Mitternachtsnotar

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Mitternachtsnotar
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Bettina Kerwien

Mitternachtsnotar

Berlin-Krimi

Jaron Verlag

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf

Vermittlung von BookaBook, der Literarischen Agentur

Elmar Klupsch, Stuttgart.

Originalausgabe

1. Auflage 2017

© 2017 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Carsten Tiemessen, Düsseldorf

Satz: Prill Partners | producing, Barcelona

E-Book-Herstellung Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-95552-234-6

Everything God does not want is mine.

Ted Hughes, Crow’s Feast

Für alle Rebellen

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zitat/Widmung

Verflucht

Momentversagen

Die Bombe

Der Herr Vater

Vorgeladen

Erweiterter Suizid

Doktor Selma

Familiengeheimnisse

Comeback

Reinickendorf steht auf

Die granatrote Dame

Wildes Herz

Ortstermin

Der Rädelsführer

Die Sehnsucht der starken Frau

Schmiergeld

Witwenschütteln

Abteilung Attacke

Mitternachtsnotar

Rechts- und ordnungswidrig

Nur geträumt

Spannungsrisse

Böses Geld

Einschreiben Rückschein

Californication

Liebe geht durch den Magen

Millionendorf

Hilflos

Aufgeschnitten

Ein bisschen Spaß muss sein

Besuchstag

Die Party

Fly Me to the Moon

Paradox

Hinein in die Nacht

Der Stewardessenkenner

Spree tut weh

Nächste Ausfahrt Kudamm

Kriegsberichterstatter

Das volle Programm

Das Gleichnis des ziehenden Wassers

Das Gefühl, alles erreicht zu haben

Das Schöne

Konfrontationsidentifikation

Ein Herz geht an Bord

Keine Angst vorm Fliegen

Frühstück im Mailicht

Leichengift

Der Fallschirm

Milchbrötchengefühl

Erdbeervergiftung

Spiel mir das Lied vom Tod

Der König der Welt

Die innere Weisheit der Waltraud T.

Ausgeschnitten

Der Besuch der jungen Dame

Nichts und wieder nichts

Amour fou

Kentuckys

Eine Hand wäscht die andere

Hasso

Das Ebenbild Gottes

Vom Himmel hoch, da komm ich her

Schrei für mich

Leben und Sterben in Berlin

Handspiel

Die Frau, die den Regen liebt

Wir kommen in Ordnung

Vom Mehrwert der Moral

Gute Tage

Danke

Ebenfalls im Jaron Verlag erschienen

Verflucht

Berlin-Tegel. In den Vorgärten der Kleinhaussiedlung riecht es nach Ofenheizung und schlesischem Apfelkuchen.

Michael Waschke streckt seine Hand aus, in der er die nächste Kündigung hält. Sie ist erstaunlich ruhig. »Ich habe hier eine Zustellung für Sie.«

Magda Rausch wischt sich die Hände an der Kittelschürze ab. Sie setzt die Lesebrille auf und öffnet den Umschlag mit ihren dicken, roten, runzligen Fingern. Der Himmel über der Siedlung verdunkelt sich. Ein verrotteter Fensterladen knarrt im Wind. »Heute werde ich 85«, sagt sie mit ihrer Kleinmädchenstimme, während sie das Blatt Papier entgegennimmt und auffaltet. »Es gibt Apfelkuchen.«

Es gehört zu Michael Waschkes Pflichten, die Geburtstage aller Mieter zu kennen. Jedes Jahr an Weihnachten sitzt seine Frau mit den Kindern auf dem Schoß am Küchentisch und überträgt die Daten von einem Apothekenkalender in den nächsten.

