Der Geheimbund der 45

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Der Geheimbund der 45
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Bernhard Wucherer

Der Geheimbund der 45

Historischer Roman aus dem Allgäu


Zum Buch

Finstere Mächte Isny 1042. Als der Bischof von Konstanz eine geheimnisvolle Münze zur Kirchweihe in das kleine Allgäuer Dorf bringt, ahnt er nicht, dass er damit den Zorn des rücksichtslosen Geheimbundes „Gladius Dei“ weckt. Die Münze zeigt auf der einen Seite eine arithmetische Raffinesse, auf der anderen das Bild eines toten Königs, dem die Organe entnommen wurden. Es handelt sich um das verloren gegangene Machtsymbol der Bruderschaft, die sich den freien Künsten und dem Fortschritt der Wissenschaft verschrieben hat. Die Großmeister des „Gladius Dei“ sind besessen davon, jeden zu töten, der ihr Insigne entweiht. Bereits auf der Kirchweihe kommt es zu einem Mord. Er ist der Auftakt zu einem Konflikt, der die Stadt für fast fünfhundert Jahre in Angst und Schrecken versetzen wird. Trotzdem gelingt es der kleinen Bauernsiedlung unter Führung der umsichtigen Patrizierfamilie Eberz im Laufe der Jahrhunderte zur Freien Reichsstadt aufzusteigen, in der Handel und Gewerbe florieren. Doch 1507 gerät die Familie Eberz selbst ins Visier der Verschwörer …

Bernhard Wucherer war 25 Jahre lang Leiter einer Werbe-, Marketing- und Eventagentur in Oberstaufen im Allgäu. Außerdem hat er sich bei Tätigkeiten als Burgmanager und Museumskurator auf alten Herrschaftssitzen im In- und Ausland das Rüstzeug zum Schreiben authentischer historischer Romane aneignen können. Er ist Autor etlicher Aufsätze, die auch Eingang in die geschichtswissenschaftliche Literatur gefunden haben. „Der Geheimbund der 45“ ist nach der erfolgreichen „Pesttrilogie“ und der bisher zweibändigen „Syld-Marokko-Saga“ sein sechster historischer Roman beim Gmeiner-Verlag.

Impressum

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2020 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

info@gmeiner-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Isny_1737_img00.jpg

ISBN 978-3-8392-6674-8

Widmung

Für alle Isnyer,

insbesondere auch für diejenigen,

die lieber einen »Heimatroman« im klassischen Sinne

oder ein Geschichtsbuch gehabt hätten.

Die historischen Inspirationsartefakte, um die sich im Roman alles dreht

Das in Isny entdeckte »Magische Amulett«

Das Amulett, um das sich in diesem Roman alles dreht, gibt es wirklich. 2018 wurde ein besonders bedeutungsvolles Exemplar bei Grabungsarbeiten auf dem alten Marktplatz in Isny gefunden, direkt beim dortigen »Prangerstein«, wo es beim großen Stadtbrand von 1631 oder schon zuvor in den Boden gelangte und die Zeiten überdauerte. 2019 wurde von Dr. Matthias Ohm vom Landesmuseum Württemberg bestimmt, dass es sich um einen sogenannten »Rechenpfennig« (auch als »Münzmeisterpfennig« oder in Süddeutschland als »Raitpfennig« bezeichnet) handelt, einen medaillenartigen Platzhalter, der im Mittelalter beim Rechnen auf der Linie (auf Rechenbrettern, -tischen oder -tüchern) verwendet wurde. Rait-, Rechen- oder Münzmeisterpfennige konnten daneben auch politische oder – wie im vorliegenden Fall und im Roman beschrieben – moralische Botschaften transportieren.

Die in Isny ausgegrabene Medaille besteht aus Buntmetall, also einer Kupferlegierung, wahrscheinlich Bronze, was sich allerdings erst bei einer Materialanalyse feststellen ließe. Sie hat einen Durchmesser von zwanzig Millimetern und wurde nachträglich gelocht, damit sie um den Hals getragen werden konnte, vermutlich, ohne dass deren Träger den ursprünglichen Zweck kannten. So entstehen Legenden wie die von »Gladius Dei«, dem »Geheimbund der 45«.

