Gesicht des Zorns

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Aus der Reihe: Ein Zoe Prime Fall #5
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Gesicht des Zorns
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GESICHT
DES
ZORNS
(Ein Zoe Prime Fall—Buch Fünf)
B L A K E   P I E R C E
Aus dem Amerikanischen von Tim Manzella
Blake Pierce

Blake Pierce ist die Autorin der RILEY-PAGE-Bestsellerreihe, die siebzehn Krimis um die FBI-Spezialagentin umfasst. Aus ihrer Feder stammt außerdem die vierzehnbändige MACKENZIE-WHITE- Krimiserie. Darüber hinaus sind von ihr die Krimis um AVERY BLACK (sechs Bände), KERI LOCKE (fünf Bände), die Krimiserie das MAKING OF RILEY PAIGE (sechs Bände), die KATE-WISE- Krimiserie (sieben Bände), die Psychothriller um JESSIE HUNT (vierzehn Bände), die Psychothriller-Trilogie AU PAIR, die ZOE-PRIME-Krimiserie (bislang fünf Bände), die neue Krimireihe um ADELE SHARP und die Cosy-Krimi-Reihe LONDON ROSES EUROPAREISE, deren erster Band hier vorliegt, erschienen.

Als begeisterte Leserin und lebenslanger Fan des Krimi- und Thriller-Genres freut sich Blake immer, von ihren Leserinnen und Lesern zu hören. Bitte besuchen Sie www.blakepierceauthor.com, um mehr zu erfahren und in Kontakt zu bleiben.


Copyright © 2020 von Blake Pierce. Alle Rechte vorbehalten. Vorbehaltlich der Bestimmungen des U.S. Copyright Acts von 1976 darf kein Teil dieser Veröffentlichung ohne vorherige Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt oder übertragen, in einer Datenbank oder einem Datenabfragesystem gespeichert werden. Dieses eBook ist ausschließlich für Ihre persönliche Nutzung lizensiert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer weiteren Person teilen möchten, erwerben Sie bitte eine zusätzliche Ausgabe für jeden Empfänger. Wenn Sie dieses Buch lesen und es nicht erworben haben, oder es nicht ausschließlich für Ihren Gebrauch erworben wurde, geben Sie es bitte zurück und erwerben Ihre eigene Ausgabe. Danke, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Es handelt sich hier um eine erfundene Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle beruhen entweder auf der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, ob lebend oder tot, ist völlig zufällig. Titelbild Copyright Fernando Batista, verwendet mit Lizenz von Shuitterstock.com.

BÜCHER VON BLAKE PIERCE

LONDON ROSES EUROPAREISE

MORD (UND BAKLAVA) (Band #1)

ADELE SHARP MYSTERY-SERIE

NICHTS ALS STERBEN (Band #1)

NICHTS ALS RENNEN (Band #2)

NICHTS ALS VERSTECKEN (Band #3)

NICHTS ALS TÖTEN (Band #4)

DAS AU-PAIR

SO GUT WIE VORÜBER (Band #1)

SO GUT WIE VERLOREN (Band #2)

SO GUT WIE TOT (Band #3)

ZOE PRIME KRIMIREIHE

GESICHT DES TODES (Band #1)

GESICHT DES MORDES (Band #2)

GESICHT DER ANGST (Band #3)

GESICHT DES WAHNSINNS (Band #4)

GESICHT DES ZORNS (Band #5)

JESSIE HUNT PSYCHOTHRILLER-SERIE

DIE PERFEKTE FRAU (Band #1)

DER PERFEKTE BLOCK (Band #2)

DAS PERFEKTE HAUS (Band #3)

DAS PERFEKTE LÄCHELN (Band #4)

DIE PERFEKTE LÜGE (Band #5)

DER PERFEKTE LOOK (Band #6)

DIE PERFEKTE AFFÄRE (Band #7)

DAS PERFEKTE ALIBI (Band #8)

DIE PERFEKTE NACHBARIN (Band #9)