Magda Rauschs papierene Lider zucken. Die alten Augen darunter sind veilchenblau. »Den Apfelbaum hinterm Haus hat der Otto gepflanzt, als er aus der Gefangenschaft zurückgekommen ist.«

 

»Bitte unterschreiben Sie hier«, sagt Waschke. Er meint seinen eigenen Opa zu sehen, wie er plötzlich vor der Tür steht, nach acht Jahren Sibirien. Die Oma hat es ihm erzählt. Das Zustellprotokoll in der Sache Rausch flattert nervös in seiner Hand.

Magda Rausch zeigt Waschke ihre Goldzähne. »Nichts unterschreibe ich«, entgegnet sie. »Ich habe den Krieg und die Hitlerei überlebt. Ich habe die Mauer und die Blockade überlebt. Ich habe Otto überlebt. Ich werde auch das hier überleben.«

»Das tut mir wirklich leid.« Waschkes Stimme ist ihm tief in die Kehle gerutscht. »Die Häuser werden saniert, wissen Sie. Kamin, Swimmingpool, Wintergarten.«

»Deshalb können Sie mir kündigen?«

Waschke kann ihr nicht ins Gesicht sehen. »Nein, die Gesellschaft kündigt Ihnen, weil Ihr Garten vollkommen verwildert ist.«

Magda Rausch spuckt vor ihm aus. »Wissen Sie«, sagt sie, »Sie werde ich auch noch überleben.« Sie schlägt ein Kreuz.

Die Welt dreht sich plötzlich nicht mehr, und Michael Waschke sieht eine veilchenblaue Träne in Extremzeitlupe fallen. In der Träne spiegeln sich die Fassaden der idyllischen Kleinhaussiedlung. Steuern sparen mit Denkmalschutz-Immobilien in Bestlage, hört Waschke seinen Chef siegesgewiss schmettern. Und als die Träne neben den Krokussen auf den Plattenweg klatscht, gerät etwas in Michael Waschke ins Schlingern.

Er sagt noch einmal, dass es ihm leidtue, mehr zu sich selbst, und vielleicht geht es ihm auch mehr um sich selbst als um Frau Rausch. Dann macht er sich davon, geht über das Kopfsteinpflaster und zwischen den Forsythien hindurch. Das Laufen fällt ihm schwer, es ist ihm nie zuvor schwergefallen. Michael Waschke schleppt sich an den Vorgärten vorbei zu seiner Hausmeisterwohnung, wie ein alter Mann. Er staunt. Wie verwundbar er doch ist.

Momentversagen

Martin Sanders’ zukünftige Detektei ist klein und dreckig. Der Warteraum riecht nach nassem Hund. Als er die Glastür zum Büroraum öffnet, schlägt die Jalousie gegen die Scheibe. Im Gegenlicht wirbelt ein funkelnder Staubschleier hoch und legt sich auf sein Gesicht. Plötzlich schmeckt die Luft nach schon lange verstorbenen Hausstaubmilben.

Sanders fährt sich über die Augen. Vielleicht, dass eine unsichtbare Macht irgendwo im Himmel über Moabit ihn in diesem Moment mit einem Fluch belegt hat. Falls es über Moabit einen Himmel gibt.

Sein zukünftiger Vermieter, ein original Berliner Schlitzohr namens Pawel Krawczyk, hat Sanders die beiden winzigen Räume im ersten Stock als seine neue »Hauptstadtrepräsentanz« verkaufen wollen – immerhin augenzwinkernd. Denn hier in dieser Ecke hat Berlin so viel Klasse wie El Arenal, ist so sicher wie Mexico City und so ruhig wie der Große Bazar von Istanbul, wenn man sich noch zwei Millionen Automatencasinos hinzudenkt.

Bemerkenswert ist auch diese schlafwandlerische berlinische Stilsicherheit. Die Vormieterin des Büros hat die Wände mit Latexfarbe gestrichen, in einem hypnotischen Mauve. Dieses wilde, erdrückend feminine Violett mit seinem tieftraurigen Unterton schwingt beunruhigend genau auf Sanders’ Frequenz. Aber natürlich kann er das nicht so lassen. Kein Detektiv, der etwas auf sich hält, hat ein lila Büro, in dem auch noch phosphoreszierende Sternbilder an der Decke kleben.