Avers


Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart; Foto: Christoph Schwarzer

Auf der Vorderseite weist das in Isny gefundene Exemplar auf die Vergänglichkeit des Menschen hin (vanitas). Neben einigen Schriftzeichen und anderen noch nicht erkannten Darstellungen ist ein toter Mensch mit einer Krone auf dem Kopf zwischen zwei Leuchtern und insgesamt fünf Sternen zu erkennen. Des Weiteren sieht man zu beiden Seiten des toten Königs innere Organe: Lungenflügel, Nieren und dergleichen. Dies lässt darauf schließen, dass es zur Entstehungszeit der Medaille Kenntnisse über die menschliche Anatomie gegeben hat. Und das, obwohl Leichenöffnungen bei Todesstrafe verboten waren. Die Darstellung der Organe deutet auf eine Entstehung vor der Frühen Neuzeit hin. Sie entspricht einer Anatomie, wie sie in »De Arte Phisicali et de Cirurgia« des englischen Chirurgen Johannes von Arderne (1307–1392 n. Chr.) nach 1412 n. Chr. dargestellt wird. Eine Wende zur Wiedereinführung anatomischer Sektionen an menschlichen Körpern – die von der Kirche abgelehnt wurden – brachten erst das 13. und 14. Jahrhundert. In diesem Zusammenhang darf der große Leonardo da Vinci (1452–1519 n. Chr.) genannt werden. Der bekannteste Künstler und Wissenschaftler der Renaissance führte selbst anatomische Präparationen durch und zeigte – anders als auf dem Amulett – realistische, detailgenaue und detailreiche anatomische Zeichnungen. Text: HODIE M(ihi) CR(as) TIBI A (bedeutet in etwa soviel wie: »Heute kommt der Tod für mich, morgen für dich«)

Revers


Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart; Foto: Christoph Schwarzer

Das »Magische Quadrat« auf der Rückseite des in Isny gefundenen Exemplars erinnert an unser heutiges »Sudoku«, eine Gattung von Logikrätseln, die aus lateinischen Quadraten entstanden. Das in Isny gefundene »Magische Quadrat« sollte wohl Krankheiten und Tod abwehren. Es zeigt in neun einzelnen Quadraten die arabischen Ziffern 1 bis 9, die in der Summe aller Zeilen, Spalten und der beiden Diagonalen gleich sind. Diese Summe (15) wird als »Magische Zahl« des »Magischen Quadrates« auf dem »Magischen Amulett« bezeichnet. Rechnet man alle Zahlen zusammen, ergibt sich die Zahl 45. Das »Lo Shu« war schon zu Zeiten des legendären mythologischen Kaisers Yu (Regierungszeit von 2205–2147 v. Chr.) in China bekannt (wo es auch im Roman herkommt, weil es in Europa erst im 16. und 17. Jahrhundert beschrieben wird. Dies hat allerdings nichts mit dem in Isny gefundenen Exemplar zu tun). Im Westen hat sich unter anderem Adam Ries (1492 oder 1493–1559 n. Chr.) mit dem »Magischen Quadrat« beschäftigt. In seinem »Rechenbüchlin« gab er auf Seite 71 diese Aufgabe mitsamt der Lösung. Neben zwei Beispielen folgte: »Und darnach verwechsel mit den 8. und 2. also/ so hastu allenthalben 15. Denn alle Summen ergeben die Magische Zahl 15«. Text: »EK« für Egidius Krauwinckel, tätig in Nürnberg.

Die Motive beider Seiten werden im Roman vordergründig thematisiert und formen sich darin zu zwanghaften rituellen Handlungen, die im Codex des Geheimbundes »Gladius Dei« (lateinisch für »Schwert Gottes«) festgehalten sind. Dessen 45 Mitglieder haben sich bei der Gründung ihres mystischen Zirkels Anno Domini 1001 in der späteren Konzilstadt Konstanz aufgrund der Abbildungen auf dem Avers zum Ziel gesetzt, die bei Todesstrafe verbotenen und von der Kirche verfolgten anatomischen Präparationen zum Zwecke der Wissenschaft voranzutreiben. Und was das Revers des »Magischen Amuletts« betrifft, gibt der Codex dieses Bündnisses vor, talentierten, aber mittellosen Knaben aus dem Bereich und dem Umfeld des Bodensees, aus Westschwaben (dem heutigen Oberschwaben) und aus dem Allgäu zu ermöglichen, die Arithmetik oder andere Fächer der »artes liberales«, der »sieben freien Künste«, zu studieren. Grundsätzlich wäre es äußerst lobenswert, dass sich ein elitäres Bündnis von Adeligen, Gelehrten, Kaufleuten und Medizinern dieser Thematik annimmt … wenn es sich nicht selbst barbarischer Praktiken bedienen würde, die seinen hehren Zielen widersprechen.

