Die Giftmischerin

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Die Giftmischerin
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Bettina Szrama

Die Giftmischerin

Historischer Kriminalroman

Zum Buch

DER ENGEL VON BREMEN Die Hansestadt Bremen im frühen 19. Jahrhundert. In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, intelligent und schön, sehnt sich die junge Gesche Margarethe Timm nach Glanz und Reichtum. Um dieses Ziel zu erreichen, ist ihr jedes Mittel recht. Frühzeitig bestiehlt sie ihre Eltern und beginnt, skrupellos und heimtückisch alle zu töten, die ihrem Erfolg im Weg stehen. Manche ihrer Opfer pflegt sie dabei bis zum Gifttod aufopferungsvoll – als »Engel von Bremen«.

Der erste historische Kriminalroman über Gesche Gottfried, Deutschlands berühmteste Serienmörderin.

Bettina Szrama, geboren 1952 in Meißen, absolvierte ein Literaturstudium in Hamburg. Danach war sie als Journalistin für diverse Regionalzeitungen und Tierzeitschriften tätig, seit 1994 veröffentlicht sie auch im belletristischen Bereich.

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Die Hure und der Meisterdieb (2011)

Die Konkubine des Mörders (2010)

Die Giftmischerin (2009)

Impressum

Dieses Buch wurde vermittelt durch die Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de).

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Katja Ernst

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung des Bildes »Salome« von Sebastiano del Piombo,

www.visipix.com

ISBN 978-3-8392-3018-3

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Vorbemerkung

Eine Mörderin wird geboren

Unheilvolle Wurzeln

Die Leiden einer Ehe

Eine verruchte und eine unerfüllte Liebe

Vorbereitungen für einen Mord, Miltenbergs Tod und die seltsame Trauer einer Mörderin

Vergib mir, Gott! Die Kinder, die Mutter und der Vater sind meiner Liebe im Weg

Falsche Tränen um Christoph

Gottfried, im Namen Gottes, ich habe dich geliebt!

Reue, finanzielle Nöte und die seltsame Liebe des David Xaver

Eine tödliche Verlobung

Vergangene Sünden rächen sich

Die Verhaftung

Tod durch das Schwert

Schlusswort der Verfasserin

Zum besseren Verständnis die zeitlichen Abläufe der Vergiftungen

Recherchen zu diesem Buch

Vorbemerkung

Das Bild der altehrwürdigen Hansestadt Bremen prägt seit vielen Jahrhunderten der Dom St. Petri. Ungefähr 20 Meter vor dessen Nordwand, gegenüber dem Brautportal, erinnert ein unscheinbarer Granitstein mit einem Kreuz in der Mitte an das Blutgerüst, welches einst genau an dieser Stelle stand und auf dem die Giftmörderin Gesche Gottfried mit einem Schwertstreich vom Leben zum Tode befördert wurde. Noch heute spucken die Menschen voll Abscheu vor den Gräueltaten Gesches auf diesen Stein, sodass er niemals trocken wird.

Eine Mörderin wird geboren

In einer frostklaren Märznacht des Jahres 1785 brannte hinter einem mit einem leichten Vorhang bedeckten Fenster im kleinen Fachwerkhaus am Jakobi Kirchhof noch helles Licht. Der Grund für die ungewöhnliche Beleuchtung zu so später Stunde war die bevorstehende Geburt des ersten Kindes von Schneidermeister Timm und dessen blutjunger Ehefrau. Das von den Anstrengungen blasse Weib saß breitbeinig auf dem Rand des Ehebetts inmitten des bescheidenen Hausstands ihres unlängst erworbenen Heims und schwitzte heftig. Bei jedem neuerlichen Röcheln aus ihrem leicht geöffneten Mund drückte ihr Gatte Johann beruhigend ihre Hand und tupfte ihr mit einem Tuch liebevoll die Schweißperlen von der Stirn. Unterdessen zeichnete sich auf dem Gesicht des herbeigerufenen Doktors, der vor der Gebärenden auf dem gescheuerten Holzboden kniete, eine steile Sorgenfalte ab. Die wollenen Kleider der Wöchnerin waren nach oben gerafft. Darunter wölbte sich der Leib nach vorn, einem riesigen Kürbis gleich. Die schweißnassen Oberschenkel schimmerten weiß im Dämmerlicht.