Eine Möglichkeit wäre, auf Zeit zu spielen. Wenn Sanders das Büro zwanzig Jahre nicht renovieren und stattdessen Zigarren rauchen würde, könnte sich der Raum so dunkelbraun verfärben wie bei Liebling Kreuzberg, wo selbst die Nachwuchssekretärinnen schon einen Oberlippenbart tragen. Erfahrung schafft Vertrauen. Aber dieses Intime, Heimelige ist nicht Sanders’ Stil. Im Kopf verwandelt er das Büro bereits in etwas Weißes, Leeres, dem Geist eines japanischen Zenmeisters nicht Unähnliches.

Ein bisschen Farbe und eine Menge Desinfektionsmittel also, dann werden diese Räume ihren Zweck erfüllen. Sanders sieht in Gedanken schon den neuen Schriftzug an der Glastür kleben, seriös und kraftvoll wie ein Heilsversprechen: Martin Sanders – Private Ermittlungen. Aber dann kommt ihm in den Sinn, dass ein solcher oder ähnlicher Schriftzug mit diesem oder jenem Namen bereits an so vielen Glastüren überall auf der Welt in irgendwelchen dunklen Seitenstraßen klebt. Vielleicht würde er doch lieber etwas Moderneres schreiben: Martin Sanders Consulting. Laden Sie Ihren ganzen Dreck bei mir ab. Ein Hauch von Prätention, dafür ganzheitlich.

Sanders geht um den Schreibtisch herum und schaut aus dem Fenster. Er hat nicht viel übrig für dieses feuchte Wetter. Sein Nasenrücken schmerzt an den alten Bruchstellen. Seit er sich auf einem dunklen Weddinger Hinterhof für ein paar Euro die Stunde plus Spesen die Nase hat brechen lassen, sieht Sanders nicht mehr allzu gut aus. Eher wie ein melancholischer Auftragskiller in einem alten französischen Film, eine Menschenmaschine unter einer Hülle aus Haut. Beruflich ist das von Vorteil. Ein Detektiv sollte unauffällig und kühl wirken, stets Herr der Lage und stets Herr seiner selbst.

Er zieht ein Taschentuch aus der Jacke, wischt den Fensterriegel ab und kippt das Fenster an. Der Lärm auf der Beusselstraße schaltet sich ein wie ein vertrautes Radioprogramm. Es ist Frühling, und das Licht ist zurück in der Stadt. Hellgrün fällt es rechts und links der Straße auf die dürren Straßenbäume, die Spielkasinos, die Gründerzeithäuser mit ihrem abgeschlagenen Fassadenstuck, die Universalshops und Telecafés. Die »Europa«-Pizzeria hat bereits ein paar verwitterte Stühle auf den Bürgersteig gestellt, und schon wird dort gesessen, sich im Schritt gekratzt und palavert.

Die Beusselstraße ist der böse Clown unter Berlins Straßen, sie kichert, während sie dir an die Kehle geht mit ihrem Milieudruck, ihrem Menschengewinsel und ihrem Ozongestank. Sie ist ein Paradies für Perspektivkrüppel wie Sanders, und es gibt jede Menge Kundschaft für ihn. Aber er muss seinen Stundensatz überdenken. Denn der Beusselstraße ist es egal, ob ein Detektiv sein Büro hier oder in El Paso aufmacht. Vielleicht könnte er seine Dienste als Hilfe zum Lebensunterhalt deklarieren. Viele würden ihn als eine Art Grundsicherung ansehen: Hilfe, wenn niemand sonst hilft.