Der in Isny ausgegrabene »Prangerstein«


Foto: Heinz Bucher, Isny

Der mächtige Prangerstein (1,7 Meter × 1,2 Meter) bot die Grundlage für die räumlichen beziehungsweise geografischen Beschreibungen in diesem Roman. Er stand an der exponiertesten Stelle Isnys, am Marktplatz, direkt am Alten Rathaus, dem früheren Amtshaus. Die ungewöhnliche Form mit den reliefartigen Linien erinnert an die städtebauliche Geometrie der Siedlungsgründung, die damit verbundene Gründungsachse und die Ummauerung, sowie die Handelsstraßen und die wichtigsten Stadttore. Die in den Stein gehauenen Zeichen zeigen links ein nach Norden orientiertes gleichseitiges Dreieck. Die Nordrichtung ist vertieft. Die drei Spitzen sind die Stadttore ohne das Obertor. Der Ausgrabungspunkt ist das Wassertor, rechts als Turm mit Spitzdach erkennbar. Die Nordrichtung ist astronomisch orientiert. Die Seitenlängen betragen jeweils tausend »Isnyer Fuß« (333,33 Meter). Da die Tore noch stehen und mit modernen Mitteln vermessen werden konnten, bestätigen sie den »Vermessungsstein« und den Baubeschluss aus der Klosterchronik. Straßen und Tore wurden von der Gründungsachse aus festgelegt. Sie beginnt am Wassertor (Tordurchgang Mitte, Innenseite Tor) und richtet sich zur gegenüberliegenden Dreiecksseite (Seitenhalbierungspunkt). Das vierte Tor (Obertor) ist vom Marktplatz aus nach der astronomischen Wintersonnenwende (22. bzw. 23. Dezember, kürzester Tag) ausgerichtet. Der »Isnyer Fuß« gibt auch die Länge (33,33 Zentimeter) für die ersten Ziegelsteine (Funde aus der Grabung am Marktplatz) vor. Der Maßstab auf dem interessanten Fundobjekt beträgt 1:500. Wie auch andernorts wurde der Pranger in Isny benutzt und war ein Strafwerkzeug in Form eines Pfahls oder einer Säule, an die Missetäter wegen einer als straf- oder verachtungswürdig empfundenen Tat eine gewisse Zeit lang angebunden oder angekettet stehen mussten und somit allgemeiner Verachtung und Spott ausgesetzt waren. Quelle: Roland Manz, Erhard Bolender, Heinz Bucher, März 2020.

 

Isny im Allgäu, Hauptort des Geschehens

Als mächtige Gletscher vor zehntausend Jahren das Allgäu bei Isny formen, bildet sich die reizvolle Landschaft aus, wie wir sie heute kennen und lieben. Damals entstehen das heute landschaftsprägende sanfte Gebirge der Adelegg mit Schwarzem Grat, der Eistobel mit Wasserfällen, Strudellöchern und gewaltigen Felswänden, die Moore mit Heideflächen, lichten Waldgebieten, Wiesen und Seen.

