Neros Mütter

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Neros Mütter
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Birgit

Schönau

NEROS

MÜTTER

Julia und die Agrippinas

Drei Frauenleben im alten Rom


In memoriam Ingrid Warburg Spinelli

DIE KAISERFRAUEN UND DIE MACHT IN ROM

Vorwort

ROM DER MÄNNER, ROM DER FRAUEN

Eine Einführung

JULIA DIE GEFALLENE PRINZESSIN

AGRIPPINA TRAGÖDIE EINER HELDENBRAUT

AGRIPPINA II. DIE KAISERIN

ENDE EINER FRAUENDYNASTIE

Epilog

LITERATUR

ANMERKUNGEN

SPIRITUS LOCI

ZEITTAFEL

STAMMBAUM

DIE KAISERFRAUEN
UND DIE MACHT IN ROM
Vorwort

Natürlich hatte auch Nero nur eine Mutter: Julia Agrippina, genannt Agrippina die Jüngere. Ihre Mutter hieß Vipsania Agrippina, genannt Agrippina die Ältere. Deren Mutter war Julia, das einzige Kind des Augustus. Um diese drei Frauen, also Neros Mutter, Großmutter und Urgroßmutter, geht es in diesem Buch. Sie waren die weiblichen Protagonisten der julischclaudischen Dynastie, die Rom und sein Weltreich von 40 v. Chr. bis 68 n. Chr. beherrschte. Fünf Männer dieses Clans waren in diesen gut hundert Jahren princeps, wie sich die römischen Kaiser selbst nannten: Augustus, Tiberius, Caligula, Claudius und Nero. Männer, die mit ihren Eroberungen und der Verbreitung von Recht und Zivilisation, aber auch mit Willkürherrschaft und Grausamkeit Geschichte schrieben. Weniger bekannt ist, dass sie die Frauen der Familie verfolgten, verbannten und vernichteten.

Mit der damnatio memoriae sorgten die Herrscher von Rom dafür, dass auch das Andenken ihrer weiblichen Verwandten getilgt wurde. Die Geschichtsschreibung hielt sich über Jahrhunderte daran, indem sie über Neros Mütter zumeist aus der Perspektive der Verfolger berichtete. So wurde aus Julia eine triebhafte Ehebrecherin, die ihr tugendhafter Vater Augustus verbannen musste, um die Ehre der Familie zu retten. Die ältere Agrippina geriet zu einer streitsüchtigen Nervensäge, die Kaiser Tiberius eliminieren ließ, weil sie sein Regime bedrohte. Die jüngere Agrippina schließlich gilt bis heute als eines der größten weiblichen Monster der Weltgeschichte, eine Lady Macbeth des Altertums. Ob Gattenmord oder Inzest mit Bruder und Sohn – ihr werden seit zweitausend Jahren die schlimmsten Verbrechen angehängt. Dass Nero seine Mutter ermorden ließ, macht sie aus diesem Blickwinkel noch lange nicht zum Opfer. Das Verbrechen wird im Gegenteil als extremer Befreiungsakt dargestellt, mit dem das Muttersöhnchen die dominante Agrippina loszuwerden suchte.

Als die Leichtlebige, das Mannweib und die Machtgierige avancierten Neros Mütter zu Archetypen negativer Weiblichkeit, die ihr trauriges Schicksal durch Fehlverhalten angeblich selbst heraufbeschworen und letztlich verdienten. So steht es schon in den antiken Quellen, die auch die Grundlage für dieses Buch bilden. Dabei kann man dort auch ganz andere Dinge lesen, die mindestens genauso interessant sind. Denn die Frauen der Augustus-Dynastie waren Töchter, Ehefrauen und Schwestern von Imperatoren. Sie lebten im Mittelpunkt eines Weltreichs, das sich von Nordafrika bis nach England erstreckte, von Spanien bis nach Syrien. Neros Mütter waren selbstbewusst und weltläufig, von klein auf gewöhnt, über den Rand ihrer silbernen Teller zu schauen und Griechisch wie Latein zu sprechen. Sie ritten über die Alpen und segelten auf dem Nil, empfingen Könige, kommandierten Heerscharen von Sklaven und sogar Soldaten. Während die Propaganda ihrer Männer sie als brave und züchtige Matronen und als tapfere Mütter verklärte, waren die Frauen der Dynastie in Wirklichkeit role models einer fortschreitenden Emanzipation zumindest innerhalb einer winzigen Elite der Oberschicht. Weibliche Einflussnahme war bereits im Römischen Reich hart erkämpft, unerwünscht, aber möglich, und sie wuchs in den Jahrzehnten zwischen Augustus und Nero stetig weiter. Mächtige Frauen waren den Römern nicht nur als Göttinnen, sondern auch als Herrscherinnen in anderen Kulturen bekannt. Wenn Augustus die ägyptische Königin Kleopatra bekämpfte, verbündete Claudius sich mit der britischen Stammesfürstin Cartimandua. Ihre eigenen Frauen durften offiziell kein Amt bekleiden, waren aber mehr oder weniger stille Teilhaberinnen der Macht.