Sanders wischt den Schreibtischstuhl ab und setzt sich. Es ist mehr als fünf Jahre her, dass er hinter einem Schreibtisch mit einem Besucherstuhl davor gesessen hat. Bevor er deshalb sentimental werden kann, klappert die Jalousie erneut. Pawel Krawczyk schiebt seinen massigen Körper und seinen Gorillaschädel herein. In seinen Melonenhänden hält er zwei verbeulte Pappbecher, die aussehen, als wären sie zu heiß gewaschen worden. Eine Aura aus Kaffeegeruch, mit Alkohol abgetönt, umgibt den Vermieter. Er lässt sich auf den Besucherstuhl fallen und stellt die Becher zwischen Sanders und sich auf den Tisch.

»Begrüßungskäffchen.« Krawczyk grinst und lässt dabei eine Menge Goldzähne sehen. Vermutlich hat er das Gold dafür selbst geschürft, irgendwo im Permafrost östlich von Warschau. Krawczyk nimmt einen Schluck Kaffee und nickt zufrieden. »Is nich 77 Sunset Strip, aber schönet Büro, wa? Die Tante, die das Büro vor dir hatte, war Sterbebegleiterin.«

»Hab ich auch schon gemacht.« Sanders riecht am Kaffee.

Krawczyk beugt sich vor. »Bullshit. Ich mein, so Karma-Sterbebegleiterin für Fiffis, Herr Sanders. Wie hat se imma gesagt? Für Kleintiere, mit Heilgesang. Schlimmste Sorte, Mann. Wenn du dit hörst, stirbste freiwillig. Gott sei Dank hat se dann gekündigt und ist mit ihrer Praxis ans Ostkreuz gezogen. Brauchte was Größeres. Lief gut, so karmisches Totsingen von Meerschweinen und Zeugs.«

Sanders nippt an dem Gebräu, das überwiegend aus Wodka und Zuckerwürfeln besteht. »Familienrezept?«

Pawel Krawczyk nickt stolz. »Von Oma. Hab ich der Totsängerin nie angeboten, weißte. Die hat immer so gefaselt von Lichtpräsenz, dann abkassiert und die Viecha in die Mülle im Hof geschmissen. Im Sommer sind die dann nach zwei Tagen als Aasfliegen wiederauferstanden. Da warn die Callgirls vom Callcenter im Hinterhaus sauer, is ja klar.«

»Was ist mit den Büromöbeln?«

»Die gehören jetzt dir, Herr Sanders. Wenn du willst.«

Die angejahrten dunkelbraunen Regale und der klebrige Schreibtisch sehen aus, als wären die zarten Tierseelen, die in diesem Raum ins Licht gegangen sind, in ihrer Patina konserviert. Überhaupt fühlt es sich so an, als wäre in diesem Raum noch eine Präsenz, ein Frettchen vielleicht, das nicht sterben wollte und das Sanders von irgendwoher in den Kaffee gepuschert hat.

Oder vielleicht ist es einfach nur Pawel Krawczyk. Die Flügel seiner Senfgurkennase flattern mit einer gelblich-neugierigen Transparenz. »Ich kenn dich, Mann«, sagt er und kneift die wasserblauen Augen zusammen. »Irgendwo hab ich dein Gesicht schon ma gesehen. Hast ein ehrliches Gesicht. So’n Gesicht vergisst man nicht.«

Sanders hebt seinen leckgeschlagenen Pappbecher hoch und wischt den Kaffeerand auf dem Tisch mit einem Taschentuch weg. »Gutes Zeugs«, lobt er, »Kompliment an Oma.«

»Also, Herr Sanders«, fragt Krawczyk, »was ist das noch mal für ein Büro, dass du da aufmachen willst?«

»Ich bin Privatdetektiv.«

»Detektiv, hm? Gibt’s den Beruf überhaupt?«

»Doch. Wir sind die Typen mit den Verbrennungen am Oberschenkel.«

»Wieso ’n das?«

»Ist ein Naturgesetz. Wenn man jemanden im Auto observiert, geht die Verfolgungsjagd immer dann los, wenn man sich gerade einen heißen Kaffee besorgt hat.«