Es war ungewöhnlich, dass bei der Geburt der Doktor zugegen war und nicht die Hebamme. Aber die Wollnäherin hatte schon seit Tagen nicht mehr an der Nähmaschine sitzen können. Zu stark war der Leib angeschwollen und trieb das Wasser in die Beine, sodass der altbewährte Doktor Asbrandt, ein guter Freund des Hauses, Komplikationen befürchtete. Deshalb war er auch ohne zu zögern auf den Wagen gestiegen, als der junge Johann barhäuptig und mit wehenden Haaren vor seinem Haus hielt und ängstlich gegen den Sturm anschrie: »Doktor, bitte kommen Sie schnell! Es will nicht mehr warten. Margarethe, mein Eheweib, windet sich in den Wehen!«

Jetzt, hier in der Stube, übertönte die kräftige Stimme des Arztes den Sturm, der mit aller Macht an den dünnen Fensterscheiben rüttelte: »Es ist das Kind, das Eurer Gattin ein so starkes Übel bereitet. Es dreht sich immer wieder weg, so als wolle es nicht auf die Welt.« Die Gebärende ließ bei jedem seiner Worte ein vernehmliches Wimmern hören.

»Ich brauche heißes Wasser und Tücher!«, befahl er der Magd, die gerade zur Tür hereinkam, und krempelte nun hastig die Ärmel des Hemdes bis zur Schulter hoch. »Madame, wir werden es gemeinsam schaffen!«, beruhigte er die Wöchnerin und beobachtete besorgt ihr Gesicht. »Ihr müsst nur kräftig pressen. Den Rest erledige ich.«

Doch das junge Weib schien ihn nicht zu hören und jammerte stattdessen nur noch lauter. Ihrer Jugend zum Trotz war sie nicht sehr kräftig, was die Sache erschwerte. Voller Angst hielt sie die Hand ihres Gatten umklammert.

»Lasst Johanns Hand einen Moment los, damit ich Euch den Puls fühlen kann«, beruhigte er sie und strich ihr sanft über den gewölbten Leib, während er mit ernster Miene die Pulsschläge an ihrem Handgelenk zählte. Sie waren unregelmäßig und schwach. Als der Doktor damit fertig war, ließ er die Magd Wein holen, mit dem er der Wöchnerin Stirn und Schläfen abtupfte. Dann hockte er sich wieder vor die Frau, ließ sich ein frisches, in heißes Wasser getauchtes Tuch reichen und begann, den Bereich um die Schamlippen zu säubern. Plötzlich stöhnte die Schwangere heftig. Eine Wehe durchzuckte ihren Leib. Sie presste. Der Doktor beobachtete, wie sich die Vagina faustgroß öffnete und ein runder Körperteil mit hellem Flaum sichtbar wurde: das Köpfchen des Kindes. Die Wehe ging vorüber, der Spalt wurde wieder schmaler. Da machte er seine Hand so klein wie möglich und rief: »Nicht aufhören, weiter pressen, Madame!« Im gleichen Moment entrang sich der Wöchnerin ein furchtbarer Schrei, der viel Ähnlichkeit mit demjenigen des sterbenden Käuzchens hatte, das vom Sturm gegen das Fensterkreuz geschleudert wurde. Als der Schmerz verebbte und die Frau ermattet die Augen aufschlug, zappelte am Arm des Doktors ein kleines, blutiges Bündel. Der Arzt hielt es mit dem Köpfchen nach unten und schlug ihm mit der flachen Hand auf das Hinterteil, so lange, bis sein dünnes Schreien von den Wänden widerhallte. Es war der Schrei eines kleinen Mädchens. Als er sah, dass sich die Züge der Wöchnerin entspannten, legte er ihr das Neugeborene in den Arm. »Gott will, dass Ihr Euren Gatten mit zweifachem Segen beschenkt«, sagte er eilig und begab sich zurück in die kniende Stellung. Sanft drückte er die weißen Schenkel der Wöchnerin erneut auseinander. »Ihr müsst noch einmal pressen, Madame«, befahl er ihr.