Bereits den Römern gefällt dieses Fleckchen Erde so gut, dass sie ein Kastell auf einem Moränenhügel im Tal der Argen unweit der heutigen Stadt Isny bauen. Erstmals urkundlich erwähnt wird Isny im 11. Jahrhundert. Als Freie Reichsstadt entwickelt sich Isny ab dem 14. Jahrhundert zur ersten großen Blüte. Die stattlichen Bürgerhäuser innerhalb des mittelalterlichen Ovals mit Toren und Türmen und die noch weitgehend erhaltene hohe Stadtmauer mit Wehrgang zeugen bis heute vom Reichtum der Stadt. Isny ist eine der ersten Städte, die protestantisch wird, nachdem Martin Luther persönlich den Stadtoberen einen Brief geschrieben hat. Die Besonderheit eines katholischen Klosters in der von evangelischem Bürgertum geprägten Stadt, ist nur einer der vielen Gegensätze und jahrhundertelangen Streitpunkte in der Stadtgeschichte. Bereits 1507 bekommt die Stadt als zweite im Bodenseeraum nach Konstanz das Münzrecht.

1365 wird Isny Freie Reichsstadt und damit nur dem Kaiser untertan. Der freiheitliche Geist bleibt den Isnyern bis heute erhalten. Inzwischen zählt die Stadt mit den vier eingemeindeten Orten Beuren, Großholzleute, Neutrauchburg und Rohrdorf rund vierzehntausend Einwohner. Kunst und Kultur sind in Isny an vielen Ecken zu spüren und zu erleben. Ganz besonders im früheren Kloster und späteren Schloss, das seit Kurzem Kunsthalle, Städtische Galerie und Städtisches Museum unter einem Dach vereint. Aber auch in Isny-Großholzleute, denn dort im historischen Gasthof »Adler« logieren in früheren Zeiten Königinnen, befindet sich eine Station der Thurn-und-Taxis-Post und ist der Gründungsort der ersten Skischule weit und breit. Beim Treffen der »Gruppe 47« mit Preisträger Günter Grass wird dort Literaturgeschichte geschrieben, als Grass zum ersten Mal aus dem Manuskript seiner »Blechtrommel« liest. Besonders herausragend ist die seit Jahrhunderten original erhaltene Prädikantenbibliothek im Turm der Nikolaikirche. Sie enthält wertvolle Handschriften, Inkunabeln (Früh- oder Wiegendrucke) und weitere Kostbarkeiten. Im Rahmen der Stadtsanierung in den letzten Jahren fördern umfangreiche archäologische Ausgrabungen in der Isnyer Altstadt bedeutende Zeugnisse der Geschichte zutage. Neben alten Webstühlen, Tongefäßen und Gläsern sowie sehr mächtigen alten Fundamenten und dem »Prangerstein« wird 2018 auch der »Münzmeisterpfennig« ausgegraben, der in diesem Roman als »Magisches Amulett« die Hauptrolle spielt. Viel Freude beim Lesen dieses herausragend recherchierten historischen Romans!

Die Gründung des
»Gladius Dei« – Geheimbund der 45

Konstanz – Anno Domini 1001

Ein grausamer Codex verbindet fünfundvierzig Verschwörer aus dem gesamten Allgäu, aus Westschwaben und rund um den Bodensee.

Es war eine laue Sommernacht. Der pralle Mond zog einen silbernen Streifen über das Mare Brigantium von Konstanz nach Buchhorn hinüber und von dort aus in gerader Linie weiter bis zu einer kleinen Allgäuer Siedlung, die man bald als villa Ysinensi, dann verkürzt als Ysinensi, später als Isine, Isne und etwa fünf Jahrhunderte darauf als Isny bezeichnen würde.

In Konstanz schien es so, als wenn der Mond vom See aus direkt auf die höchste Erhebung der kleinen Handelsmetropole leuchte und den bedeutendsten Sakralbau im Südwesten der deutschen Lande anstrahle. Trotz der mitternächtlichen Stunde war es fast taghell. So konnte niemand sehen, dass um diese unchristliche Zeit Kerzenlicht aus den Fenstern des Konstanzer Münsters flackerte. Aber auch ohne die Helligkeit hätte niemand etwas davon mitbekommen, was sich im Inneren des neuen Gebäudes abspielte, das anstelle der alten Bischofskirche errichtet worden war. Denn die abergläubischen Bewohner von Konstanz trauten sich nicht, den Mond anzusehen, wenn der sich in voller Pracht entfaltet hatte und ihnen den Schlaf raubte, wenn sie ihn ansahen. Der Anblick konnte großes Unheil über sie, ihre Familien und über ihr Vieh bringen. Deswegen hatten die meisten Menschen bei Vollmond ihre Fenster mit Holzbrettern oder eingefärbten Tierhäuten verdunkelt.