»Witzig. Mag ich. Pass auf, du siehst korrekt aus, mit deinem Anzug und allem. Man sieht heute selten ’n Typ, der seinen Anzug so gut tragen kann wie du. Andere Typen, die sehen im Anzug aus wie die Blues Brothers. Sag ma, warum fällt mir bloß nich ein, woher ich dich kenne?«

Sanders braucht etwas, das ihm als Untersetzer für die Kaffeebecher dient. Jetzt, wo das sein Schreibtisch ist, kann er darauf keine Kaffeeränder mehr dulden. Er zieht eine der Schreibtischschubladen auf, findet eine alte Berliner Woche, einen vergessenen Hundekeks und den gelblichen Tischkalender eines längst gelebten Jahres.

»Schmeiß den Scheiß weg«, grunzt Krawczyk und nimmt einen großen Schluck seiner Spezialmischung. »Erzähl doch ma: Wie wird einer wie du Privatdetektiv?«

Es klingt, als sei ihm etwas Schlimmes zugestoßen. Sanders denkt darüber nach. Er blättert durch den Kalender. Tierfotos und Lyrik – ein Frauenkalender. Aber Sanders ist 38, ledig, mehrfach und gründlich gescheitert – er kann zugeben, dass er manchmal das eine oder andere Gedicht liest.

Er reißt zwei Blätter ab. Einen Berggorilla, unter dessen Foto etwas über die »sanften Riesen Ugandas« steht, schiebt er unter Krawczyks Becher. Sanders selbst stellt seinen Kaffee auf das Foto einer blauschwarzen Krähe. Krähen sind respektlos und amüsant. Oft beobachtet er sie abends von seinem Wohnungsfenster aus, wie sie die Mülleimer der Strandbars an der Spree plündern, während der Fluss seine schlammbraune Seele gleichgültig in die Spundwände unterhalb der Ministergärten atmet.

Sanders fühlt sich plötzlich so müde, als hätte er schon Hunderte von Jahren gelebt. Das muss der Wodka sein. Jedenfalls ist er viel zu alt für ein neues Büro. Auf jeden Fall zu alt, um noch weiter nach einem anderen Büro zu suchen, wenn das hier schiefgeht.

»Sanfter Riese? Das ist Poesie, wa?« Pawel Krawczyk zeigt auf den Affen. »Das heißt immer was in Deutschland. So wie bei Fack ju GöhteIch weiß nicht, was soll et bedeuten und so.«

»Das ist Heine«, sagt Sanders.

Krawczyk lacht. »Was steht bei dir?«

»Da steht«, sagt Sanders, »wie ich Detektiv geworden bin.«

»Lies vor.«

»Vielleicht zu spät, als eine Krähe/​unseren Morgen kappt. Ein Schlag./​Und ob sie fällt und ob sie weiterfliegt –/​Ich frag zu laut, ob du noch Kaffee magst./​Dein Blick ist schroff, wie aus dem Tag gebrochen.« Sanders dreht das Kalenderblatt so, dass der plötzlich zum Poeten gewordene Krawczyk es lesen kann.

Dieses Gefühl des Unabwendbaren im Text, das ist ganz Silke – die Silke, die vor fünf Jahren noch seine Frau war. Oder vielleicht war sie das nie. Vielleicht ist sie einfach immer nur mit Sanders’ Beamtenjob beim Landeskriminalamt verheiratet gewesen.

»Deine Frau ist abgehauen?«, fragt Krawczyk.

Sanders wirft einen zerkratzten Euro in sein Kopfkino, eine Klappe öffnet sich, und er blickt in den Abgrund.

