Mit Lola durch Berlin

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Mit Lola durch Berlin

Bettina Arlt & Leif Karpe

traveldiary.de Reiseliteratur-Verlag Hamburg

ReiseGeister

© 2009 traveldiary.de Reiseliteratur-Verlag Hamburg

Idee & Konzept: Bettina Arlt & Leif Karpe

Umschlaggestaltung & Satz: Regina Rauhut, Bochum

Illustration: Chris Salmen, Essen

Papier: Munken Print Cream

Druck und Bindung: Livonia Print, Riga

Printed in Latvia ISBN 978-3-941796-01-0

Inhalt

Die Vorgeschichte:

Berlin und seine Bären

1. Götterdämmerung

Die Museumsinsel

2. Nachts im Museum

Das Alte Museum

3. Spree-Athen

Die Schlossbrücke

4. Wissenschaft und „Aufklärung“

Die Humboldt-Universität

5. Unter den Nüssen

Unter den Linden

6. Die schwarze Venus

Der Admiralspalast

7. Wahre Engel

Der Dorotheenstädtischer Friedhof

8. 1, 2, 3… Klappe!

Der Reichstag

9. Isch bin kein Berliner

Die Berliner Mauer

10. Kaffeeklatsch.

Das Hotel Adlon

11. Ich hab noch viele Koffer in Berlin

Das Filmmuseum Berlin

12. Sinfonie einer Großstadt

Die Philharmonie

13. Living on an Island

Der Tiergarten

14. Wie aus einer Göttin eine Else wurde

Die Siegessäule

Die ReiseGeister

Prolog

„Berlin ist eine Stadt, verdammt dazu, ewig zu werden, niemals zu sein.“ (Karl Scheffler)

Dieser Berlinführer erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Aber er erzählt eine Geschichte. Eine Geschichte, die deutsche Literatur repräsentiert und Berliner Filmkunst. Eine Geschichte, die eine ganz menschliche ist, aber von Menschen erzählt wird, die nicht mehr leben. Oder nie gelebt haben. Außer in der Fantasie des Autors, der Vorstellungskraft des Regisseurs und in der Rezeption des Publikums. Es ist die Geschichte eines älteren Mannes und einer jungen Frau, die das Schicksal trotz ihrer Unterschiedlichkeit zusammengeführt hat. Es ist die Geschichte einer Beziehung, die von Hingabe und Mitleid, Rache und Gleichgültigkeit bestimmt war und die schließlich auf tragische Weise endete. Auf dem Weg durch Berlin, vorbei an den Stationen ihres „Lebens“, rekapitulieren die beiden, jeder auf seine Weise, ihr irdisches Zusammensein und suchen Erlösung. Und dabei erscheint ihre Geschichte wie ein Spiegel der Stadt.

Doch zuvor widmen wir der Gründung Berlins ein paar Seiten, ohne die alles weitere – und mithin unsere Protagonisten – nicht vorstellbar wäre.

Die Vorgeschichte:
Berlin und seine Bären

„Ein fruchtbares Gelände für sumpfige Typen, seit 750 Jahren.“ (Wolfgang Neuß)

Vor langer Zeit lebten in der Gegend ums heutige Berlin Germanen. Dann ließen sich Slawen hier nieder und bauten im heutigen Brandenburg und Köpenick ihre Burgen. Das war damals keine allzu reizvolle Gegend. Es gab keine Rohstoffe, nichts, was sich zu erobern lohnte, nur Sumpf und Sand. Und so glauben viele Sprachforscher, dass der Name „Berlin“ von dem slawischen Wort Berl abstammt, was so viel bedeutet wie feuchte Stelle oder Morast.

Doch auf der Spree befand sich eine kleine Insel, ein strategisch günstig gelegener Ort, der auch heute noch das historische Zentrum von Berlin bildet. Diese Insel trug aber zu Beginn einen anderen Namen. Wie er zustande kam, darübestreiten sich die Gelehrten. Wir haben dazu unsere eigene Theorie entwickelt.

Begeben wir uns ein paar Jahrhunderte zurück, an den Anfang des 13. Jahrhunderts, wo auf der damals noch stark bewaldeten Spreeinsel eine folgenschwere Begegnung stattfand…

Ein trüber Tag im Sumpf. Lautes Donnergrollen erfüllt die Luft, es regnet unaufhörlich und das kleine Waldstück in der Nähe des Spreeufers versinkt im Morast. Ein Mann ist auf der Jagd. Wachsam schleicht er über den matschigen Waldboden. Da sieht er einen Schatten, der hinter einem großen Busch verschwindet. Er tritt hinter den Busch und hebt seinen Speer zum Angriff, als ein greller Schrei das Blut in seinen Adern erstarren lässt. Vor ihm auf dem Waldboden kauert eine junge Frau, die Beeren sammelt.