So gewährte Augustus seiner Frau Livia und seiner Schwester Octavia die Privilegien von Volkstribunen und ließ sie über ihre riesigen Vermögen frei verfügen. Sein Urenkel Caligula ging noch viel weiter, er machte seine Schwestern zu Göttinnen und eine von ihnen zur Thronerbin. Kaiser Claudius stattete die jüngere Agrippina mit einem Wagen und einer germanischen Leibwache aus – und ließ sie, nur notdürftig hinter einem Vorhang versteckt, an Senatssitzungen teilnehmen. Die mächtigen Frauen der Dynastie kämpften so selbstverständlich wie die Männer für ihre eigenen Einflusssphären. Sie knüpften Seilschaften und machten Politik, für, oftmals aber auch gegen die jeweiligen Herrscher. Diese wehrten sich: Fast alle weiblichen Nachkommen des Augustus wurden in die Verbannung abgeschoben und so unschädlich gemacht. Als Gefängnisort für die Frauen der Dynastie diente eine kaiserliche Villa auf der abgelegenen Insel Ventotene zwischen Rom und Neapel. Viele Jahrhunderte später nahm sich der faschistische Diktator Benito Mussolini daran ein Beispiel. Der duce ließ politische Gefangene auf das kleine Eiland deportieren, unter ihnen Altiero Spinelli, den Verfasser des Manifests von Ventotene für ein vereintes Europa.

Die erste Verbannte von Ventotene war die Augustus-Tochter Julia (39 v. Chr.–14 n. Chr.), zuvor der strahlende Mittelpunkt des höfischen und kulturellen Lebens in der Metropole Rom. Nach drei Zwangsheiraten rebellierte Julia, inzwischen Mutter von fünf Kindern, gegen ihren Vater. Sie wagte es, seine Allmacht in Frage zu stellen, und beteiligte sich vielleicht sogar an einer Verschwörung. Daraufhin ließ Augustus Julia als Ehebrecherin verurteilen und abschieben. Einsam und krank starb sie, ohne Rom und ihre Familie wiedergesehen zu haben – und erlitt damit ein ähnliches Schicksal wie ihr Bekannter, der zunächst gefeierte und dann geächtete Hofpoet Ovid.

Julias Tochter Vipsania Agrippina (14 v. Chr.–33 n. Chr.) war Augustus’ Lieblingsenkelin. Ihre Heirat mit dem designierten Thronfolger Germanicus verhieß eine strahlende Zukunft. Dabei beschränkte sich die ältere Agrippina keineswegs auf eine passiv-repräsentative Prinzessinnenrolle. Im Feldlager am Rhein beruhigte sie an der Seite ihres Mannes meuternde Legionäre, sie erlebte, wie Germanicus in Griechenland Olympiasieger wurde und in Ägypten als Krisenmanager glänzte. Doch der plötzliche Tod ihres Gatten beendete auch ihr öffentliches Leben. Die Witwe Agrippina war nun den Verfolgungen von Kaiser Tiberius ausgesetzt. Als Staatsfeindin verbannt, starb sie auf Ventotene den Hungertod.

Die jüngere Agrippina (15–59 n. Chr.) schaffte es, dieser Insel zu entkommen, auf die sie ihr Bruder Caligula als Verräterin verbannt hatte. Ihr Onkel Claudius befreite sie, kaum dass er die Nachfolge von Caligula angetreten hatte. Später heiratete Claudius Agrippina und machte sie zu seiner Mitregentin, die Truppenparaden abnahm, Außenpolitik betrieb und die Staatsfinanzen kontrollierte. Er verpasste ihr den kaiserlichen Titel »Augusta« und benannte ihren Geburtsort nach ihr: Colonia Agrippina – Köln. Agrippinas Macht schien unbegrenzt, als nach Claudius’ Tod ihr Sohn Nero neuer Kaiser wurde. Doch nach wenigen Monaten stellte Nero gemeinsam mit seinem Berater Seneca die Mutter kalt. Ebenfalls unter Senecas Mitwirkung ließ er sie später ermorden. Die jüngere Agrippina musste sterben, weil sie den Kaiser und seinen als Philosophen weithin gerühmten Berater öffentlich kritisierte und über genügend Mittel verfügte, um eine Revolte anzuzetteln. Geschickt interpretierte Seneca den Muttermord als Notwehr – eine Version, die bis in unsere Zeit übernommen wird, ebenso wie die Behauptung, Agrippina habe Claudius mit einem Pilzgericht vergiftet.