Krawczyk haut mit der flachen Hand auf den Tisch. »Jetzt weiß ich wieder!«, sagt er, und seine Augen leuchten auf wie ein Bremslicht. »Du bist der Bulle, dem die Lorenzos die Frau aufgeschnitten haben! Und Scheiße, Mann, die war auch noch schwanger, deine Frau!«

 

Der Puls an Sanders’ Daumenwurzel zuckt unter der Haut wie ein Wurm. Sanders beult den Pappbecher ein und wieder aus.

»Klar, Mann, das war doch großes Thema! Dein Bild war in der Abendschau. Hast du aufgehört bei den Bullen?« Krawczyks Augen werden ölig.

Sanders hält stand, lehnt sich lässig zurück, aber er weiß, er muss weg hier. Er muss duschen, vielleicht zwei- oder dreimal, dann noch irgendetwas mit mehr Klasse hinterher trinken, um den Wodkageschmack loszuwerden, und schließlich schlafen.

»Was ist mit dem Kind passiert?«, fragt der Gorilla. Das Karmische im Raum scheint auf Krawczyk überzugreifen.

»Kinder«, sagt Sanders, »sind nicht so mein Thema.«

»Haste recht, Herr Sanders.« Krawczyk kippt den Rest von seinem Gesöff runter, beugt sich vor und klopft ihm auf die Schulter. »Männer in deinem Alter sollten eher für die Geburt von Kindern verantwortlich sein und nich dafür, dass se sterben.«

»Weise Worte.«

»Mann, du bist eine Kiezlegende, Herr Sanders. Du warst im Fernsehen. Hätt nich gedacht, dass du in echt so dürr bist. Im Fernsehen hast du ausgesehen, als hättest du einen ganz guten Körper.«

Es ist immer dieselbe Geschichte. Der Verlierer verliert alles, sogar seinen Körper.

»Jeder hier hat davon gehört, wie du den kleinen Lorenzo ausgeknipst hast. Groß, Herr Sanders. Ganz groß! Die Lorenzos ham hier schon jeden gefickt. Mich auch. Rocco Lorenzo, den hat hier keiner gebraucht, weißte.«

»Sei einfach still, Krawczyk.« Sanders’ Haut wird feucht und kalt. Er wird doch nicht schon wieder Schüttelfrost kriegen?

»Erzähl mal, wie das war. Wie du ihn kaltgemacht hast.« Krawczyks Augen glitzern wie Diskokugeln. »Wenn du’s mir erzählst, kannst du umsonst auf dem Hof parken, Mann. Für immer. Ich schwöre.« Krawczyk legt zwei Finger seiner rechten Hand auf sein gewaltiges Herz.

Sanders fühlt sich wie ein Kartenverkäufer an einer Kinokasse, dem das Kino abhandengekommen ist. Denn was Krawczyk hören will, ist noch nicht mal eine richtige Geschichte. Eine richtige Geschichte braucht ein Motiv. Diese hier ist einfach nur passiert.

»Willst du nicht lieber schon mal meinen Ausweis für den Mietvertrag kopieren gehen?«, schlägt Sanders vor und reibt sich das Kratzen aus den Augenwinkeln. Aber natürlich kennt er die Antwort.

Krawczyk rührt mit seinem Zeigefinger in der Luft herum, als wollte er ein Schwungrad in Gang bringen. Der Sekundenzeiger seiner nachgemachten Protzrolex zuckt nervös.

»Na schön. Was willst du hören, Krawczyk?«

»Wer schuld war, Mann. Das ist das Wichtigste.«

Der Fall Lorenzo liegt so, dass man sich entscheiden muss, woran man glaubt: an Ethik oder an Strafrecht. Nur ist das Glauben an sich nicht Sanders’ Stärke. Glauben hat viel zu viel mit Vertrauen zu tun, und Vertrauen ist eine schlechte Angewohnheit. Also hat er sich etwas zurechtgelegt. Es gibt wahre und wahrscheinliche Geschichten. Diese hier ist wahrscheinlich.