CHLOE FINE PSYCHOTHRILLER-SERIE

NEBENAN (Band #1)

DIE LÜGE EINES NACHBARN (Band #2)

SACKGASSE (Band #3)

STUMMER NACHBAR (Band #4)

HEIMKEHR (Band #5)

GETÖNTE FENSTER (Band #6)

KATE WISE MYSTERY-SERIE

WENN SIE WÜSSTE (Band #1)

WENN SIE SÄHE (Band #2)

WENN SIE RENNEN WÜRDE (Band #3)

WENN SIE SICH VERSTECKEN WÜRDE (Band #4)

WENN SIE FLIEHEN WÜRDE (Band #5)

WENN SIE FÜRCHTETE (Band #6)

WENN SIE HÖRTE (Band #7)

DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

BEOBACHTET (Band #1)

WARTET (Band #2)

LOCKT (Band #3)

NIMMT (Band #4)

LAUERT (Band #5)

TÖTET (Band #6)

RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

VERSCHWUNDEN (Band #1)

GEFESSELT (Band #2)

ERSEHNT (Band #3)

GEKÖDERT (Band #4)

GEJAGT (Band #5)

VERZEHRT (Band #6)

VERLASSEN (Band #7)

ERKALTET (Band #8)

VERFOLGT (Band #9)

VERLOREN (Band #10)

BEGRABEN (Band #11)

ÜBERFAHREN (Band #12)

GEFANGEN (Band #13)

RUHEND (Band #14)

GEMIEDEN (Band #15)

VERMISST (Band #16)

AUSERWÄHLT (Band #17)

EINE RILEY PAIGE KURZGESCHICHTE
EINST GELÖST

MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE

BEVOR ER TÖTET (Band #1)

BEVOR ER SIEHT (Band #2)

BEVOR ER BEGEHRT (Band #3)

BEVOR ER NIMMT (Band #4)

BEVOR ER BRAUCHT (Band #5)

EHE ER FÜHLT (Band #6)

EHE ER SÜNDIGT (Band #7)

BEVOR ER JAGT (Band #8)

VORHER PLÜNDERT ER (Band #9)

VORHER SEHNT ER SICH (Band #10)

VORHER VERFÄLLT ER (Band #11)

VORHER NEIDET ER (Band #12)

VORHER STELLT ER IHNEN NACH (Band #13)

VORHER SCHADET ER (Band #14)

AVERY BLACK MYSTERY-SERIE

DAS MOTIV (Band #1)

LAUF (Band #2)

VERBORGEN (Band #3)

GRÜNDE DER ANGST (Band #4)

RETTE MICH (Band #5)

ANGST (Band #6)

KERI LOCKE MYSTERY-SERIE

EINE SPUR VON TOD (Band #1)

EINE SPUR VON MORD (Band #2)

EINE SPUR VON SCHWÄCHE (Band #3)

EINE SPUR VON VERBRECHEN (Band #4)

EINE SPUR VON HOFFNUNG (Band #5)

KAPITEL EINS

Zoe schloss die Augen und lehnte sich mit dem Kopf gegen die Lehne des Sofas. Es machte sowieso keinen Unterschied. Vor ihrem Fenster war Bethesda in Dunkelheit gehüllt und sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, aufzustehen, um das Licht einzuschalten. Kleine, gelb leuchtende Punkte in der Skyline am Horizont zeigten ihr, dass Washington D.C. noch wach war – und sie war es leid, diese Punkte anzustarren.

Das war nicht mehr ihre Welt. Wenn sie dort hinschaute, sah sie überall bloß Zahlen: die Anzahl der Stockwerke jedes einzelnen Gebäudes und der Fenster pro Stockwerk, die Entfernung vom Boden, die Zeitspanne, die ein Objekt brauchen würde, um aus jedem beliebigen Fenster auf den Bürgersteig zu fallen. Die Anzahl der Gebäude, die Aufteilung der Straßen und die Winkel, in denen sie aufeinandertrafen. All diese Zahlen kreisten in ihrem Kopf herum, bis sie sich nur noch in die Dunkelheit zurückziehen und sich von alldem abschotten wollte.