Das Blut, das ihre blassen Wangen beim Anblick des gesunden Kindes in heller Freude gerötet hatte, wich nun von Neuem aus ihrem Gesicht. Verflogen war das kurze Aufflackern von Glück über das Mädchen, das der Mutter im Haushalt zur Hand gehen kann. Stattdessen entrangen sich ihr zwischen zwei langen Seufzern die verzweifelten Worte: »Oh, mein Gott, wie soll ich denn zwei Kinder satt bekommen und erziehen!«

 

Es verging keine Viertelstunde, da gebar Margarethe Timm einen Sohn. Doch als ob Gott ihr Klagen erhört hatte, versiegte nach dem Anlegen des Knaben die Milch. Als der Doktor ihr nun das Mädchen zum Stillen an die Brust legte, sah er, wie die Wangen der Mutter fleckig wurden und ihr Körper sich heftig, wie im Fieber, aufbäumte. Erschrocken legte er ihr die schwielige Hand auf die heiße Stirn und sagte zu Johann, der mit bangen Blicken an seinem Gesicht hing: »Sie hat es noch nicht überstanden. Es scheint, als bekomme sie das Fieber. In ihrem Zustand kann sie nur ein Kind nähren.« Mit einem langen Blick auf den satten, rosigen Jungen in der Wiege fügte er nachdenklich hinzu: »Gottes Wege sind seltsam. Den Zweitgeborenen nährt er, und die erstgeborene Tochter will er zurück.«

Auch Margarethe hatte diese Worte vernommen und richtete sich daraufhin mühsam auf. Rasch nahm ihr der Gatte das schreiende Bündel aus den Armen, während der Doktor die Kraftlose in seinen Armen auffing. Er drückte sie behutsam zurück auf das frisch bezogene Bett, von wo aus sie ihn mit tonloser Stimme anflehte: »Bitte, Herr Doktor! Ich will es behalten. Um jeden Preis. Es ist ein so schönes Mädchen.« Das Gesicht des Arztes umschattete sich. Ernst ergriff er die kalten Hände der jungen Mutter. Die Entscheidung fiel ihm nicht leicht. »Sie werden viel Freude an dem Jungen haben. Das Mädchen aber sollten wir Gott anvertrauen, so es sein Wille ist«, riet er ihr leise.

»Wir könnten für das Kind eine Amme einstellen, die es nährt«, wandte Johann zaghaft ein. Als er das vor Hunger brüllende Kind in Margarethes Arme zurücklegte, presste die es sogleich ängstlich an die leere Brust.

»Die können wir nicht bezahlen, mein lieber Mann«, hauchte die Gattin mit blutleeren Lippen. »Aber vielleicht kann ja die Zigeunerin helfen?«

Die Zigeunerin war eine zugewanderte Jungfrau aus der Neustadt, bei der sich Margarethe oft heimlich aus der Hand lesen ließ. Johann mochte die liederliche Frau mit den vielen Warzen im Gesicht und dem auffälligen Zeichen auf den Händen nicht besonders, zumal niemand wusste, in welchem Land dieses Weib zu Hause war und woher sie die seltsame Gabe wahrzusagen nahm. Von einem zwanghaften Aberglauben beherrscht, versuchte er, sie von seinem Hause fernzuhalten – ein Vorhaben, das schon einmal deshalb zum Scheitern verurteilt war, weil sein Weib ihre Kleider bei ihr nähen ließ. Man munkelte, sie sei eine abgelegte Mätresse, die sich mit allerlei Budenzauber durchs Leben schlug.

Johann atmete tief durch und küsste seine Frau besorgt auf die Stirn. »Wenn du es wünschst, werde ich sie holen«, beruhigte er sie und hoffte insgeheim, sie werde ihre Absicht noch ändern. Doch Margarethe nickte nur schwach, während das Mädchen sein Zögern mit so kräftiger Stimme beantwortete, dass er Furcht bekam, das Kind würde an seinem eigenen Schrei ersticken.

»Ich wüsste noch jemanden, der Euer Kind nähren könnte. Aber es ist kein gottesfürchtiges Weib«, hielt ihn der Doktor nach kurzem Zögern zurück und kramte im Instrumentenkoffer, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Er holte Papier und Feder hervor und kritzelte eilig einen Namen und eine Adresse darauf. Dann stülpte er sich den Zylinder über das weiße Haar und reichte Johann das Blatt. »Sie ist noch in der Strafanstalt untergebracht.«

»Im Zuchthaus?« Johann, bereits in Mantel und Hut, blickte entsetzt auf das Papier in der Hand des Doktors.