»Ich bin auf Zivilstreife«, sagt er und schnipst den alten Hundekeks über den Tisch, »Rocco Lorenzo ist mit seinem großen Bruder Heiko in einem Sportwagen unterwegs, rot, flach, vier Auspuffrohre. Heiko ist aktenkundig. Wir halten seinen Wagen an. Der Kollege filzt ihn. Er hat eine 44er Magnum im Hosenbund stecken. Heiko macht ein Riesentheater, leistet Widerstand. Es kommt zum Handgemenge. Und in dem ganzen Chaos greift sich Rocco dann plötzlich in die Jacke. Ich zieh schneller als er. Es ist ein Reflex. Momentversagen.«

»Du hast gedacht, er oder ich, Herr Sanders.« Krawczyk zuckt mit den Schultern.

Sanders erzählt sich die Geschichte immer so, wie sein Ego es gerade noch ertragen kann. Es wäre schön, jetzt eine Packung Lucky Strikes und einen schwachen Moment zu haben. Aber einen schwachen Moment hatte er schon lange nicht mehr. »Ich war ein Bulle«, sagt er. »Und Rocco war erst zwölf.«

»Was hatte er denn für eine Knarre in seiner Jacke?«

»Keine Knarre. Ein Hundebaby.«

Krawczyk bekommt Bambiaugen, sie drohen überzulaufen. »Was für eine Scheiße!«, sagt er mit zerfranster Stimme. »Das ist mal wirklich eine knallharte Geschichte, Mann.«

»Wenn es eine Geschichte wäre, dann würde sie irgendwie Sinn machen, eine Moral haben. Irgendetwas.«

Krawczyk schaut an ihm vorbei, auf das gleichmütige Dahinströmen der Beusselstraße. »Ich erzähl dir das Ende von deiner Story. Ist mir wieder eingefallen. Die Lorenzos haben sich an dir gerächt. Sie nehmen das Blut deiner Frau, aber deine Frau hat’s überlebt. Du gibst nich auf, Mann. Frau weg, Kind weg, Job weg, Haus weg. Du ziehst in eine billige Einraumwohnung im Getto. Du brauchst Geld, also arbeitest du von zu Hause aus als Detektiv. Du hast eigentlich nur einen Auftraggeber. Und der ist jetzt auf Staatskosten eingefahren. Nun brauchste neue Kunden, also brauchste ein Büro. Deshalb stehste vor mir. Richtig?«

»Fast richtig.« Es tut gut, das Lila der Wände anzuschauen. Sanders stellt sich vor, dass man die Blutspritzer darauf kaum sehen würde, falls ihm jetzt das Herz platzt. »Meine Wohnung ist weder billig noch im Getto«, sagt er. »Qualifiziert mich das trotzdem für einen Büromietvertrag?«

»Klar. Ich schreib dir einen. Kannst schon ma Visitenkarten drucken lassen.« Krawczyk steht auf und klopft Sanders auf die Schulter. »Wenn du ma was brauchst, du Held, weißte ja, kommste einfach zu Onkel Pawel. Ich hab hier das Fitnessstudio und einen kleinen Sicherheitsdienst, Türsteher, Objektbewachung, so was. Falls du ma ein Back-up brauchst.« Krawczyk zwinkert Sanders zu.

»Vielleicht kann ich am Tor ein Schild aufhängen.« Sanders steht auch auf. »Endlich Gewissheit – Ihr freundlicher Privatdetektiv sorgt für Klarheit.«

»Was immer du willst.« Krawcyzk winkt ihm zu. »Mein Haus ist dein Haus.« Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss.