Bärenjäger

Was machst du hier?

Beerensammlerin (ängstlich)

Was?

Bärenjäger (der seinen Speer sinken lässt)

Wo liegt dein Dorf? Ich dachte, die Gegend wäre unbewohnt.

Beerensammlerin

Unbewohnt? Nein! Mein Dorf ist über Fluss. In Berl.

Bärenjäger

Ihr habt Bären im Überfluss? Davon habe ich noch nicht viel gemerkt. Ich bin nämlich auf der Jagd nach einem, und es hieß, hier in der Gegend gäbe es jede Menge davon.

Bärensammlerin

Berl? Ja, hier auch Berl.

Sie steht auf und stapft auf dem inzwischen extrem aufgeweichten Waldboden von einem Fuß auf den anderen.

Bärenjäger

Ja, Bär! Groaaar! (hebt die Arme und stapft, wie sie, breitbeinig von einem Fuß auf den anderen) Groaaaar! Wo? Wo Bär, wo Groaaar? Hast du Bär gesehen?

Beerensammlerin

Bär? Hier Berl! Oder wie heißt…? (denkt kurz nach) „Sumpf! Matsch!“

Bärenjäger

Augenblick! Du sagst ‚Berl’, aber ich spreche von ‚Bär’! Dem großen, wilden Tier, von dessen Fleisch sich ein Dorf einen Monat lang ernähren kann, und dessen Fell einen vor der Kälte des Winters schützt.

Beerensammlerin

Ah! Medved! Honigesser! Nein! Die gibt es hier nicht. Hat es nie gegeben. Nur Waschbären und Eichhorn.

Bärenjäger (enttäuscht)

Da haben sie mir ja einen schönen Bären aufgebunden…

Die beiden sehen sich an und lachen.

Bärenjäger

Berl! Die slawischen Händler, die ich auf dem Weg hierher traf, wollten mich nur vor dem Sumpf warnen!

Inzwischen hat es aufgehört zu regnen und die beiden haben sich auf einen umgestürzten Baumstamm gesetzt. Es ist dunkel geworden, und weder der Mann noch die Frau würden den Weg zurück in ihr jeweiliges Dorf finden.

Bärenjäger

Ich bin für einen längeren Ausflug ausgerüstet und kann mir ein notdürftiges Lager bauen. (zögert kurz) Wenn du willst, kannst du heute Nacht bei mir bleiben. (fügt er rasch lächelnd hinzu) Ich verspreche dir auch, mich zu benehmen!

Die Frau sieht ihn zunächst skeptisch an, dann lächelt sie.

Beerensammlerin

Nachtlager auf matschigem Berl-Boden? Warum nicht?

Und die beiden schicken sich an, ihr Nachtlager zu bereiten, in der Absicht, im Morgengrauen sofort wieder in Richtung Heimatdorf aufzubrechen. Doch es kommt anders.

Fünf Jahre später ist von den Bäumen und Büschen, die unseren Lagernden Schutz boten, nicht mehr viel übrig. Anstelle des Waldes steht nun eine kleine Siedlung mit fünf Holzhäusern. Aus der größten der Hütten kommt unser Bärenjäger mit einer Axt, um Feuerholz zu hacken. Hinter dem Haus spielen zwei Kinder, und die slawische Beerenpflückerin hockt neben einer Ziege und melkt diese. Am Ortseingang steht ein einfaches Schild auf einem Holzpflock mit der Aufschrift „Cölln“.

Tatsächlich wird Cölln im Jahre 1237 auf der Spreeinsel erstmals urkundlich erwähnt. Ob dieser Name ebenfalls einer slawischen Umschreibung für Sumpf entsprang (Kol, Kollne) oder ob der reiselustige Bärenfänger ursprünglich aus dem schönen Rheinland stammte und vom Namen seiner Heimatstadt inspiriert wurde, ist nicht bekannt. Und obwohl Berlin erst sieben Jahre später aktenkundig wurde und sich erst 1307 mit Cölln zu einer Union zusammenschloss, gilt dieses Jahr allgemein als sein Entstehungsjahr.