Und dann, als sie die Augen geschlossen hatte, drangen ihre anderen Sinne in den Vordergrund. Sie hörte das Ticken ihrer Armbanduhr, die sie schon vor Tagen abgenommen und quer durchs Zimmer geschleudert hatte, in der Hoffnung, sie dann nicht mehr hören zu müssen. Aber sie konnte die Sekunden immer noch mitzählen. Sogar aus den Kohlensäurebläschen in ihrer Bierflasche formte sich ein Muster, wenn sie die darin enthaltene Flüssigkeit im Halbdunkeln anstarrte: Sie konnte die Zeit zwischen dem Platzen der einzelnen Bläschen zählen und die Geschwindigkeit berechnen, mit der sich die Bläschen bewegten.

Zoe nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche, denn das Bier auszutrinken, würde gleich zwei Vorteile mit sich bringen: Erstens würde dadurch das Prickeln der Kohlensäure verstummen, außerdem würde der Alkohol ihre Sinne betäuben. Vielleicht würde ihr die nächste Flasche dann ja nicht mehr ganz so laut erscheinen.

Eine ihrer Katzen, dem Klang der Pfoten auf dem Stoff nach zu urteilen war es Euler, machte es sich auf der Sofalehne hinter ihr bequem. Der Kater schmiegte sich fast vollkommen geräuschlos mit seinem warmen Fell an Zoes kurz geschnittenes Haar. Und doch war er zu hören, denn er hatte einen hörbaren Herzschlag und atmete rhythmisch. So leise diese Geräusche auch sein mochten, sie waren doch wahrnehmbar. Und da Zoe alles andere in ihrer Umgebung aus ihrer Wahrnehmung verdrängt hatte, wusste sie genau, dass sie schon bald anfangen würde, mitzuzählen.

Sie rutschte ein wenig zur Seite und griff nach ihrem Handy. Es lag nutzlos auf der Armlehne des Sofas herum, ausgeschaltet. Sie hatte es schon seit Tagen nicht mehr angemacht. Nachdem sie von dem Fall zurückgekehrt war, der mit ihrer Suspendierung geendet hatte, hatte sie es zunächst angelassen. Aber all die SMS und Benachrichtigungen, mit ihrem ständigen Klingeln und Vibrieren, hatten sie beinahe in den Wahnsinn getrieben, weshalb sie das Handy irgendwann ausgeschaltet hatte. Seitdem hatte sie das Handy einmal am Tag eingeschaltet, die Nachrichten gelesen und es gleich wieder ausgestellt. Jetzt konnte sie sich selbst dazu nicht mehr überwinden. Es war einfach zu viel.

Zoe rechnete sowieso nicht mit irgendwelchen Neuigkeiten. Sie hatte den Kontakt zu allen abgebrochen, sich komplett abgeschottet, und nach einigen Wochen hatten sie ihre Kontaktversuche eingestellt. Auch von der Arbeit würde es nichts Neues geben. Nachdem sie den Mörder ihrer Partnerin, Special Agent Shelley Rose, zusammengeschlagen hatte, war SAIC Maitland nichts anderes übrig geblieben, als sie nach Hause zu schicken. Allerdings erst, nachdem sie den Fall gelöst hatte, was ihr noch immer eine gewisse Genugtuung bereitete . Nicht, dass das reichte. Sie hatte den Mord ja dennoch nicht verhindert.

Sie hatte zugelassen, dass er Shelley ermordete, nahezu direkt vor ihrer Nase.

 

Zoe verlagerte ihr Gewicht auf dem Sofa, starrte ihr Handy an und berechnete dabei dessen Maße, das Gewicht, die Umrisse der Tasten an der Seite. Selbst die Zahlen waren besser zu ertragen, als die Gedanken an Shelleys Ermordung.