Während die Lebensweisheit des Stoikers Seneca gerade wieder eine Renaissance erlebt und die Biographien lang verteufelter Herrscher wie Caligula und Nero Rehabilitierung oder zumindest nüchterne Neueinschätzung erfahren, hält die Verdammung der jüngeren Agrippina an, und es reicht für Julia und die ältere Agrippina weiterhin nur zur Fußnote. Eine weitreichende »Entmystifizierung«, wie sie beispielsweise für Augustus längst erfolgt, steht für die Frauen der Dynastie noch aus. Sie werden noch immer nicht als politische Akteurinnen wahrgenommen, in einer offenkundigen Verwechslung ideologischer Rollenvorgaben mit der historischen Realität.

 

Tatsächlich sind diese Geschlechterrollen über die Jahrtausende tradiert worden und uns deshalb seltsam vertraut. Zurückhaltung, Verzicht und Bescheidenheit waren weibliche Tugenden, die im Kaiserreich eine große Rolle für die Legitimation von Herrschaft spielten, weil sie in die untergegangene Epoche der Republik wiesen. Später wurden sie von der römischkatholischen Kirche übernommen, um neue Hierarchien zu rechtfertigten und Jenseitsverheißungen zu nähren. Die Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts stellte sie weitestgehend nicht in Frage – dabei hat kein Geringerer als Theodor Mommsen die Mitregentschaft von Livia und der jüngeren Agrippina nachgewiesen. Die meisten Althistoriker müssen sich jedoch in abgewandelter Form die alte Brecht-Frage des lesenden Arbeiters gefallen lassen: »Augustus erbaute Rom neu. Hatte er nicht wenigstens eine Frau dabei?« Tatsächlich waren es zwei, seine Gattin und seine Schwester, die den Herrscher nach Kräften unterstützten, Bauwerke finanzierten und Baustellen beaufsichtigten.

Das wurde jedoch in Jahrhunderten, da so viel weibliches Engagement, so viel ökonomische Eigenständigkeit von Frauen undenkbar waren, geflissentlich übersehen. Frauen wie die ältere und die jüngere Agrippina, die sich offensiv in politische Entscheidungen einmischten und nicht davor zurückschreckten, Soldaten Befehle zu erteilen, waren nicht nur den alten Römern, sondern auch so manchem modernen Historiker ein Graus. Man wollte dann lieber nicht erörtern, dass die römischen Kaiserfrauen in vielerlei Hinsicht nicht nur emanzipierter waren als die Königinnen des Mittelalters, sondern auch als die First Ladies des Nachkriegs-Westens.

Wichtige Beiträge zu einer zeitgemäßen Geschichtsschreibung über die Nero-Mütter leistete in den vergangenen Jahrzehnten immerhin die angloamerikanische Forschung. Als Standardwerke gelten die Julia-Biographie (2006) von Elaine Fantham und die Biographie der jüngeren Agrippina (1996) von Anthony A. Barrett.

Darüber hinaus finden kritische Auseinandersetzung und Hinterfragung der Quellen besonders umfänglich in Italien statt. Die Rechtshistorikerin Eva Cantarella befasst sich seit Jahrzehnten mit Mythos und (juristischer) Realität von Frauen in der Antike. Die Althistorikerin Francesca Cenerini thematisiert, ausgehend von ihrer umfassenden Monographie über Frauen im alten Rom (2002), immer wieder die Möglichkeiten weiblicher Machtausübung. Vielbeachtete und thesenstarke Biographien über Julia (2012) und die ältere Agrippina (2015) veröffentlichte der Altphilologe Lorenzo Braccesi, während die Althistorikerin Alessandra Valentini insbesondere die machtpolitischen Ambitionen der älteren Agrippina untersuchte (2019).