1.
Götterdämmerung


„Berlin ist mehr ein Weltteil als eine Stadt.“ (Jean Paul)

 

Dort, wo sich unsere Begegnung zwischen Bärenjäger und Beerensammlerin zugetragen haben mag, beginnt rund 800 Jahre später eine andere Geschichte. Wo früher nur Sumpf und Matsch waren, stehen heute fünf große Museen. Die nördliche Spitze der Spreeinsel ist als Museumsinsel weltbekannt.


Vor Kopf steht das Alte Museum. Seine äußere Form erinnert an die Architektur der griechischen Antike und spiegelt somit den aufklärerischen Gedanken wider, nach dem das Museum ein Ort der Bildung für das Bürgertum sein sollte. In der Eingangsrotunde des Museums befinden sich auf zwei Etagen Skulpturen von 30 Göttern und Göttinnen aus der griechischen Mythologie. Die Rotunde lehnt sich in ihrer runden Form an das Pantheon in Rom an und suggeriert auf diese Weise das Sinnbild des Museums als heiligen Ort der Kunstverehrung.

Eine Frühlingsnacht, irgendwann Anfang des 21. Jahrhunderts. Ein Gewitter zieht über Berlin, genau wie damals vor 800 Jahren, in jener Nacht als „Bärlin“ gegründet wurde. Im Pantheon des Alten Museums stehen die Götterskulpturen und werden immer mal wieder von einem Blitz erleuchtet. Plötzlich schlägt ein Blitz in die Kuppel ein und der Lichtstrahl leitet bis zum Boden.

Da ertönt ein lautes Stöhnen aus einer Ecke. Es klingt, als wäre ein alter Mann aus hundert Jahre langem Schlaf erwacht. Verschlafen murmelt er vor sich hin.

Professor Raat

Ooooh, war das ein unangenehmer Traum! Ich war im Zirkus… oder im Kabarett? Jemand zerschlug rohe Eier auf meinem Kopf und ich krähte wie ein Hahn. Dann habe ich eine Frau gewürgt und kam in eine Zwangsjacke… Aber wo bin ich hier eigentlich? Ich seh gar nichts, es ist so finster! (hört ein gehöriges Rumsen) Au weia! Das gibt eine ansehnliche Beule. Da werden mich die Schüler wieder aufziehen. Wo hab ich denn nur… meine Streichhölzer? Ach hier!

Knisternd wird ein Streichholz angezündet, und ein kleiner Lichtschein lässt einen gnomenhaft wirkenden älteren Mann von geringer Statur, einigermaßen großem Bauchumfang, zerzaustem grauen Haar und staubiger, etwas altmodisch anmutender Kleidung erkennen. Er hält das brennende Streichholz vor sich und versucht, die Natur seiner Umgebung näher zu bestimmen. Da das Streichholz nur einen kleinen Lichtkegel gewährt, macht auch er nur kleine, vorsichtige Schritte.

Professor Raat

Wo bin ich bloß? Hach…!!!

Beinahe wäre er vor einen hohen Sockel gelaufen. Vor seiner Nase erblickt er ein paar Füße aus Stein. Als er sein Streichholz in die Höhe hält und nach oben blickt, sieht er, dass es sich um die unteren Extremitäten von Zeus, dem Göttervater handelt, der hochmütig und mit erhobener Nase in die Ferne blickt.

Professor Raat

Wen haben wir denn da? Eine griechische Gottheit? Wo bin ich nur? Im antiken Athen…?

Im selben Augenblick kracht erneut ein Blitz. Das Pantheon ist sekundenlang taghell erleuchtet und der Blitz wird durch die Kuppel direkt auf die Skulptur des Zeus geleitet, den sie in gleißendes Licht hüllt. Der alte Mann wirft sich aus Angst, vom Blitz getroffen zu werden, auf den Boden und hebt seine Arme schützend über den Kopf. „Aaaaaahhh!!“ erklingt eine mächtige Stimme von der Stelle, wo eben noch der Zeuskopf herrisch thronte.

Zeus

Endlich! Ich dachte schon, dieser gottverfluchte Blitz trifft mich nie und ich müsste bis in alle Ewigkeit hier herumstehen wie ein Steinklotz.

Der steinerne Zeus hat all seine Steifheit von sich geworfen und schüttelt erleichtert die schweren Glieder. Der alte Mann beobachtet das geisterhafte Spiel aus halbliegender Position und traut seinen Augen nicht. Dem alten Zeus scheint ein Gedanke zu kommen.