Und nicht nur das FBI kontaktierte Zoe nicht mehr. Sie war lang genug mit John zusammen gewesen, um Vertrauen zu ihm zu fassen und darüber nachzudenken, ihm von den Zahlen zu erzählen. Sie hatte das sogar schon geplant, sich dafür mit ihm verabredet. Aber nach Shelleys Tod erschien es ihr sinnlos, ihn weiter zu treffen.

Zunächst hatte er jeden Tag angerufen. Dann hatte er Nachrichten geschrieben, erst dreimal pro Tag, dann zweimal, dann einmal. Die Frequenz hatte rapide abgenommen, bis John es schließlich ganz aufgegeben hatte. Er hatte eine Nachricht geschickt, die sie inzwischen auswendig kannte: Wenn du reden möchtest, bin ich für dich da.

Neun Wörter. Vierunddreißig Buchstaben. Das war seine letzte Nachricht gewesen, er hatte sie vor siebenundzwanzig Tagen geschickt. Das wusste Zoe, ohne die Nachricht dafür noch mal ansehen zu müssen, denn ihre innere Uhr hörte nicht auf, die Stunden mitzuzählen, die seitdem vergangen waren. Sie wusste, dass es in ein paar Stunden achtundzwanzig Tage gewesen sein würden. Jeder Tag zog sich gleichermaßen unerträglich in die Länge, ein immer gleiches Maß, das sich vor ihr und hinter ihr erstreckte und sich immer und immer wieder wiederholte.

Zoe wollte sich gerade das zweite Bier des Abends aufmachen, als sie vor Schreck zusammenfuhr und die Flasche beinahe fallen ließ. Jemand klopfte energisch an die Tür und sofort gingen Zoe allerhand Zahlen durch den Kopf: das Gewicht der Faust, die da klopfte, ihre Geschwindigkeit und die aufgewendete Kraft. Und sie wusste ganz genau, zu wem diese klopfende Faust gehörte.

„Zoe?“ Die Stimme drang unter der Tür in die ansonsten ruhige Wohnung vor; sie war zu laut. Dr. Francesca Applewhite war an fast jedem einzelnen der siebenundzwanzig Tage seit Johns letzter Nachricht vorbeigekommen – und auch an jedem einzelnen Tag davor. Sechsunddreißig Mal hatte sie an die Tür geklopft. Da Dr. Applewhite fast immer im gleichen Rhythmus viermal klopfte – eins, eins-zwei, eins – machte das hundertvierundvierzig einzelne Klopfgeräusche, Aufpralle am Rahmen, an Dr. Applewhites Knöcheln.

Und Zoe hatte die Tür nicht ein einziges Mal geöffnet.

„Zoe, ich möchte bloß deine Stimme hören“, sagte Dr. Applewhite. „Damit ich weiß, dass es dir gut geht.“

Zoe schloss langsam die Augen. Dr. Applewhites Stimme drang in einer Lautstärke von fünfundsechzig Dezibel durch die Tür und war somit nur geringfügig lauter, als sie es in einem normalen Gespräch gewesen wäre. Gerade laut genug dafür, dass man sie auch durch die Tür noch verstehen konnte. Und in der ganzen Wohnung. Es gab keinen Ort, von dem aus Zoe die Stimme nicht hätte verstehen können. Dafür war die Wohnung zu klein. Zoe hatte schon alles versucht.

„Zoe!“

Neunundsechzig Dezibel. Zoe hielt sich die Ohren zu, um die Zahlen nicht mehr hören zu müssen. „Verschwinde!“, schrie sie. Sie konnte sich nicht beherrschen. „Lass mich einfach in Ruhe!“

Aus dem Flur vor ihrer Wohnung war ein sanftes Geräusch zu vernehmen. „In Ordnung, Zoe.“ Neunundsechzig Dezibel. Ruhig und bestimmt. „Dann gehe ich jetzt. Ruf mich einfach an, wenn du irgendetwas brauchst.“

Es folgte eine kurze Pause, in der Hoffnung auf eine Antwort. Zoe erwiderte nichts. Schließlich war zu hören, wie sich Dr. Applewhites Schritte von der Wohnungstür entfernten. Zoe horchte genau hin, bis die Schritte die Treppe erreicht hatten. Am Klang erkannte sie, dass Dr. Applewhite immer noch neunundfünfzig Kilo wog.