»Ja. Es ist eine Negerin. Ein Weib, von dem man sagt, es habe Unzucht getrieben und gemordet. Sie ist nur knapp dem Todesurteil entronnen. Aber ihre Brüste sind voll mit Milch, denn sie hat im Zuchthaus ein totes Kind geboren. Für eine Unterkunft außerhalb ihrer Gefangenschaft wird sie das Kind sicherlich nähren und Eurem Eheweib so lange im Haus zur Hand gehen, bis Ihr ihrer Hilfe nicht mehr bedürft.«

»Aber ihre Milch …?« Johann öffnete dem Doktor die Tür, nachdem der Arzt noch einmal Margarethes Puls gefühlt hatte und sich nun für diese Nacht empfahl. Heftige Bedenken plagten ihn.

»Ich weiß, welche bange Frage auf Eurer Seele lastet.« Der Arzt lächelte beruhigend. »Aber keine Angst. Morgen werde ich wieder nach Eurer Frau und den Kindern sehen. Ihr müsst nur das schwarze Weib im Auge behalten. In ihrem Zeugnis steht, sie sei von heftiger Gemütsart. Aber Milch ist Milch. Sie wird dem Mädchen guttun.«

Im Türrahmen drehte er sich ein letztes Mal um und drückte Johann die Hand: »Wenn Ihr das Mädchen durchbringen wollt, Johann, so müsst Ihr Euch beeilen und die Amme umgehend in Euer Haus holen. Am besten noch heute in den frühen Morgenstunden.«

Auf dem Treppenabsatz fiel ihm ein, dass er Johann gar nicht nach den Namen der Kinder gefragt hatte. Er wandte sich um und rief von der Diele aus: »Wie sollen die beiden denn heißen?«

»Der Junge Johann Christoph und das Mädchen Gesche Margarethe.«

Unheilvolle Wurzeln

»Mein Sohn, warum enttäuschst du mich so? Habe ich es dir jemals an Speise und Trank fehlen lassen? Nach welchen Wünschen, mein Sohn, sehnt sich plötzlich dein Herz? Haben wir dich nicht Gehorsam und Gottesfurcht gelehrt, dir immer wieder eingeschärft, nicht nach Dingen zu verlangen, die einfach nicht für dich gedacht sind?«

Johann Timm stand am Fenster der Schneiderwerkstatt zwischen unfertigen Schnürbrüsten, Tuchballen und Bügelblöcken und blickte mit sorgenvollem Gesicht hinaus auf die belebte Straße. Man schrieb den ersten Sonntag im Mai. Die wohlhabenden Bürger in der Pelzerstraße flanierten nach dem Kirchgang unter seinem Fenster vorbei und genossen die wärmenden Sonnenstrahlen. Nicht ohne fachliches Interesse betrachtete Schneidermeister Timm die eleganten englischen Roben, die dunkelfarbigen Röcke, die weich fließenden, unter der Brust gebundenen Gewänder aus feinster Seide und Musselin, die die Damen trugen. Ein sündiger Wohlstand, der ihm Kopfzerbrechen bereitete. Er und sein Weib galten als ehrbare Leute, einfach zwar, stets jedoch rechtschaffen und gläubig. Mit dem sonntäglichen Kirchgang allerdings nahmen sie es nicht so genau. Für Timm war es nahezu selbstverständlich, dass er und seine Gesellen auch die Sonntage zur Arbeit nutzten, um den Kunden die bestellten Mäntel, Hosen und Westen termingerecht liefern zu können. Zudem hielt er nicht allzu viel von zur Schau getragener Frömmigkeit. Die Arbeit ging vor. Nicht umsonst sagten die Nachbarn über ihn, er sei so bienenfleißig in seinem Berufe, dass er beim Nähen sogar den Atem anhalte, um die Anzahl der Nadelstiche pro Minute zu steigern. Diese redliche Arbeitsamkeit und seine Sparsamkeit hatten ihn letztlich aus der Armut herausgeholt und ihm zu einem bescheidenen Wohlstand verholfen. Umso schmerzlicher war nun die bittere Erkenntnis, dass der geliebte Sohn den Verlockungen der sündhaften Habgier verfiel und sich bereits seit Längerem heimlich aus der Haushaltskasse bediente. Nun hatte er seine Diebereien sogar bis auf die Mamsell Stubing im Haus ausgeweitet.