Zeus

Oh! Verzeiht, meine Kinder…

Er schüttelt die Hand und ein Blitz schießt daraus hervor und verpufft erst, nachdem er alle anderen im Raum befindlichen Skulpturen getroffen und ebenfalls zum Leben erweckt hat. Ein allgemeines Knarren und Rieseln wird hörbar. Auch aus der oberen Etage der Räumlichkeit, die sich – jetzt wo die gemeinschaftliche Auferstehung der Statuen sie mit einem fahlen Schein erfüllt – als runder, hoher Raum mit einer Kuppel entpuppt. Der ältere Herr steht langsam wieder auf und kratzt sich den Kopf.

Professor Raat

Hm… Das kommt mir irgendwie bekannt vor…

Er sieht sich um und es ist schwer zu sagen, worüber er sich mehr wundert: Dass die Skulpturen sich strecken und recken, oder dass er nicht die geringste Ahnung hat, wie er an diesen Ort kam und was in der im Dunkel liegenden Zeit passiert ist. Da trifft ihn plötzlich etwas am Kopf und er schreckt zusammen.

Professor Raat (empört)

Ehrlose Rasselbande…

Man spürt, dass ihm die Auseinandersetzung mit ungebührlichem Verhalten nicht fremd ist. Doch als er den Kopf hebt, um den Schlingel zu maßregeln, erblickt er statt eines frechen Primaners den wohlgebauten Alabasterkörper des Adonis, der spöttisch aus dem oberen Rang auf ihn herabblickt.

Adonis

Na, Alterchen? Was geht?

Professor Raat

Ich muss doch sehr bitten, junger Mann! Mit wem hab ich überhaupt die Ehre, wenn ich mal so fragen darf? Ich bin nämlich Professor Raat, Gymnasiallehrer für die Oberstufe, zu dienen.

Aphrodite (kichernd)

Wie spricht der denn?

Der Professor folgt mit dem Kopf ihrer Stimme, wendet sich aber sofort wieder ab, als er sieht, dass sie splitternackt ist.

Professor Raat

Oh, Verzeihung, gnädige Frau, es liegt mir fern, ihrer Schamhaftigkeit zu nahe treten zu wollen. Ich weiß schließlich, was sich gehört.

Aphrodite

Da bist du aber hier der Einzige, mein junger Freund. Normalerweise starren die Mannsbilder, die uns hier besuchen kommen, mich immer an, als wollten sie mich studieren. Das ist mir sehr unangenehm.

Professor Raat

Besuchen? Ja, wieso besuchen die Sie denn?

Hermes (kommt angeflogen und säuselt ihm ins Ohr)

Na, weil wir hier im Museum sind, du Schnellmerker. Was hast du denn gedacht? Im alten Athen? (schwirrt weiter)

Professor Raat (ruft Hermes, dem Götterboten, hinterher)

Also, um der Wahrheit genüge zu tun, dachte ich tatsächlich zunächst…

Doch dieser hat längst wieder auf seinem Sockel in der oberen Reihe Platz genommen.

Hermes

Ach was, Opa. Sieh dich doch mal um! Wir sind in der Eingangsrotunde des Alten Museums in Berlin.

Professor Raat

Aha…

Mehr bringt er nicht hervor, während er den Ort einer näheren Untersuchung unterzieht und das mit Kassettenfeldern geschmückte Innere der Kuppel bewundert.

Professor Raat

Und… wie komme ich hierher?

Auf diese Frage hin entbrennt eine wilde Diskussion unter den Götterstatuen, von denen jede ihr jahrhundertealtes Wissen einbringen und ihre eigene Theorie über die vorliegende Situation zum Besten geben will.

Dionysos (der lallt und sich an seinem Stab festhält)

Wahrscheinlich hast du zu lange mit deinen Kumpels gefeiert und warst so besoffen, dass du es nicht mehr bis nach Hause geschafft hast.

Hermes

Du musst nicht immer von dir auf andere schließen, Suffkopp. Ich glaub eher, dass er was geklaut hat und sich hier vor der Polente verstecken wollte.

Aphrodite

Das sagst du nur, weil du der Gott der Diebe bist. Ich glaube eher, dass er Liebeskummer hatte und sich hierher zurückgezogen hat, um seiner verlorenen Liebe nachzuweinen.

Eros

Genau. Sie hat ihn nicht rangelassen, und da hat er sich aus Verzweiflung die Kugel gegeben.

Aphrodite (schmollend)

Ach, musst du dich immer so grob ausdrücken? (entdeckt etwas, das halb aus der Jackentasche des Professors heraushängt) Hach! Was haben wir denn da? (entzückt zieht sie ihm einen Seidenstrumpf aus der Tasche)

Professor Raat

Oh! Also ich weiß gar nicht, wie der…

Aphrodite (als hätte sie ihn auf frischer Tat ertappt)

Tu doch nicht so, du alter Schwerenöter! (zu den anderen) Und? Wer von euch will jetzt noch leugnen, dass hier ein romantisches Abenteuer dahintersteckt?