Zoe rieb sich die Augen und nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Sie öffnete die Flasche und trank einen großen Schluck – so viel, wie sie in einem Zug trinken konnte. Danach stellte sie fest, dass sie die Flasche fast genau bis zur Hälfte geleert hatte. Sie drehte sich wieder zum Sofa um, bewegte sich aber nicht weiter.. Ihre Wohnung erschien ihr jetzt erdrückend eng, zu klein und zu kreisförmig, um ihren Gedanken genug Platz zu bieten.

Sie konnte unmöglich den ganzen Abend hier verbringen, die Zahlen würden das nicht zulassen. Sie konnte nicht ertragen, wie sie in ihrem Kopf widerhallten, ohne eine Reaktion zu erzeugen. Sie waren einfach überall. Und obwohl ihr auch draußen Zahlen begegnen würden, wären das dann immerhin neue Zahlen.

Sie ließ siebzehn Minuten seit den letzten hörbaren Schritten von Dr. Applewhite verstreichen, um sicher zu gehen, dass sie nicht mehr in der Gegend war, trank den Rest ihres zweiten Bieres aus, warf die leere Flasche in den Müll und zog sich dann ihre Schuhe an.

***

Zoe stolperte über einen losen Stein, der auf dem Bürgersteig lag, beinahe wäre sie hingefallen. Als sie noch einmal genauer hinsah, stellte sie fest, dass der Stein nicht einfach zufällig dort lag, sondern Teil der Konstruktion war. Eine Kante, die als seitliche Begrenzung des Gehweges diente. Nun ja. Hätten sie nicht so bauen sollen. Zoe richtete sich vorsichtig wieder auf und konzentrierte sich darauf, nicht noch einmal ins Taumeln zu geraten.

Sie sah die Straße hinauf und stellte bedrückt fest, wo sie sich befand: am selben Ort, an dem sie so oft landete, wenn sie nachts durch die Straßen zog, nachdem sie ein paar Drinks intus hatte. Oder während sie ein paar Drinks zu sich nahm, denn sie hatte den Rest des Sixpacks mitgenommen  – inzwischen waren ihre Hände allerdings leer. Das war nicht gerade ein kurzer Spaziergang gewesen, woraus sich schließen ließ, dass sie sich bewusst entschieden haben musste, hierherzukommen. Auch wenn sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, diese Entscheidung getroffen zu haben. Wie dem auch sei, hier war sie nun also, vor dem Haus, vor dem diese Ausflüge immer endeten.

Das Haus, zu dem sich Zoe unter normalen Umständen niemals getraut hätte. Es war kein Zufall, dass sie nur nachts herkam, wenn die Dunkelheit ihr Schutz bot und der Alkohol sie weniger nervös gemacht hatte. Nachts war es unwahrscheinlich, dass sie Zoe sehen würden, weshalb sie ungestört dort stehen und sich in ihren Schuldgefühlen suhlen konnte, ohne jemals irgendetwas dagegen zu tun.

Was nicht hieß, dass sie nichts tun wollte. Zoe wünschte sich nichts sehnlicher, als an die Tür dieses Hauses zu klopfen. Sie wünschte sich, dass sich die Haustür öffnen und ihre Partnerin Shelley Rose vor ihr stehen würde, mit ihrer perfekt sitzenden Frisur und ihrem sauber aufgetragenen, rosafarbenen Lippenstift. Sie wünschte sich, dass Shelley sie anlächeln und „Dann wollen wir mal, Zoe!“ oder etwas dergleichen sagen würde. Und dass sie dann zusammen in einen Flieger steigen und irgendwo einen Mordfall lösen würden. Dass einfach alles in Ordnung wäre.