Die antike Überlieferung steht auf drei tragenden Säulen: Tacitus, Sueton und Cassius Dio. Alle drei Chronisten sind Nachgeborene, betrachten also die Geschehnisse einerseits aus einer gewissen Distanz und andererseits aus dem Blickwinkel ihrer eigenen Zeit. Tacitus (58–120 n. Chr.), einer der bedeutendsten Redner und Schriftsteller seiner Zeit, erlebte die fünf Kaiser Vespasian, Titus, Domitian, Trajan und Hadrian. Seine Schriften sind das Resultat fleißiger Archivrecherche und großer Gelehrtheit, doch dem eigenen Wahlspruch »Sine ira et studio« (ohne Wut und Parteinahme) ist Tacitus nicht immer gerecht geworden. Als stolzer Senator und überzeugter Republikaner bewertete der Geschichtsschreiber die Herrscher der Vergangenheit nach ihrem Umgang mit republikanischen Institutionen, insbesondere dem Senat. Entsprechend negativ ist das Bild, das er von Tiberius, Caligula, Claudius und Nero übermittelt. In Tacitus’ Augen war der Untergang der Republik mit einem allgemeinen Sittenverfall einhergegangen, für den die »Machtgier« der Kaiserfrauen ein ebenso untrügliches Anzeichen bildete wie die Willkürherrschaft ihrer Männer.

Cassius Dio (163–229 n. Chr.) war unter den Kaisern Commodus, Septimius Severus und Severus Alexander ebenfalls Senator und brachte es sogar zum Konsul, was ihm Zugriff auf Archive und offizielle Dokumente verschaffte. Wie Tacitus gilt er als Vertreter der senatorischen Geschichtsschreibung, doch erlaubte er sich in weitaus größerem Maßstab eine fiktionale Darstellung, etwa mit erfundenen oder zumindest stark ausgeschmückten Reden.

Auch bei Sueton (70–130 n. Chr.), dem unerreichten Meister der phantasievollen Anekdote und des Sex-and-Crime-Klatschs, weiß man nie so genau, was wahr ist oder erfunden. Sueton war kein Senator, sondern als Archivar der beiden Kaiser Trajan und Hadrian ein hoher Beamter. Unter Hadrian stieg er zum Kanzleichef auf, schrieb also etwa im Namen des Kaisers Briefe. Seine Position war nicht nur extrem einflussreich, sie verschaffte auch Zugang zu privaten Nachlässen früherer Regenten. Sueton verdanken wir die Überlieferung von Briefen des Augustus an seine Familienangehörigen, aber auch plastische Anekdoten, die den Tratsch der römischen Gesellschaft über die Kaiser und deren Frauen widerspiegeln. Seine Darstellung ist dabei erfrischend unideologisch. Sueton ging es in erster Linie um die Qualität der Geschichte, die er erzählt. Er ist zweifellos der Journalist unter den antiken Chronisten.

Zu diesen großen Drei gesellen sich viele andere, von denen hier nur die wichtigsten erwähnt sein sollen. Augustus selbst hat mit Res gestae einen Rechenschaftsbericht über seine Herrschaft verfasst – Frauen erwähnt er dabei mit keinem Wort. Velleius Paterculus (19. v.–31. n. Chr.) war Teilnehmer der Feldzüge von Tiberius und ein glühender Anhänger dieses Kaisers. Ganz anders Flavius Josephus (37–100 n. Chr.), der als jüdischer Chronist Roms Herrscherhaus mitsamt seinen Frauen aus der Distanz bewertet. Der große Naturforscher Plinius der Ältere (23–79 n. Chr.) beschreibt in seinem Hauptwerk Naturalis historia römische Weltsicht und Wissenschaft, aber auch so manchen gesellschaftlichen Spleen. Sein Neffe, der jüngere Plinius (um 61–um 113 n. Chr.), vermittelt in Briefen, wie die Oberschicht dachte und lebte. Und die Dichter, allen voran Ovid (43 v. Chr.–17 n. Chr.), überliefern jene archaischen Mythen, die das Fundament für die römische Kultur bilden, aber auch die raffinierte Lebensart der Kaiserzeit und die Rolle der Frauen jenseits aller strikten Vorgaben.