Da ertönt eine tiefe und laute Stimme aus einer Ecke der Rotunde, die noch im Dunkeln liegt. „Wie lange wollt ihr ihn noch auf die Folter spannen. Sagt ihm doch endlich, dass er tot ist… tot… tot…“ Die letzten Worte hallen gespenstisch von den hohen Wänden wider und werden von schweren Tritten begleitet. Die Götter und Göttinnen halten erschrocken inne und wenden sich ängstlich zu dem Sprecher um. Eine große und furchteinflößende Skulptur mit finsterem Blick und einer Krone auf dem Haupt wird langsam im Halbdunkel sichtbar und kommt auf sie zu.

Professor Raat (erschrocken und mit piepsiger Stimme)

Tot?

Hades, Herrscher der Unterwelt (emotionslos)

Tot.

Da hockt sich der Professor auf einen nahegelegenen Sockel und legt den Kopf in die Hände.

Professor Raat

O Gott, o Gott, o Gott… Da sitze ich ja schön in der Patsche!

Die Götterstatuen stehen im Kreis um ihn herum und sehen mitleidig auf ihn herab. Da hockt sich Hera, die Gattin des Zeus, neben ihn und fängt an zu erzählen.

Hera

Als du vor 80 Jahren hierher kamst, warst du ganz aufgelöst und offensichtlich auch ein wenig orientierungslos, denn du hast ständig was von einem Gymnasium gestammelt, dass du dein Lehrerpult suchst und alle Schüler bestrafen willst.

Aphrodite

Ja, und du hast immer wieder einen blauen Engel erwähnt. (legt den rechten Zeigefinger an den Mund, nachdenklich) Komisch, eigentlich… Blauer Engel. Aber ich finde, der Damenstrumpf ist der beste Beweis dafür, dass es sich dabei um eine Dame handelt, meint ihr nicht? (wendet sie sich an die anderen Götter)

Professor Raat (der sich erinnert)

Ja! Kurz bevor ich vorhin aufwachte, hatte ich einen seltsamen Traum. Es ging um eine Frau… Und ich muss gestehen, dass ich mich im Traum so weit vergaß, dass ich sie… (zögert) ermorden wollte!

Die Götterstatuen sehen einander ernst an.

Zeus

Das ist schlimm. Kein Wunder, dass er als unruhiger Geist umherwandert. Mörder finden niemals Ruhe.

Die anderen schweigen betreten. Nach einer Weile:

Aphrodite (die mit dem Fuß aufstampft)

Nein! Ich glaube nicht, dass unser Professor ein Mörder ist. Das würde nicht zu ihm passen. Er hat so liebe Augen. (streicht ihm zärtlich über das zersauste Haar) Aber damit deine Seele Frieden findet, musst du herausfinden, was tatsächlich passiert ist. Und da kann dir nur dein Engel helfen.

Professor Raat (ratlos)

Aber wie soll ich ihn bloß finden?

Poseidon (dem das Meerwasser die Beine herunterrinnt)

Auf der Schlossbrücke, die diesem Museum gegenüberliegt, stehen vier Engel. Vielleicht könntest du die mal fragen.

Aphrodite (jauchzend und in die Hände klatschend)

Ja, das ist eine fabelhafte Idee! Das solltest du auf jeden Fall versuchen.

Zeus (belehrend)

Das sind keine Engel, ihr Dummerchen. Das sind Statuen unserer Kusine Nike, der Siegesgöttin, von den Römern auch ‚Viktoria’ genannt. Bloß weil sie Flügel hat, ist sie noch lange kein Engel.

Poseidon

Aber sie kann dem Herrn hier bestimmt trotzdem weiterhelfen. Immerhin steht sie draußen und kriegt von der Welt der Menschen wesentlich mehr mit als wir.

 

Der Professor sieht fragend von einem zum anderen. Er weiß noch immer nicht, ob er träumt oder ob diese wundersame Begegnung Wirklichkeit ist. Dann steht er mühevoll von dem Sockel auf.

Professor Raat

Gut. Wenn Sie meinen… Dann werde ich mein Glück versuchen.

Die Götter winken ihm freundlich hinterher und Aphrodite ruft „Viel Glück, Professorchen“, als er die Rotunde verlässt und sich auf die Suche nach dem Museumsausgang macht.

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