»Herr Vater …«, druckste Christoph leise, den Blick schamvoll gen Dielenboden gesenkt. »Niemals würde ich es wagen, die Hand wider die Gebote Gottes zu erheben. Niemals würde ich es wagen, Ihnen derartigen Kummer zu bereiten.«

»Mein Sohn! Du wagst es auch noch zu leugnen?« Mit einem Seufzer drehte sich Timm vom Fenster weg. Traurig und in maßloser Enttäuschung heftete er die Augen auf den geliebten Spross. Seltsam, dachte er bei sich. Dabei wanderte sein strenger Blick vom blonden Schopf abwärts zur hellen Leinenhose und den abgenutzten Husarenstiefeln, deren langer Schaft das magere Bein bis zum Knie verdeckte. Es war ein Schuhwerk, wie es die Husaren in den napoleonischen Korps trugen, und dem Vater galt es als sicher, dass Christoph die gestohlenen Taler dazu verwendet hatte, seiner offensichtlichen Eitelkeit zu frönen. Beim Gedanken an die Zukunft krampfte sich sein Magen zusammen.

»Knie nieder, mein Sohn, und empfange meine Strafe! Wie ich sehe, stand dir der Sinn nach Husarenstiefeln. Eine Verführung des Bösen, gut genug zum Prahlen vor deinesgleichen. Dabei hätte Schuster Hermann an der Ecke dir sicherlich ein paar ebenso gute Galoschen genäht. Du aber bestiehlst die gute Mamsell und lässt es dann auch noch zu, dass die Mutter und die Gesche auf der Suche nach dem vermissten Taler das ganze Haus durchstreifen. Frevelhafter noch, versuchst du gar den Eindruck zu erwecken, deine Schwester wäre der Dieb gewesen!«, polterte Timm, während er einen liebevollen Blick auf das blasse Mädchen an seiner Seite warf. Es bedrückte ihn, dass Christoph sich so ganz anders als Gesche entwickelte. Schon seit Längerem zeigte er sich still, ja, beinahe verstockt. Nicht einmal der kleinste Widerspruch kam über seine Lippen, während seine temperamentvolle Schwester der Mutter bei jeder Gelegenheit aufs Heftigste widersprach.

Unter dem Blick des Vaters schlug Gesche züchtig die Augen nieder. Als Timm einen Schritt auf sie zu trat, ergriff sie seine Hände und benetzte sie mit ihren Tränen: »Vater! Bitte tut dem Christoph nicht weh. Er ist kein Sünder. Er ist mein Bruder, und ich werde diese Sünde gerne auf mich nehmen, wenn ich Sie damit wieder froh machen kann.« Das war seine kluge Gesche. Die Tränen liefen ihr über die rosigen Wangen, während sie sich um der väterlichen Liebe willen mit fremder Schuld belud. Am liebsten hätte Timm die Tochter vor Rührung an sein ergriffenes Vaterherz gedrückt. Doch unterbrachen ein paar unbequeme Worte Margarethes diesen spontanen Impuls.

»Ruhig Blut, Johann, ich werde schon noch hinter die Wahrheit kommen. Just in dieser Sache habe ich mir diesen Morgen die Karten legen lassen. Nachdem ich der weisen Frau meine Not geklagt hatte, zog diese einen Spiegel hervor, und wie ich hineinsehe, oh Schreck, steht doch der Dieb direkt hinter mir und guckt mir frech über die Schulter.«

Argwöhnisch musterte Margarethe ihre Tochter, deren Wangen sich nun, da sie sich ertappt fühlte, dunkelrot färbten. Lange schon hatte die Mutter Mittel und Wege ersonnen, die Tochter, die sie der Taten verdächtigte, zu überführen. Wie ein Schwert drangen nun die Worte der Älteren in Gesches beinahe noch kindliches Herz. Dass sich die Mutter wieder einmal bei der Zigeunerin Rat geholt hatte, war ihr entgangen. Innerlich zu Tode darüber erschrocken, dass das Gesicht im Spiegel möglicherweise ihre Züge getragen hatte und ihre Taten nun entdeckt worden waren, schwor sie bei sich augenblicklich 1.000 Eide, die Mutter nie wieder zu bestehlen. Im Verstellen aber bereits eine kleine Meisterin, blieb sie nach außen hin gelassen und mimte listig die Unschuldige. »Mutter, ich stehe mit reinem Herzen vor Ihnen. Warum misstrauen Sie mir? Sollte sich in meinem Herzen das Böse eingenistet haben, so will ich nicht länger Ihre Tochter sein, und Gott wird mich auf der Stelle strafen.«