Die Bienenwachskerzen, die im Münster entzündet wurden, waren für einfache Menschen kaum bezahlbar. Aber in dieser Nacht hatten sich keine Männer des gemeinen Volkes zusammengefunden, die weder lesen und schreiben noch rechnen konnten. Vielmehr waren dies durchwegs Privilegierte, die sich das wohlriechende Bienenwachs leisten konnten und nicht den rußigen Gestank von Talgkerzen einatmen mussten. Adelige, Gelehrte, Kaufleute und Mediziner aus allen Landen rund um den See, aus Westschwaben und sogar aus dem oberen Allgäu waren herunter nach Konstanz gekommen, um sich zu verschwören. Zwei Jahre hatte es gedauert, bis sich fünfundvierzig gleichgesinnte Männer zusammengefunden und alles so organisiert hatten, dass sie ihren geheimen Zirkel gründen konnten. Zwei Jahre, in denen der Großmeister, den sie damals im Kanonissenstift in Lindau gewählt hatten, ganze Arbeit geleistet hatte. Damals waren sie nur fünfzehn Männer gewesen.

Beim Betreten des Sakralraumes, noch vor der gegenseitigen zeremoniellen Begrüßung, zeigte jeder von ihnen den anderen mit hocherhobenen Händen die Zahl, die auch in blutroter Farbe auf seinem weißen Kapuzenumhang zu sehen war. Dieser rituelle Zugehörigkeitsbeleg wurde stumm mit einem allseitigen Kopfnicken quittiert. Und gemäß der Zahl, die ein jeder zeigte, fanden sie sich zusammen und teilten sich in neun unterschiedlich große Gruppen auf, die in einem von neun mit Kreide auf den Boden gemalten Quadraten zusammenstanden. Alles zusammen ergab ein großes Quadrat, das außen herum durch genau einhundertfünfzig Kerzen gekennzeichnet war.

Der größte Haufen zählte neun Männer, in der Mehrzahl Kaufleute, deren größte Liebe dem Geld galt, weswegen sie sich der Arithmetik und der gesamten Mathematik verschrieben hatten. Acht Gelehrte befassten sich beruflich mit der Grammatik und anderen Wissenschaften, während die Leidenschaft weiterer sieben Männer vordergründig der Geometrie galt. Sechs Scholaren und Studiosen lagen ganz besonders die Rhetorik und die Schrift am Herzen, was sie mit fünf Klerikern teilten. Vier der allesamt in weißen Kutten steckenden und mit spitzen Hauben vermummten Männern war von den »sieben freien Künsten« die Dialektik am wichtigsten, während drei Mediziner verbotene Leichenöffnungen durchführten und sich nebenbei leidenschaftlich als Astronomen betätigten. Nur zwei Verschwörer befassten sich intensiv mit der Musik. Die Verschwörer waren Teil der geistigen und monetären Elite der Gegenden, aus denen sie stammten. Den fünfundvierzig Männern war gemein, dass ihnen die Vergänglichkeit des Menschen bewusst war und sie Krankheiten und Tod abwehren wollten. Auch wenn sie dies mit Hilfe der Wissenschaft oder für die Wissenschaft zu tun gedachten, waren ihnen doch alle Mittel recht.

Was die fünfundvierzig klugen Köpfe dieser neun Gruppen zudem einte, war die Leidenschaft zur Arithmetik, einem Teilgebiet der Mathematik, das sich mit bestimmten und allgemeinen Zahlen, der Reihentheorie, der Kombinatorik und der Wahrscheinlichkeitsberechnung befasste.