So verschafft uns die Vielzahl der Quellen einen sehr lebendigen Eindruck des Frauenlebens in der frühen Kaiserzeit. Nur die Protagonistinnen selbst kommen nicht zu Wort, von ihnen überdauerten keine Schriften und keine Akten. Dabei hat zumindest eine von ihnen ihre Sicht der Dinge aufgeschrieben: Tacitus erwähnt als eine der Grundlagen für seine Annalen ein inzwischen verschollenes Tagebuch der jüngeren Agrippina. Welchen Zeitraum diese Aufzeichnungen umfassten und inwieweit er selbst auf sie zurückgreifen konnte oder Sekundärquellen konsultieren musste, teilt er leider nicht mit. Dem älteren Plinius scheint das Original vorgelegen zu haben, denn er gibt Agrippina als Quelle an, indem er sie unter die von ihm studierten Schriftsteller listet. Agrippina hatte ihre Memoiren also veröffentlicht, was beweist, dass sie sich selbst als historische Akteurin begriff und die Oberhoheit über ihre Lebensgeschichte haben wollte. Leider hat sich dieser Wunsch nicht erfüllt.

Das alte Rom war nicht nur eine Welt der Männer. Wer die Spuren der Frauen sucht, wird sie ohne große Mühe finden. Und entdecken, dass die Wurzeln weiblicher Selbstbestimmung weit zurückreichen in die Anfänge Europas.

ROM DER MÄNNER,
ROM DER FRAUEN
Eine Einführung

Das Rom der frühen Kaiserzeit war die größte Stadt der Welt. Eine brodelnde Metropole mit einer Million Einwohnern, fast das Zehnfache Athens und zweieinhalbmal so viel wie die alte chinesische Hauptstadt Luoyang. Keine andere Stadt reichte an Rom auch nur annähernd heran, nicht in Asien, nicht in der blühenden Kronprovinz Ägypten und schon gar nicht im bäuerlich geprägten Mittel- und Nordeuropa. Um das Jahr 50, also zur Regierungszeit von Claudius, hatten Köln und Trier, die größten Siedlungen Germaniens, jeweils 30.000 Einwohner. Für die damalige Zeit ansehnliche Städte, verglichen mit dem Zentrum des Weltreichs aber nicht mehr als bessere Marktflecken.

Römer nannten ihre Metropole einfach nur urbs: die Stadt. Sie bildete das Herz einer Militärmacht, die schier unaufhaltsam ihre Eroberungen auf drei Kontinenten fortsetzte. Aber die urbs war auch ein Zentrum der Zivilisation, des ungeheuren Reichtums und der phantastischen Prachtentfaltung mit prunkvollen Palästen, Tempeln, Flaniermeilen, Gärten, Bibliotheken und Theatern. Waren aus dem ganzen Reich wurden in den Tiberhäfen gelöscht und in riesigen Lagerhallen gehortet: Getreide und Ziegelsteine, Marmor und Wein, Stoffe und Gewürze, Metalle und Edelsteine, Papyrus und Wolle. Auf dem Fluss und an seinen Ufern arbeiteten Tausende als Flößer, Kahnschiffer, Lagerarbeiter, Wachmänner und Sackträger, schließlich als Müller, die das Korn aus Ägypten und Sizilien zu feinem Mehl verarbeiteten. Auf den Straßen wimmelte es von Lastenträgern und Maultiertreibern, Maurern und Zimmerleuten, von Menschen, die zur Arbeit gingen, Einkäufe tätigten, Werkstätten aufsuchten, vor dem Friseur warteten, einen Happen in den Garküchen aßen oder ein Glas Wein in einer taberna tranken. Andere waren unterwegs in die öffentliche Latrine oder in die Thermen, in die Gerichte oder zur Aufwartung bei ihren »Schutzherren«.

In Bretterbuden oder auch unter freiem Himmel lernten Kinder Schreiben und Rechnen, priesen Händler ihre Waren an, wurden Sklaven verkauft. Zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang spielte sich das Leben auf der Straße ab, in einem nie abnehmenden Gedränge und Gewühle, das alle mitriss. Nachts blieben die meisten in der von keiner Laterne erleuchteten Finsternis zu Hause. Nur die Reichen konnten sich Fackelträger leisten, die sie nach einem ausgedehnten Gastmahl nach Hause begleiteten. Still wurde die Stadt auch im Dunkeln nicht, denn nach Sonnenuntergang durften Transportfahrzeuge verkehren. Tagsüber galt ein von Gaius Julius Cäsar erlassenes Fahrverbot, das Rom über Jahrhunderte zu einer riesigen Fußgängerzone machte. Wenn die Sonne unterging, fuhren die Wagen und erfüllten die Hauptverkehrsstraßen mit einem Höllenlärm, der den des Tages womöglich noch übertraf.