Aber das war unmöglich, denn Shelley wohnte hier nicht mehr. Shelley lag unter der Erde. Zoe hatte dabei zugesehen, wie man sie in ihr frisch ausgehobenes Grab hinabgelassen hatte, während ihr Ehemann und ihre Tochter daneben standen. Sie hatte schon damals etwas sagen wollen, aber sie hatte es ebenfalls nicht geschafft. Auch jetzt wollte sie etwas sagen, aber sie schaffte es immer noch nicht. Sie hatte es nicht verdient, mit der Sache einfach so abzuschließen.

Shelleys Ehemann hatte nun keine Frau mehr. Shelleys Tochter hatte nun keine Mutter mehr. Zoe hätte bei ihnen klopfen und ihnen sagen können, dass es ihr leid tat, dass sie an allem Schuld war, dass sie es nicht hatte verhindern können. Sie hätte die ganze Schuld auf sich nehmen können, den ganzen Hass der beiden – und überhaupt alles, was sie Zoe an den Kopf werfen wollten – absorbieren können. Sie hätte dafür sorgen können, dass es den beiden ein wenig besser ging.

Aber ob nun aus Rücksicht auf sich selbst oder auf Shelleys Familie – es war ihr nicht möglich. Nicht nur, weil sie es nicht verdient hatte. Auch nicht, weil sie sich nicht traute. Zoe sah zu dem Haus auf und versuchte, zu formulieren, was sie den beiden sagen würde. Aber alles, das ihr in den Sinn kam, war: Zur Straße hin hat das Haus fünf Fenster, die jeweils in vier Teile unterteilt sind; die Haustür ist zwei Meter hoch; der Weg zur Tür ist einen Meter und achtzig Zentimeter lang und besteht aus zwölf Gehwegplatten; jede einzelne dieser Platten ist fünfzehn Zentimeter lang, was im angloamerikanischen Maßsystem etwa einem halben Fuß oder sechs Zoll oder 0,164 Yard entspräche…

Zoe fand für sie keine Worte. Ihr kamen nur Zahlen in den Sinn. Sie wandte sich von dem ihr wohlbekannten Haus, mit all seinen Maßen und Dimensionen, ab und zwang sich dazu, sich wieder auf den Heimweg zu machen. Wenn sie an diesem Moment angelangt war, dann ging es ihr immer noch schlechter, als es ihr vor ihrem Aufbruch gegangen war. Und doch führte es sie immer wieder hierher.

Früher oder später würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als einfach gar nicht mehr rauszugehen. Es war das Risiko einfach nicht wert.

Und Zoe sah keinen Ausweg aus dieser schrecklichen Situation – eine Situation, in die sie sich selbst gebracht hatte. Sie würde einfach mit ausgeschaltetem Handy zu Hause sitzen bleiben und all die Anrufe ignorieren, die sie erhalten würde, wenn ihre Suspendierung aufgehoben wurde, und alles zur Erinnerung von jemand anderem verblassen lassen.

KAPITEL ZWEI

Elara Vega sah auf ihre Armbanduhr und zog die Augenbrauen hoch, eine Geste, die nur für sie selbst gedacht war. Sie war schließlich allein; ihre Kollegen waren bereits gegangen, die meisten um sechs, als die Arbeitszeit offiziell geendet hatte. Aber Elara bedeutete ihre Arbeit alles – das war schon immer so gewesen.

Nein, das stimmte nicht ganz, dachte sie, während sie ihre Sachen zusammensuchte und ihre Notizen für den nächsten Morgen sortierte. Es hatte auch eine Zeit gegeben, in der ihr andere Dinge wichtiger gewesen waren. Sie hatte ihren Sohn groß gezogen und für eine Weile war sie auch verheiratet gewesen, auch wenn die Scheidung nun schon zwanzig Jahre zurücklag. Zwei Jahre nach der Scheidung war ihr Sohn fürs Studium ausgezogen und seitdem lebte sie allein. Ihr gefiel dieses Leben. So hatte sie all die Sterne und Planeten, die Ewigkeit und Vergänglichkeit zugleich repräsentierten, ganz für sich.