Sanders schmeißt die Pappbecher, die Zeitung und den Kalender in den Papierkorb. Sein Hemd hat er durchgeschwitzt, er muss jetzt dringend heiß duschen, gegen den Schüttelfrost. Die Beusselstraße hat ihn erwischt. Erwartbar. Schließlich saugt der Job des Detektivs Honig aus der allgemeinen Verkommenheit dieser Ecke: ein Gemisch aus Eifersucht, Neugier, Geiz, Geilheit. Niedere Instinkte lassen die Kasse klingeln. Und um zu verschleiern, dass man im Dreck wühlt, nennt sich eine diskrete Detektei heutzutage Consulting.

Sanders schwebt eine Internetseite vor, auf der er »wir« schreibt, wenn er »ich« meint. Selbstverständlich wird er nur auf Empfehlung tätig, hat 95 Prozent Aufklärungsquote, ist durchweg diskret, high profile und schlichtweg exzellent. Und faire Preise. Nichts als die Wahrheit.

Er sieht die schmalen Umrisse seines Körpers in der Glasscheibe zum Warteraum, von der Jalousie in schwarze Streifen geschnitten. Sanders’ Zukunft wird darin bestehen, dass ein paar Typen, die noch hilfloser sind als er selbst, ihn nach ihrem geklauten Custombike suchen oder das Smartphone ihrer Freundin orten lassen. Illegal? Keine Zeit für Luxusdiskussionen.

Der Vibrationsalarm seines Smartphones trifft ihn in die Brust wie ein Stromschlag aus einer Elektroimpulswaffe. Die Nerven. Sanders fischt das Telefon aus der Innentasche seiner Jacke. Seine Hände zittern. Er kennt die Nummer nicht.

»Hier auch Sanders«, sagt die glatte, eloquente Stimme eines einflussreichen Dahlemer Rechtsanwalts.

»Vater.« Sanders muss sich kurz am Schreibtisch festhalten. Er hat die Stimme seines alten Herrn eine Weile nicht gehört und hätte es gern dabei belassen. »Was kann ich für dich tun?«

Der Vater gibt ein Geräusch des Bedauerns von sich, aber vielleicht bildet Martin Sanders sich das auch nur ein. Zu viel Schicksal kann einen Mann romantisch und wehleidig machen.

»Du weißt, dass ich sehr viele Verpflichtungen habe«, beginnt der Vater. »Ich möchte, dass du zu mir in die Kanzlei kommst. Es ist wirklich dringend.«

»Dringend? Um das zu entscheiden, bräuchte ich mehr Informationen.«

Sanders senior lacht. »Ich bin dein Vater, Junge. Kein Klient. Das hier ist eine wirklich delikate Angelegenheit. Nichts, was ich dir am Telefon erklären kann. Du hast deinen letzten Fall doch abgeschlossen?«

Sanders hat seit vier Wochen keinen neuen Fall mehr, weil sein Hauptauftraggeber in der JVA Moabit sitzt. »Es gehört zu den reizenden Seiten meines Berufs, dass kein Fall jemals vollständig abgeschlossen ist«, sagt er trotzdem.

»Verschwenden wir unsere Zeit nicht mit Small Talk. Morgen um neun? Und bitte sei pünktlich, ich habe einen Anschlusstermin im Kanzleramt.«

Ein guter Detektiv darf sich niemals von den Gefühlen seiner Klienten infizieren lassen. Sanders betrachtet das schwarze Handydisplay. Er wischt die eigenen Fingerabdrücke mit einem frischen Taschentuch weg. Eine halbe Stunde hat er das neue Büro, und schon ist der Papierkorb voller Taschentücher. Er denkt an die klassische Büroflasche, von der man so oft hört. Aber Alkohol hilft nicht gegen zu viel Schicksal – im Gegenteil.

Immerhin ist der Villenvorort Berlin-Dahlem, in dem sein Vater residiert, im Frühling einen Ausflug wert. Reetdachhäuser und blühende Rosenbögen, die die Überwachungskameras verdecken. Außerdem kommt Sanders auf die Art mal wieder an die frische Luft. Und das ist ja, von Berlin-Moabit aus betrachtet, ein Wert an sich.