Ein wenig ängstlich ob dieser Lüge, innerlich aber dennoch frohlockend, die schmalen Hände artig vor der Brust gefaltet, erreichte sie, dass der geliebte Vater ihr nun beisprang. Überzeugt von ihrer Unschuld, wies er Margarethe zurecht: »Weib, du wirst doch einer Hexe nicht mehr Glauben schenken als deiner eigenen Tochter! Wenn Gesche eine Diebin wäre, so hätte ich es doch wohl zuerst bemerkt. Würden denn dann nicht die Groten weniger werden, die ich im Topf überm Bett für ihre Aussteuer spare? Nein, Mutter, sieh es dir doch nur an, unser zartes Kind: Sind diese sanften blauen Augen die Augen einer Lügnerin?« Von seinen eignen Worten gerührt, strich er über den blonden Schopf der Tochter.

Verunsichert schaute Margarethe nun vom Sohn zur Tochter und suchte letztlich in den gütigen Augen der grauhaarigen Mamsell, deren rundes Gesicht nun im Türrahmen erschien, nach des Rätsels Lösung. Doch Mamsell Stubing zog nur bedeutungsvoll die rechte Augenbraue etwas hoch und schloss leise die Tür hinter sich. Da fasste Margarethe die vermeintliche Diebin mit den Fingerspitzen fest am Kinn, schaute ihr unverwandt in die Augen und sagte: »Dann hat sich der Spiegel wohl geirrt, und ich muss Gott um Verzeihung bitten, dass ich meine unschuldige Tochter des Diebstahls verdächtigt habe.«

Im selben Moment bedeutete sie ihrem Gatten mit einer Geste, ihr zu einer Unterredung ein Stockwerk höher in die gute Stube zu folgen. Johann ging hinter ihr über eine schmale Treppe in das bescheiden ausgestattete Wohnzimmer. Vor einem ausladenden Schrank mit kleinen eingearbeiteten Schubladen ließ er sich nieder und erwartete mit ernster Miene, was ihm die Gattin Wichtiges zu sagen hatte.

 

Margarethe befreite sich zunächst vom Maßband auf ihren Schultern und legte es zu der Schneiderkreide auf den Tisch. »Gott möge mir verzeihen, Johann, wenn ich unsere Gesche verdächtige, diese kleinen Betrügereien begangen zu haben. Aber ich beobachte schon länger eine beunruhigende Entwicklung unserer geliebten Tochter, und ich mache mir ernsthafte Vorwürfe, dass wir damals keine bessere Amme für unser Kind gesucht haben. Gegen das Böse in der Milch der Verbrecherin kommt wohl selbst der Religionsunterricht bei Pastor Vogt nicht an. Allem Anschein nach hat er ihr Herz unberührt gelassen. Das Kind hat nicht die allerkleinste Achtung vor Gott und den Menschen, Johann.«

»Aber Mutter, warum siehst du die Dinge so schwarz?« Johann war aufgestanden und zog seine erregte Gattin an die Brust. Eine Geste, die er sich selten erlaubte, obwohl er Margarethe doch über alles liebte. Als rechtschaffene Leute führten sie ein Leben in gesetzmäßiger Strenge, und bei aller Liebe zu den Kindern stand die Sorge um den Lebensunterhalt eben immer im Vordergrund. Johann Timm fragte sich so manches Mal, ob er seinen Kindern nicht ein wenig zu viel abverlangte. »Vielleicht haben wir Gesche zu früh von der Schule genommen und zu viel in Haus und Werkstatt arbeiten lassen?«

»Für diese Arbeit wird sie reichlich entlohnt. Außerdem macht sie ihr Spaß. Das intelligente Kind nutzt ja sogar seine Lese- und Schreibkünste für deine Kassenabschlüsse. Ohne sie geht es hier einfach nicht mehr. Außerdem hat sie durch die Arbeit bisher viele Taler einsparen können.«

»Aber seit unserer Entscheidung, sie das Handwerk des Kleidermachens zu lehren, leidet sie zusehends an einer Augenschwäche und bekommt häufig Drüsenentzündungen. Überhaupt wird sie immer zarter und magerer«, verteidigte Johann seine geliebte Gesche. Auf die Tochter ließ er nun mal nichts kommen. Es fehlte ihm einfach die Vorstellungskraft, in dem sanften Kind könne etwas Böses, ja, vielleicht sogar etwas Bedrohliches schlummern.