Elara warf noch einen weiteren Blick auf ihren aufgeräumten Schreibtisch, um sicherzugehen, dass alles an seinem Platz war. Wenn sie in ihren neunundfünfzig Lebensjahren eines gelernt hatte, dann, dass es wesentlich einfacher war, immer alles gleich aufzuräumen, als ein Chaos zu beseitigen, das sich über längere Zeit angesammelt hatte.

Mit dem Ergebnis ihrer Mühen zufrieden, griff Elara nach ihrem Mantel, der über der Lehne ihres Stuhls hing, und warf ihn sich über. Dann machte sie sich in Richtung Ausgang auf. Sie war gerade dabei, ihren Kragen zu glätten, als sie in den Flur trat und sah, dass dort einer der Hausmeister damit beschäftigt war, mit kreisrunden Bewegungen den Boden zu wischen. Sie hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn sie so lange im Büro geblieben war, dass sie die Reinigungskräfte beim Putzen störte. Die mussten ja auch ihre Arbeit machen und waren sicher nicht begeistert davon, wenn sie in ihren Schuhen über den frisch gewischten Boden stiefelte.

In dem Planetarium gab es sowohl Büros als auch Konferenz- und Veranstaltungsräume, die alle um den in der Mitte gelegenen Vorführsaal angeordnet waren, von dem aus man ins Foyer und damit zum Ausgang kam. Elara trat in den dunklen Raum, der nachts, wenn das ganze Gebäude dunkel und still war und auf all den hier aufgereihten Stühlen niemand saß, immer etwas Gruseliges an sich hatte. Sie fühlte sich dabei immer an eine typische Horrorfilmszene erinnert, in der die Charaktere einen verwaisten und heruntergekommenen alten Kinosaal mit verrottenden Sitzpolstern und eingestaubtem Filmprojektor entdeckten. Sie mühte sich, den Saal rasch zu durchqueren, um möglichst schnell in das wesentlich weniger furchteinflößende Foyer zu gelangen. Und danach an die kühle Nachtluft.

Sie hatte gerade etwa die Mitte der vordersten Sitzreihe erreicht, als sie ein ihr gut bekanntes Geräusch vernahm: das mechanische Rattern des Projektors, das immer zu hören war, wenn er den Betrieb aufnahm. Elara blieb stehen, blickte sich verwundert um und sah schließlich zur Decke auf. Die Sterne und Planeten waren über ihrem Kopf zum Leben erwacht und wirbelten herum, bis sie schließlich an ihren Plätzen für den Beginn der Vorstellung zur Ruhe kamen. Sie hatte das schon hunderte Male gesehen und war sogar beteiligt gewesen, als vor einigen Jahren die Genauigkeit des Systems anhand neuer Sternkarten überprüft und aktualisiert worden war. Aber zu Beginn der Präsentation hier in der Mitte zu stehen, das war dennoch auch für sie ein ganz neues Gefühl. Es machte beinahe den Eindruck, als könnte sie nach den Sternen greifen und sie berühren…

 

Aber wer hatte den Projektor eingeschaltet? All ihre Kollegen waren bereits nach Hause gegangen. Und zu dieser späten Stunde sollte er eigentlich nicht an sein. Orchestermusik dröhnte nun aus den Lautsprechern, so laut, dass Elara nichts anderes mehr wahrnehmen konnte. Sie runzelte die Stirn und drehte sich langsam um, denn sie dachte, dass sie besser mal im Projektorraum nachsehen sollte–

Doch plötzlich kniete sie auf dem Boden und starrte den Teppich an. Wie war das denn passiert? Gerade eben noch war sie doch – aber dann hatte ein starker Schmerz ihren Hinterkopf durchzogen – sie erinnerte sich daran, dass etwas mit krachendem Geräusch dagegen geprallt war, das Geräusch war sogar noch lauter als die Musik gewesen – daraufhin hatten ihre Beine nachgegeben, genau wie ihre Arme, ihr ganzer Körper hatte förmlich zu brummen begonnen–