Ebenso hatte es ihnen die Erforschung der Anatomie des menschlichen Körpers angetan. Deswegen unterstützten und förderten sie trotz der drohenden Todesstrafe das Öffnen von Leichen zum Zwecke der Wissenschaft. Um ihr erlangtes Wissen über Jahrhunderte hinweg in die Welt hinaustragen zu können, bedurfte es auch künftig vieler weiterer kluger Köpfe, die dafür sorgten, dass nichts davon verloren ging und sich das einmal erworbene Wissen über Generationen hinweg halten konnte. Es war die Aufgabe des jeweiligen »Großmeisters«, alle Erkenntnisse, die sie beim Öffnen von Leichen erlangen würden, akribisch niederzuschreiben und Zeichnungen anzufertigen oder anfertigen zu lassen. Ihr Ziel war es, eines Tages Bücher daraus zu machen, die nicht nur für Mediziner, sondern auch für Laien hilfreiche Grundlagen zur Erkennung, Behandlung und Heilung von Krankheiten sein würden.

Die Atmosphäre wirkte beängstigend. Die vermummten Gestalten, das gedämpft flackernde Licht der Kerzen, die das äußere Quadrat markierten, und das leise, monotone, wortlose Gemurmel der vierundvierzig Männer, die unruhig auf ihren Großmeister warteten, verstärkte die Wahrnehmung eines jeden Einzelnen von ihnen. Sie alle waren zum Zerreißen angespannt und mochten endlich wissen, was es war, das sich unter dem Tuch abzeichnete, das vor ihnen auf dem Altar lag. Mit Kerzen und einem Kreuz war er so drapiert worden, dass es den Anschein hatte, als wenn jeden Moment eine heilige Messe beginnen würde, was an Blasphemie nicht zu überbieten wäre.

Erst als Schritte durch das Gotteshaus hallten und sich eine weißgewandete Gestalt aus dem Dunkel eines kleinen Raumes schälte, um sich langsam auf das große Quadrat zuzubewegen, verstummte die Menge, während die innere Spannung der Gestalten anstieg.

Zum Zeichen ihrer Legitimation streckten wieder alle die Hände nach oben, um mit den Fingern »ihre« Zahl zu zeigen. Dieses Ritual hatte sich der erste Großmeister dieses geheimen Zirkels ausgedacht, um zu vermeiden, dass sich ein Unwissender in ihre Gemeinschaft einschleichen konnte. Wenn auch niemand etwas von ihrem Geheimbund und ihrem gesetzeswidrigen Treffen wissen konnte, war doch äußerste Vorsicht geboten. Durch diese Geste konnten sie sich gegenseitig kontrollieren, obwohl keiner je in das Gesicht des anderen gesehen, ja nicht einmal dessen Stimme richtig gehört hatte. Sie alle kannten nur die raue Stimme ihres Großmeisters, in dessen Gesicht aber niemand von ihnen je geschaut hatte und von dessen Namen ebenfalls niemand etwas wusste. Er allein war es, der die Herkunft, die Namen, das Alter, die Berufe, die Lebensumstände und die Charaktere all seiner vierundvierzig Mitglieder kannte.

Die Art und Weise, sich gegenseitig die Zugehörigkeit zu diesem namenlosen Zirkel ohne Worte zu zeigen, sollte sich in den folgenden Augenblicken ändern. Denn ohne etwas zu sagen, baute sich der Großmeister auf, nahm seine verschränkten Arme aus den breiten Ärmeln und reckte eine Hand mit gestrecktem Daumen nach oben. Obwohl eine blutrote Eins auf seinem weißen Umhang zu sehen war, konnten die anderen erst jetzt sicher sein, wer vor ihnen stand. Ein allseitiges stummes Kopfnicken, das von einem zufriedenen Grummeln begleitet wurde, bestätigte ihm, dass ihn die vierundvierzig Männer als ihren Großmeister erkannt und akzeptiert hatten.

Er nahm das um seinen Hals hängende Amulett ab und gab es einem Verschwörer mit einer Zwei auf seiner Kutte zur Begutachtung, dieser reichte es anschließend weiter. Einer nach dem anderen nickte und alle warteten auf die Worte ihres Großmeisters.