Nie schlief diese Stadt, immer war sie in Bewegung. Sueton berichtet, dass es zu den liebsten Vergnügungen des Augustus gehörte, durch die Stadt zu streifen und sich Boxkämpfe des niederen Volks anzuschauen, das »sich in den engen Gassen aufs Geratewohl und ohne technische Fertigkeit gruppenweise prügelte«. Wenn der Herrscher auch inkognito die Amateure bevorzugte, so tat er sich offiziell als spendabler Veranstalter von Theatervorstellungen, Wagenrennen und Gladiatorenkämpfen hervor. Manchmal überraschte Augustus die Menschen damit, dass er mitten in der Stadt ein Rhinozeros zeigen ließ, eine Schlange oder einen Tiger. Die Teilnahme an allen möglichen Spektakeln waren ein beliebtes Freizeitvergnügen für Römer aller Schichten – und der Eintritt dazu war immer frei. In den Arenen und vor allem im Circus Maximus mit seinen fast 200.000 Plätzen konnten die Zuschauer ganze Tage verbringen.

Festtage gehörten zum römischen Leben und sie wurden überbordend gefeiert. Allen voran die Saturnalien, die sich über sechs Tage im Dezember zogen, mit Massengelagen auf dem Forum und überall in der Stadt. Der Wein floss in Strömen, die Zecher spielten Würfelspiele oder zogen Lose, und im allgemeinen Ausnahmezustand durften Sklaven sich von ihren Herren bedienen lassen. Der Kaiser persönlich verteilte Geschenke – Gold, Silber, Münzen, aber auch Kleidung und Haushaltsgegenstände wie Decken, Feuerhaken und Schwämme.

Im Alltag mussten die öffentlichen Prozesse in den riesigen Gerichtsbasiliken zur Volksbelustigung herhalten. Jeder durfte teilnehmen, Männer wie Frauen. An den eingeritzten Spuren antiker Brettspiele auf den Stufen der Basilica Iulia kann man heute noch ablesen, wie populär das »Spektakel« der Verhandlungen war – und wie lange es dauerte. Rechtsanwälte wie Seneca waren stadtbekannt wie Schauspieler, wie im Theater gab es bei manchen Szenen Applaus, allerdings kam der nicht spontan, sondern von bezahlten Claqueuren, den laudaceni. Nicht selten führte der Kaiser selbst den Vorsitz. Augustus soll bis in die Nächte hinein Recht gesprochen haben – wenn er buchstäblich nicht mehr im Richterstuhl sitzen konnte, arbeitete er in einer Sänfte weiter. In seinen Verhandlungen ging es mal um Vatermord, mal um Testamentsfälschung. Auch Claudius war ein sehr aktiver Richter, der in einem Strafprozess auch mal Prostituierte als Zeuginnen vernahm. Die Parteien, aber auch das Publikum gerieten bei manchen Verhandlungen derart in Erregung, dass sie auch den Kaiser beschimpften oder sogar gegen ihn handgreiflich wurden.

 

Auf das Drama vor Gericht folgte als letzter Akt nicht selten die Hinrichtung. Auch Exekutionen waren öffentlich. Elternmörder wurden im Tiber versenkt, andere Delinquenten den Kapitolshügel heruntergestürzt, gekreuzigt oder wilden Tieren vorgeworfen. Letzteres drohte als Todesstrafe den Niedriggeborenen, die beim kleinsten Vergehen verurteilt wurden. Sich der Strafe durch Selbstmord zu entziehen, war hingegen Senatoren vorbehalten, die dadurch ihr Vermögen vor der Beschlagnahmung retten und sich selbst eine angemessene Trauerfeier sichern konnten. Die Trauerzüge der tonangebenden Familien folgten einer ausgeklügelten Choreographie und zogen sich mit Herolden, Musikanten und dem Defilee von Ahnenmasken aus Wachs oder purem Gold über Stunden. Auch hier waren bezahlte »Stimmungsmacher« am Werk, allerdings handelte es sich nicht um Beifallsspender, sondern um professionelle Klageweiber.