Margarethe, die wiederum den Sohn selbst genährt und ihn wahrscheinlich schon deshalb ein wenig mehr ins Herz geschlossen hatte, entzog sich Timm. Die Hände in die ausladenden Hüften gestemmt, belehrte sie ihn: »Daran liegt es auch nicht. Gesche wird nur an drei Tagen der Woche zum Wollnähen herangezogen, eine Fertigkeit, in welcher Majorin Köhnen sie mit viel Hinwendung und Ausdauer unterrichtet. Eben gerade, weil ihr aufgrund dieser Augenschwäche das Erlernen jeder feineren Handarbeit unmöglich ist. Allerdings konnte sie sehr gut sehen, als sie mich einst beim Weißbrot-

holen bestahl und sich dabei unentdeckt wähnte. Damals schon hätte ich sie zurechtweisen sollen, dann hätte sie vielleicht nie damit begonnen, heimlich aus meiner Tasche erst einen, dann zwei und später drei Groten zu entwenden, bis sie bei zwölfen angelangt war. Zunächst zweifelte auch ich, ob nicht doch auch Christoph dahinterstecken könne. Aber die bestohlene Mamsell hat mich in meinem Verdacht bestärkt.«

»Nicht die Mamsell war es, Margarethe. Das unheilige Weib, diese Zigeunerin, hat dich wider unsere Tochter aufgehetzt und dir die Augen verblendet. Seit der Geburt der Zwillinge liebst du Christoph mehr als Gesche, gib es doch endlich zu.« Enttäuscht sprach Johann jetzt lauter, als er es beabsichtigt hatte. Nie tat er etwas unüberlegt, und immer war er sich eins mit seinem Weibe. Aber dieses Mal verlor er schlicht die Beherrschung und überschüttete sie geradezu mit Vorwürfen, weil er den Eindruck hatte, dass Margarethe der geliebten Tochter zutiefst Unrecht tat. Als er der schroffen Wirkung seines unbeabsichtigten Gefühlsausbruchs gewahr wurde, vergewisserte er sich zunächst, dass ihn niemand im Hause gehört hatte, und schlug einen leiseren Ton an. Die Hände auf dem Rücken und den Kneifer im Auge, begann er, mit kurzen Schritten nervös vor Margarethe auf und ab zu laufen.

»Aber Mutter!«, verfiel er wieder in die übliche liebevolle Anrede und blieb vor Margarethe stehen. »Wir haben die Kinder doch zur Einfachheit erzogen. Schon das Geschenk eines Kreuzbrotes kann unsere Gesche ebenso erfreuen wie die kostbarste Gabe. Nie ist Traurigkeit in ihrem Gesicht zu lesen, immer leuchtet ein kleines Lächeln in ihren Augen, und bereitwillig, fast schon glücklich, trägt sie deine abgelegte Kleidung. Margarethe, ich bitte dich, entsinne dich doch einmal, wie sie sich über ihr erstes eigenes Seidenkleid zur Konfirmation gefreut hat. Überglücklich war das Kind. Seitdem beschenkt sie jeden Mittwoch und jeden Freitag die Armen mit übrig gebliebenen Speisen, alten Kleidern oder auch mal einem Groten. Denk nur an das vielstimmige Lob auf unsere liebliche, sanfte Gesche aus den Mündern dieser armen Leute. Sie reden sogar schon von einem Schatz, den wir uns im Hause großziehen. Denk daran, dass dieses Kind vor Mitleid bittere Tränen vergießt, wenn es eine tote Wespe im Honig findet oder der Hofhund an Altersschwäche stirbt. Bist du nun etwa immer noch davon überzeugt, dass so ein wundervoller Mensch die Eltern bestiehlt?«

Auf Margarethes Gesicht breitete sich ein warmes Lächeln aus. Oh, wie sehr sie ihren Johann doch liebte! Mit seiner Herzenswärme und seinem Verstand hatte er es wieder einmal geschafft, ihr sämtliche Zweifel von der Seele zu reden.

