutend vor. Ob in diesem Augenblick irgendwo dort draußen auch zwei Liebende nebeneinander liegen und zu uns herüberschauen?“

„Keine Ahnung.“

Harrys Daumen strich sanft über Mariannes Handrücken.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir im gesamten Sonnensystem die einzigen Lebewesen sind.“

„Vielleicht gibt es anderswo auch Leben.“

Harry legte seine Wange an Mariannes Wange.

„Wie mögen sie wohl auf anderen Planeten aussehen?“

„Bestimmt nicht so wie wir“, behauptete sie.

„Warum nicht?“

„Weil die Evolution auf der Erde aus einer Kette von Zufällen besteht. Sie können sich auf einem anderen Planeten unmöglich genauso abgespielt haben. Die geringste Abweichung genügt aber, um die Dinge sich in eine völlig andere Richtung entwickeln zu lassen.“

Harry hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und flüsterte in ihr Ohr: „Wie klug du bist!“ Er roch den betörenden Duft ihres Haares und schlang die Arme um sie. In einer Ecke des Raumes stand ein Fernsehapparat, dessen Bildschirm diagonal mehr als einen Meter maß. Die Fernbedienung lag irgendwo neben dem Bett, aber Harry suchte sie jetzt nicht. Fernsehen konnte er auch allein. Jetzt war Marianne bei ihm. „Weißt du, was wir tun?“ fragte er.

„Was?“, fragte Marianne.

„Du suchst dir einen Stern aus, und wir geben ihm deinen Namen.“

Sie lachte. „Quatsch!“

„Komm, such dir einen Stern aus!“, drängte er. „Wenn ich dann mal allein hier liege, kann ich zu ihm hinaufschauen und an dich denken.“

Marianne machte ihm die Freude, und sie begossen die Taufe des Sterns mit Campari-Wodka. Dann stellten sie die leeren Gläser weg und küssten sich. Harrys Blut geriet langsam in Wallung. Er streichelte Mariannes jungen, schönen Körper unendlich zärtlich, und während er begann, die Knöpfe ihrer Bluse zu öffnen, hauchte er ihr sanft ins Ohr: „Ich liebe dich.“

6

Es hatte schon unterhaltsamere Abende bei den Burgs gegeben. Der Chirurg hatte Schuld daran, dass kein Gespräch so recht in Schwung kam. Sören Härtling nahm an, dass der Kollege heute etwas zu müde war, und deshalb blieben sie diesmal auch nicht so lange wie die anderen Male.

Als die Härtlings aufbrachen, sagte Bernadette Burg überrascht und wohl auch ein wenig enttäuscht: „Sie wollen schon gehen?“

„Wir müssen“, gab Sören Härtling lächelnd zurück. „Tut mir leid, ich bin ziemlich müde. Ich habe eine harte Woche hinter mir. Und ich glaube, Thorsten kann auch eine Mütze voll Schlaf gut gebrauchen.“

Thorsten Burg versuchte die Gäste nicht zu überreden, noch etwas länger zu bleiben. Sören schüttelte ihm die Hand.

„Sie haben ganz hervorragend gegrillt.“

„Freut mich, dass es Ihnen geschmeckt hat. Sind Sie auch satt geworden?“

„Mehr als satt“, versicherte Sören dem Gastgeber.

„War wieder ein sehr netter Abend“, sagte Jana Härtling zu Bernadette Burg. „Vielen Dank für die Einladung und die Mühe, die Sie sich gemacht haben.“

„War doch keine Mühe“, erwiderte die Frau des Chirurgen.

„Das nächste Mal sehen wir uns bei uns“, sagte Dr. Härtling.

Die Burgs begleiteten sie zu ihrem Wagen und wünschten ihnen eine gute Heimfahrt.