Nun vernahm sie noch etwas anderes in ihrem Nacken – eine andere Form des Schmerzes – eine Hand, die fest zupackte, ohne Rücksicht auf ihre empfindliche Haut zu nehmen. Elara versuchte benommen, sich aus dem Griff zu befreien, denn sie wollte, dass der Schmerz aufhörte. Doch die Hand griff dadurch nur noch fester zu. Der Schmerz schien wie aus weiter Entfernung zu ihr durchzudringen. Als käme er von einem anderen Planeten, durch die große Entfernung und das Licht der anderen Sterne verschleiert. Sie bewegte sich nun. Genauer gesagt wurde sie bewegt, denn etwas packte sie immer noch am Nacken – brachte sie irgendwo hin, ihre Beine schleiften dabei hilflos den Boden entlang.

Elara gab sich alle Mühe, wieder auf die Beine zu kommen, sie daran zu hindern, immer weiter über den glatten Boden zu rutschen. Aber es wollte ihr einfach nicht gelingen, denn die Musik war zu laut und die Lichter zu grell. Und dann floss da auch noch irgendetwas Heißes ihre Stirn herunter, direkt in ihr Auge. Unter sich nahm sie nun etwas Rundes wahr, aus Metall, darin bewegte sich etwas, von dem das Licht reflektiert wurde – Wasser. Und dann–

Das kalte Wasser versetzte ihr einen Schock, ließ sie laut nach Luft schnappen, es war die erste klare und deutliche Reaktion, die sie zu zeigen imstande war, seitdem die Projektion begonnen hatte. Bedauernswerterweise war das aber auch genau die eine Reaktion, die in dieser Situation nicht angemessen war: Denn es drang nur Wasser in ihre Lungen, keine Luft. Das überwältigende Gefühl, mit dem es in ihren Mund strömte und ihren Rachen hinunterlief, löste eine Panik in ihr aus, die jedwede Verwirrung und jeden Schmerz, den sie vorher verspürt hatte, verdrängte. Sie dachte nur noch daran, dass sie irgendwie hier rauskommen musste, dass sie irgendwie wieder auftauchen, es an die Oberfläche und an die Luft schaffen musste.

Elara quälte sich, zappelte, versuchte, sich an dem metallenen Behälter festzukrallen, sich daran nach oben zu ziehen. Sie spürte, wie er unter ihr zu wackeln begann, und aus irgendeinem Grund wackelte sie mit. Da stand etwas über ihr, das sie niederdrückte und sie daran hinderte, den Kopf aus dem Wasser zu ziehen. Ihr Sichtfeld verdunkelte sich, schwarze Punkte erschienen vor ihren Augen. Sie war von Wasserblasen umgeben und die schwarzen Punkte tanzten, genau wie die glitzernden Reflektionen des Lichtes, von einer Blase zur nächsten – während sie verzweifelt um sich schlug und darum kämpfte, ihren Kopf zu heben.

In einem letzten Aufbäumen versuchte Elara, sich einfach nach hinten fallenzulassen und mit der Bewegung den Behälter umzukippen, aber ihre Kehle zog sich krampfhaft zusammen und ihr Augenlicht ließ nach und ihr wurde klar, dass sie nichts mehr tun konnte. Ein schmerzhafter Krampf in ihrer Brust zwang sie dazu, noch ein letztes Mal nach Luft zu schnappen – aber da war keine Luft. Dann wurde sie von totaler Finsternis umhüllt, um sie herum war nichts mehr – nicht einmal mehr das Funkeln der Sterne, die Millionen von Lichtjahren entfernt waren, in einer anderen Galaxie. Und die gerade im Begriff waren, zu sterben – oder vielleicht waren sie auch schon tot.