»Wir werden es noch einmal genau überdenken. Vielleicht ist der Dieb auch unter den Gesellen zu suchen, und wir beschuldigen unsere Kinder zu Unrecht. Du hast recht, Vater! Wir haben uns nichts vorzuwerfen. Unsere Kinder bekommen die beste Erziehung, die wir ihnen nur geben können. Alles andere wird Gott richten.«

Ein paar Jahre später, gegen Mitternacht: Der Nachtwächter lief durch die Gassen und läutete die Schlafenszeit ein. Mit dem letzten Glockenschlag der Kirchturmuhr löschte er die Straßenlaternen. Da die Pfähle der Öllampen viel zu hoch für ihn waren, musste er sich weit nach oben strecken, und es dauerte eine Weile, bis auch das letzte Lampenglas erlosch. Nur in den Lesezimmern des englischen Klubs und in einem der Kasinos um die Ecke brannte nun noch schummriges Licht. Ab und zu, wenn die Tür sich öffnete, zerrissen ein paar Männerstimmen die Stille, und Gesprächsfetzen drangen hinaus auf die Straße bis hin zur Schneiderwerkstatt. Hier saß die Jungfer Gesche auf einem Schneiderpodest und trug im trüben Schein der Öllampe die Verdienste des Vaters und die Haushaltsausgaben der Mutter mit einer Feder in das vor ihr liegende Wirtschaftsbuch ein. Für Butter, Brot, Torf und Wintergemüse zählte sie für die Mutter das Geld im Voraus ab und wickelte es in ein Papier, wo-

rauf sie mit fein säuberlicher Schrift die jeweilige Bestimmung vermerkte. Die frühen Nachmittagsstunden hatte Gesche in der Kirchspielschule mit Rechnen verbracht. Danach war ihr es vergönnt gewesen, ein paar Minuten in ihrem Lieblingsbuch zu lesen. Von dieser Lektüre noch völlig in den Bann gezogen und im Herzen stark berührt, unterbrach sie die Arbeit und ließ den Blick träumerisch in die Ferne schweifen. In diesem Moment betrat ihr Bruder Christoph die Werkstatt, mit schneeweißen Händen, die wilden, sonst ungebändigten Haare im Nacken zum Zopf gebunden, den er mit einer dunklen Schleife auf dem Scheitel befestigt hatte. Eine Weile lang sah er ihr beim Träumen zu, bevor er sie kopfschüttelnd fragte: »Was machst du hier noch zu so später Stunde, Schwester?«

Als er keine Antwort erhielt, huschte ein kaum merkliches Grinsen über das Gesicht des jungen Mannes. Das Schicksal schien es gut mit ihm zu meinen und gab ihm offenbar die Möglichkeit, sich hier nun wenigstens etwas für die vielen zu Unrecht erlittenen Beschuldigungen zu rächen. Blitzschnell fuhr seine Hand über den Tisch und schob eine Reihe aufgestapelter Groten vom Tisch, die daraufhin klirrend zu Boden rollten. Gesche entfuhr ein spitzer Schrei, doch fing sie die Münzen geschickt mit den Händen an der Tischkante auf. Unwirsch tadelte sie den Bruder: »Warum störst du mich bei der Arbeit und bringst alles in Unordnung?«

Auf den ebenmäßigen, wie von der Hand eines Bildhauers geschaffenen Zügen lag ein sanfter Vorwurf. In den blauen Augen hinter der grauen Arbeitsbrille schimmerte es feucht. »Du weißt doch, dass die Mutter und der Vater meiner Hilfe in der Buchführung so dringend bedürfen. Also lass mich nun bitte schnell noch die offenen Einnahmen ins Buch eintragen, ja?«

Rasch sammelte sie die restlichen Geldstücke ein. Als sie die Feder in das Tintenfässchen tauchte, um eine weitere Papierrolle zu beschriften, umschloss Christophs starke Rechte ihr zartes Handgelenk. Kritisch zog er die blonden Brauen nach oben. »Der Vater hat dir verboten, bis in die Nachtstunden hinein zu arbeiten. Er sorgt sich um deine Gesundheit. Wie lange willst du eigentlich den Eltern noch diesen Kummer bereiten?«

Tapfer hielt Gesche dem Blick des Bruders stand, während sie seiner Umklammerung einen schwachen Widerstand entgegensetzte. Doch die Hand des Schneiders war stark. Er drückte fester zu und näherte sich ihrem Gesicht. Unnachgiebig zwang er sie, ihm in die Augen zu sehen.

»Du arbeitest doch nicht aus Freude, so wie es die Eltern vermuten. Gib es zu, es ist das Wirtschaftsgeld, von dem du dir erhoffst, deine kleinen Eitelkeiten zu finanzieren!«, versuchte er, sie aus der Reserve zu locken, während sein Griff fester wurde und die zarte, weiße Haut am Handgelenk sich rötete.