Während der Fahrt sagte Jana dann: „Thorsten war heute irgendwie anders.“

„Er war nicht gut drauf“, gab Sören Härtling zurück, „das stimmt.“

„Ich hatte manchmal das Gefühl, es mit einem völlig anderen Menschen zu tun zu haben.“

„Er arbeitet zu viel“, sagte Dr. Härtling. „Ich sage es ihm immer wieder, doch er will einfach nicht kürzertreten.“

„Er braucht Geld. Er hat eine teure Familie.“

„Man kann dennoch nicht sagen, dass Bernadette und Harry ihn ausnutzen“, meinte Sören. „Sie verlangen nichts von ihm. Da er keine Zeit für seine Familie hat, überhäuft er sie anstatt mit Liebe mit Geld - als gäbe es da ein schlechtes Gewissen, das er beruhigen muss.“

„Wenn ich mit ihm verheiratet wäre, würde ich ihm sagen: ‘Ich will nicht dein Geld, sondern dich.’“

Es war manchmal eine schwierige Gratwanderung zwischen Beruf und Privatleben. Dr. Härtling kannte das. Auf der einen Seite waren da die Patienten, kranke Menschen, die ihn brauchten, auf der anderen Seite war die Familie, die auch ein Anrecht auf ihn hatte. Es war nicht immer leicht, es beiden Seiten recht zu machen. Dazu gehörte sehr viel Geschick, und Sören Härtling war froh, dass er darüber verfügte.

„Vielleicht sollte man Bernadette und Harry Burg empfehlen, sich mit weniger zufriedenzugeben“, sagte Jana nachdenklich. „Dann würde Thorsten keinen Sinn mehr darin sehen, so viel zu arbeiten.“

„Er hat sich da selbst in eine Tretmühle hineinmanövriert, aus der er nur sehr schwer wieder herauskommen wird.“

„Kannst du ihm dabei nicht helfen?“ Jana blickte ihren Mann fragend an.

„Schon“, nickte Sören Härtling, „aber nur, wenn er sich auch wirklich helfen lassen will.“

„Wenn die Wesensänderung, die mir heute an ihm aufgefallen ist, fortschreitet, wird Bernadette eines Tages feststellen: Das ist nicht mehr der Mann, den ich geheiratet habe - und dann wird sie ihn möglicherweise verlassen.“

Sören schüttelte verständnislos den Kopf.

„Was manche Leute doch für ein verkorkstes Leben führen.“

Sie kamen nach Hause. Stille herrschte in ihrer gemütlichen Villa. Eine Stille, die Jana und Sören nicht stören wollten, deshalb schlüpften sie aus den Schuhen und schlichen in Socken und Strümpfen in ihr Schlafzimmer. Jana entkleidete sich und ging ins Bad. Sören folgte ihr. Zehn Minuten später schlüpfte Jana in ihren Morgenrock und sagte leise: „Ich sehe noch schnell nach den Kindern.“ Sie war kaum weg, da kam sie schon wieder zurück, und Sorge flackerte in ihrem Blick.

„Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“, fragte Dr. Härtling.

„Josee ist nicht in ihrem Zimmer“, stieß Jana beunruhigt hervor.

„Nicht? Wo ist sie denn dann?“

„Ich weiß es nicht“, flüsterte Jana.

Sie machten sich auf die Suche nach der Kleinen. Bei Tom war sie nicht. Er schlief mit tiefen, regelmäßigen Atemzügen und bekam nicht mit, dass seine Eltern kurz in seinem Zimmer waren. Bei Ben war sie auch nicht. Jana und Sören fanden das Nesthäkchen schlafend in Danas Bett. Dana war wach. Um Josees Schlaf nicht zu stören, stand sie auf und ging mit den Eltern vor die Tür ihres Zimmers.

„Wieso schläft Josee bei dir?“, fragte Jana Härtling ihre große Tochter.

„Sie hat mich darum gebeten“, antwortete Dana leise.

„Warum?“

„Weil sie Angst hatte“, erwiderte Dana, ein Gähnen mühsam unterdrückend.