Eine Minderheit in Rom konnte sich diesen und allen anderen erdenklichen Luxus leisten. Die Oberschicht der Millionenstadt, etwa drei- oder viertausend Menschen, residierte geschützt von Staub, Hitze und Krach, verwöhnt von einem Heer von Sklaven in weitläufigen Villenanlagen, umgeben von Parks mit Schatten spendenden Bäumen, duftenden Blüten und erfrischenden Schwimmbecken. Die Reichen wohnten auf den Hügeln oder am Flussufer des Tibers, verbrachten die heißen Sommer außerhalb der stickigen Stadt auf ihren Landgütern oder in einer standesgemäßen Residenz am Meer. Familien aus Roms Senatsund Geldadel besaßen neben dem Stadthaus oft gleich mehrere »Ferienvillen« an beliebten Orten der Sommerfrische in den Albaner oder Sabiner Bergen oder am Golf von Neapel. Die Masse der Bevölkerung hingegen drängte sich sommers wie winters in den Vierteln der urbs mit engen, dunklen und vermutlich auch stinkenden Straßen, von denen viele nicht gepflastert waren.

Die meisten Römer lebten in den winzigen Wohnungen großer mehrstöckiger Mietshäuser. Der Wohnraum war knapp und teuer, deshalb wuchsen die Häuser in den Himmel. Fünf, sechs oder gar sieben Stockwerke waren keine Ausnahme. Von einer Heizung oder auch nur einer Küche konnten die Bewohner dieser insulae nur träumen. Ihre Apartments wurden im Sommer drückend heiß und im Winter schneidend kalt. Brände waren in den Armenvierteln an der Tagesordnung.

Mindestens ein Drittel der Bevölkerung war auf die Wohlfahrt angewiesen. Der Kaiser versorgte diese Bedürftigen monatlich mit Getreide und regelmäßig mit Geldspenden – eine gute Gelegenheit, um neben dem Sponsoring von Circus-Wettkämpfen und Festgelagen die eigene Großzügigkeit zu beweisen. Die Armen auf der kaiserlichen Versorgungsliste waren wohlgemerkt freigeborene Bürger, denn Sklaven mussten von ihrem eigenen Herrn versorgt werden, der als pater familias vollumfänglich für sie zuständig war und sie als sein lebendes Kapital gut ernährte. Das führte dazu, dass die Leibeigenen meistens deutlich besser versorgt waren als die freien, aber besitzlosen humiliores der einheimischen Unterschicht und die honestiores – Soldaten, Arbeiter und Handwerker mit einem Jahreslohn um tausend Sesterzen, der im teuren Rom nicht mehr garantierte als ein Existenzminimum.

Sklaven und Sklavinnen bildeten schätzungsweise ein weiteres Drittel der Bevölkerung. Es handelte sich zumeist um verschleppte Kriegsgefangene und deren Nachkommen, die rechtlos als Besitzgut ihrer Herren aufwuchsen. Viele mussten schwere Arbeit verrichten oder als Gladiatoren und Wagenlenker für das Vergnügen der Römer ihr Leben riskieren. Mit Glück konnte man aber auch in einer jener reichen Familien landen, die sich aus Statusgründen Hunderte von Sklaven leisteten, oft mehr, als sie beschäftigen konnten. In solchen Häusern arbeiteten Sklaven als ornatrix (Friseurin) oder Zofe, als Mundschenk, Kellermeister, Buchhalter oder gar Vermögensverwalter, zumeist gegen Lohn. Manche bekamen so viel, dass sie sich freikaufen konnten, andere wurden von ihrem Herrn befreit. Das war so verbreitet, dass Augustus für liberti (Freigelassene) ein Mindestalter von dreißig Jahren festlegte. Für testamentarische Freilassungen, die den größten Anteil ausmachten, wurde eine Höchstzahl von hundert pro Erblasser angeordnet.

Die liberti bildeten eine Klasse für sich auf dem Weg nach oben. Vor allem diejenigen mit höherer Bildung wie etwa Lehrer, Ärzte und Verwalter hatten gute Chancen, als römische Bürger Karriere zu machen. Unter Claudius konnten sie in höchste Regierungsämter aufsteigen, aber schon Augustus verkehrte persönlich im Haus des reichen Vedius Pollio. Der Sohn eines Ex-Sklaven war zum Ritter aufgestiegen und beschäftigte nun seinerseits jede Menge Sklaven. Als einer seiner Leibeigenen aus Ungeschick ein teures Kristallglas zerbrach, wollte der aufgebrachte Pollio ihn zur Strafe auf der Stelle töten. Augustus ließ sich daraufhin alle im Palast befindlichen Gläser bringen – und gab Befehl, sie zu zertrümmern. Pollio vermachte, um weiterer Bestrafung zu entgehen, dem Prinzeps testamentarisch seinen ganzen Besitz.