Der Großmeister setzte an: »Meine Brüder! Die Motive auf diesem Amulett werden uns in unserem Tun leiten! Es handelt sich um ein ›Lo Shu‹, das in einem fernen Land namens China schon seit über drei Jahrtausenden bekannt ist!«

 

Bevor er zur Erklärung der Motive kam, hielt er für einen bedeutungsvollen Moment inne. Dies sollte die Wichtigkeit dessen unterstreichen, was er nun zu sagen hatte: »Die Vorderseite zeigt neben Schriftzeichen und anderen Darstellungen einen toten Menschen mit einer Krone auf dem knochigen Schädel sowie die wichtigsten inneren Organe des menschlichen Körpers. Sie zeigt den toten Körper eines Königs oder Kaisers aus diesem fernen Land, dem nach dessen Tod die inneren Organe entnommen wurden, um ihn durch Balsamierung für alle Zeiten erhalten zu können. Damit weist sie auf die vanitas, die Vergänglichkeit des Lebens, hin, der wir mit all unserer Kraft, mit unserem Willen und Wissen … und mit unserem Vermögen entgegentreten müssen!«

Von einem zustimmenden Murmeln begleitet, sprach er weiter: »Unsere Bruderschaft hat sich zusammengefunden, um der Wissenschaft zu dienen, indem wir den Kanon der ›artes liberales‹ singen …« Ohne den begonnenen Satz zu unterbrechen, legte er mehr Kraft in seine ohnehin schon feste Stimme: »… und die Erforschung des menschlichen Körpers unterstützen! Wir werden all jenen mit größter Härte und mit dem Schwert Gottes begegnen, die uns daran hindern wollen!«

Weil keiner der vierundvierzig Geheimbündler verstanden hatte, was er mit dem »Schwert Gottes« gemeint haben könnte, brandete nur ein Raunen auf.

Der Großmeister gebot dem – allein schon aus Sicherheitsgründen – sofort Einhalt, indem er die zu allem entschlossenen Männer in strengem Ton daran erinnerte, dass ihre Gemeinschaft von einem gegenseitigen Schweigegelübde begleitet wurde, damit keiner den anderen erkennen und ihm somit schaden konnte.

Bevor das Geflüster lauter wurde, fuhr er fort: »Nun; wie sich die ersten fünfzehn von uns bei der ersten geheimen Zusammenkunft vor zwei Jahren in Lindau geschworen hatten, wird jeder für sich beizeiten einen vertrauenswürdigen Nachfolger suchen, der sich dann bei mir oder nach meinem Tod bei meinem Nachfolger vorstellen wird. Das heißt, dass unsere geheime Bruderschaft die Jahrhunderte ebenso überdauern wird wie jedes einzelne Organ in den Körpern jener Menschen, die nach ihrem Tod der Wissenschaft dienen werden!«

Er trat in das leerstehende Quadrat, das der Eins zugeordnet war, und erklärte den anderen, dass die Rückseite des Amuletts genau ein solches Quadrat darstellen würde wie das, auf dem sie standen. Es sollte Krankheiten und Tod abwehren und die zusammengezählte Summe der Zahlen aller Zeilen, Spalten und Diagonalen in den neun Feldern ergab die magische Zahl Fünfzehn. »Und alle darauf befindlichen Zahlen zusammengezählt ergeben fünfundvierzig! Deswegen sind wir fünfundvierzig Bundesbrüder! Es liegt an uns und unseren Nachfolgern, zu allen Zeiten dafür zu sorgen, dass dieses Amulett in den Händen des jeweiligen Großmeisters bleibt. Sollte es ihm – wie auch immer – abhandenkommen, werden seine Brüder alles dafür tun, um es wieder zurückzubekommen und dem Großmeister zu übergeben! Das heißt, dass es neben unseren eigentlichen Aufgaben unser vornehmliches Ziel ist, dieses ›Magische Amulett‹ mit allen Mitteln vor fremden Zugriffen zu schützen! Habt ihr das verstanden?«

Ein erneutes Kopfnicken zeigte dem charismatischen Mann, dass er weitersprechen konnte. »Dies wird im Laufe der Jahrhunderte nicht immer leicht sein; es wird Kriege geben, Brände, Krankheiten, vor allen Dingen aber immer wiederkehrende Seuchen wie den ›Lungenfraß‹, die Pest oder andere Epidemien, … stets einhergehend mit dem Tod. Dazu Diebstahl, Raub und Fehlgeleitete in unseren eigenen Reihen! Wenn sich jemand anderer dieses Amuletts bemächtigen sollte, wird er – und bei Notwendigkeit die Menschen in seinem Umfeld – ohne Gnade getötet! Der uns selbst auferlegte Codex verpflichtet uns dazu, dafür zu sorgen, dass sich unser Wissen um die Anatomie von hier aus über die ganze zivilisierte Welt verteilt und die ›artes liberales‹ ebenfalls Verbreitung finden! Ich gebiete und prophezeie euch, dass jedes Mal mehr Menschen zur Sühne sterben werden, wenn das Amulett verschwindet und wieder auftaucht! Sollte uns das Amulett abhandenkommen, stirbt eine Person. Sollte es erneut verloren gehen, zwei weitere.«