„Angst wovor?“, wollte Sören Härtling wissen.

„Tom hat einen Film aus der Videothek geholt.“ Das gestand das Mädchen nur zögernd ein.

Sörens Blick verfinsterte sich.

„Da werde ich wohl morgen ein ernstes Wort mit ihm reden müssen.“

„Ihn trifft keine Schuld“, verteidigte Dana den Vierzehnjährigen. „Der Streifen war jugendfrei.“

„Was war das denn für ein Film?“, fragte Sören.

„Eine Fantasystory mit Elfen, guten und bösen Zauberern, Drachen und Hexen. Schöne Bilder. Eine spannende Geschichte, bei der kein Tropfen Blut geflossen ist. In jedem Grimm-Märchen ist mehr Brutalität. Warum sich Josee trotzdem so sehr gefürchtet hat, ist mir ein Rätsel.“

„Vielleicht hat sie die Geschichte in ihrer Fantasie weitergesponnen“, vermutete Jana Härtling.

„Möglich“, meinte Dana.

„Wenn es dir unbequem ist, mit Josee in einem Bett zu hegen, kannst du in ihr Zimmer gehen“, sagte Jana.

Dana schüttelte den Kopf.

„Ist nicht so schlimm. Ich bleibe lieber bei Josee - für den Fall, dass sie aufwacht und wieder Angst hat. Gute Nacht, Mutti! Gute Nacht, Vati!“ Sie küsste Jana und Sören.

„Gute Nacht, Dana“, sagte Jana.

„Gute Nacht“, sagte Sören.

„Wie war’s bei den Burgs?“, fragte Dana noch, bevor sie in ihr Zimmer trat. „Nett?“

„Ja“, antwortete Sören rein mechanisch, und Dana zog sich zurück.

7

Sonntagmorgen frühstückte die Familie Härtling auf der Terrasse. Tom hatte keinen blassen Schimmer, dass Josee die Nacht nicht in ihrem Zimmer verbracht hatte. Josee war verlegen und wich dem Blick ihres Vaters immer wieder aus. Nach dem Frühstück sagte Sören Härtling: „Tom.“

„Ja, Vati?“

Sören sah seinen Filius streng an.

„Ich möchte, dass du dir die Filme, die du aus der Videothek holst, in Zukunft besser allein ansiehst.“

„Wieso?“

„Josee hat sich gefürchtet.“

„Ehrlich?“ Tom war überrascht. Er schaute zu seiner kleinen Schwester hinüber. „Wovor denn?“

„Ich war doof“, erklärte Josee. „Der Film war überhaupt nicht zum Fürchten, Vati. Im Gegenteil, er war manchmal sogar zum Lachen.“

„Wieso hast du dich dann nicht allein zu bleiben getraut?“, wollte Sören Härtling wissen.

Josee nagte an ihrer Unterlippe.

„Da ... da kam so ein hässliches Ungeheuer vor ...“

„Dieser borstige Wurm mit den glühenden Augen?“, fragte Tom.

Josee nickte.

„Ja. Ich ... ich bildete mir ein, er hätte sich in meinem Schrank versteckt und würde herauskommen, sobald ich schlafe. In diese Angst habe ich mich so sehr hineingesteigert, dass ich zu Dana gehen und sie bitten musste, mich bei ihr schlafen zu lassen.“

Tom staunte.

„Du hast bei Dana geschlafen?“

„Ja“, antwortete Josee kleinlaut.

„Wegen dieses lächerlichen Wurms?“, fragte Tom verständnislos.

„Ich sagte ja schon, ich war doof“, gab Josee verlegen zurück.

„Darf ich euch trotzdem bitten, in Zukunft nur noch Filme einzulegen, die keine so unerfreulichen Nachwirkungen haben, wenn Mutti und ich nicht zu Hause sind?“, fragte Dr. Härtling in die Runde. Allgemeines Nicken. „Fein“, sagte Sören, und damit war die Sache vom Tisch.