Die Ritter, zu denen der Sklaventreiber Pollio gehörte, waren als »zweiter Stand« gleich unter den Senatoren etabliert. Es handelte sich gewissermaßen um den Geldadel, denn das vorgeschriebene Mindestvermögen von 400.000 Sesterzen zur Aufnahme in den Ritterstand musste nicht nur aus Landbesitz bestehen, sondern konnte auch aus Handwerk, Handel oder Kreditvergabe erwirtschaftet werden. Besonders Letzteres machte nicht wenige Ritter reicher als die Senatoren. Den Gewinn aus ihren Geschäften investierten diese Bankiers beispielsweise in Immobilien, manchen gehörten halbe Stadtviertel. Der jüngere Plinius, ein erfolgreicher Anwalt und Staatsbediensteter, der es unter Trajan zum Konsul gebracht hatte, vererbte laut Testament fast zwanzig Millionen Sesterzen, betrachtete sich aber deshalb noch lange nicht als reichen Mann.

Plinius war vom Kaiser in den Senatorenstand befördert worden und hatte damit die oberste Schicht der Gesellschaftspyramide erreicht. Senatoren mussten mindestens eine Million Sesterzen (unter Augustus 1,2 Millionen) besitzen, die meisten waren aber sehr viel wohlhabender. Ihre Domänen in den Provinzen warfen so viel Ertrag ab, dass sie in Rom mit dem Geld nur so um sich werfen konnten. So soll Crassus, der wichtigste Geldgeber Cäsars, und reichste Römer seiner Zeit, über zweihundert Millionen Sesterzen verfügt haben. Cornelius Lentulus, ein Zeitgenosse von Tiberius, hatte sagenhafte vierhundert Millionen Sesterzen aufgehäuft, ebenso Narcissus, der mächtigste von Claudius’ Freigelassenen. Neros Berater Seneca kam immerhin auf dreihundert Millionen Sesterzen – obwohl er als Stoiker angeblich gar nicht an Geld interessiert war.

Augustus verkleinerte den Senat von tausend auf sechshundert Plätze. Gleichzeitig machte er das Senatorenamt erblich, verwandelte diesen Stand also in eine städtische Aristokratie. Diese existierte allerdings nicht unabhängig vom Kaiser, der jederzeit Senatoren berufen oder ihnen den Sitz entziehen konnte. Offiziell war Rom keine Monarchie, und so blieb die alte Adelsrepublik mit dem Senat als repräsentativem Staatskörper zumindest der Form halber weiter bestehen. Debatten fanden nach wie vor zweimal im Monat statt und wurden gewissenhaft protokolliert. Auch das Konsulat wurde weiter als höchstes Staatsamt von zwei Männern ausgeübt, allerdings war oft einer von ihnen der Prinzeps selbst. Doch die Senatoren ließen sich nicht zu bloßen Befehlsempfängern herabwürdigen, schließlich konnte niemand das riesige Reich allein regieren. So teilten sich die Oligarchen nach wie vor einen Gutteil der Macht und Pfründen in einer verwirrenden Vielzahl von Posten und Ämtern, die von der Verwaltung der reichsten Provinzen über den Kurator des Tibers und der städtischen Kanalisation bis zum Kommando der Legionen reichte.

Rom war ein klientelistisches Gefüge, in dem jeder Senator eine Vielzahl von Schutzbedürftigen (clientela) vertrat, ihr bei Gericht beistand oder sie finanziell unterstützte. Daraus ergab sich ein fein gesponnenes, politisch-soziales Netz wechselseitiger Abhängigkeiten, mit dem Prinzeps als Verknüpfer der Fäden im Zentrum der Macht. In seinem Rechenschaftsbericht bezeichnet sich Augustus als princeps senatus, also erster Mann des Senats, wie es seinem Selbstverständnis und seiner Herrschaftsideologie entsprach. Die Dialektik zwischen Prinzeps und Senat bestimmte die Politik, wobei jeder Herrscher mit Verschwörungen und Umsturzversuchen zu kämpfen hatte. Als primus inter pares war der Prinzeps auf eine möglichst breite Zustimmung angewiesen, die er erhielt, indem er sich möglichst nicht als Diktator gerierte. Augustus gelang das meisterhaft, seinen Nachfolgern weniger. Tiberius wollte dem Ältestenrat zunächst republikanische Macht zurückerstatten und ließ ihn dann von seinem Vasallen Sejan unterwerfen. Claudius gewährte Freigelassenen zu viel Macht. Caligula und Nero brachten die Aristokraten derart gegen sich auf, dass sie gestürzt wurden.