»… und letztlich so viele, bis die Fünfundvierzig erreicht ist«, unterbrach jemand wie aus dem Nichts heraus den Redner.

Nachdem die Versammelten festgestellt hatten, dass einer aus der Sechsergruppe gesprochen hatte, ging ein ungläubiges Flüstern durch die Reihen.

Anstatt den Zwischenruf einer Antwort zu würdigen, beendete der Großmeister das Thema mit den Worten: »Dieses Amulett darf uns allerhöchstens neunmal abhandenkommen! Ein zehntes Mal wird es nicht geben!« Seine Stimme zitterte. Dennoch fuhr er unbeirrt fort: »Es liegt also an den jeweiligen Großmeistern, auf das Amulett zu achten, und an seinen Mitbrüdern, ihn zu schützen und es wiederzubeschaffen, wenn es ihm abhandenkommen sollte!«

Nach einer kurzen Besinnungspause kam er zum nächsten Punkt, wozu er sein Quadrat mit einem Schritt über die Kerzen wieder verließ, um zum Altar zu gehen. Dort hielt er für einen Moment seine ausgestreckten Arme mit den geöffneten Handflächen so darüber, wie es Priester beim Gebet tun. Dann zog er das Tuch weg und bat einen der beiden Männer, die im Quadrat mit der Zwei standen, zu sich, um ihm in feierlichem Tonfall zu sagen: »Hiermit übergebe ich dir das, auf was wir über zwei Jahre hinweg sehnlichst gewartet haben: das Gladius Dei! Endlich hat uns ein reisender Händler über gute Beziehungen zu anderen Kaufmännern, die mit dem Schiff in die fernsten Länder fahren, fünfundvierzig dieser edlen Schwerter mitgebracht! Dieses sogenannte ›Jiàn‹ ist ein zweischneidiges Schwert aus dem Land, aus dem unser Amulett stammt!« Während er dies sagte, strich er sanft über die elegante Lederscheide. Anschließend hob er die Waffe hoch und warnte seine Brüder: »… wie viele Schwerter unserer Kultur, verbindet das ›Jiàn‹ Eleganz mit tödlicher Gewalt! In China wird dieses Schwert vom Kaiser bis zum ehrbaren Handwerker hinunter geführt, es ist ein Zeichen für den Rang der gesamten stolzen chinesischen Gesellschaft, ein Zeichen der Stärke. Und Stärke ist Leben. Und Schwäche heißt Tod! Fortan soll euch dieses Schwert stärken und auch das äußere Zeichen für unsere Bruderschaft sein, das es ebenso zu schützen gilt wie das ›Magische Amulett‹!«

Weil der Großmeister merkte, dass die Nummer zwei es nicht erwarten konnte, diese edle Waffe in die Hände zu bekommen, kam er zum fulminanten Ende seiner Ausführungen, indem er das Schwert mit gestrecktem Arm nach oben hielt und rief, so laut er konnte: »Dies ist Gladius Dei, das Schwert Gottes! … Es soll die Verbindung zu unserem Amulett sein! Achte gut darauf und gib es beizeiten an deinen Nachfolger weiter oder erkläre ihm ganz genau, wie er nach deinem Tod das Schwert in seine Hände bekommen kann!«

Nachdem der soeben Beschenkte wieder in seinem Quadrat stand und Ruhe eingekehrt war, streckte der Großmeister ein zweites Schwert in die Höhe und rief: »Auch dies hier ist das Schwert Gottes! … Es soll unserem geheimen Bund den Namen geben: ›Gladius Dei‹!«

Er hatte dies kaum ausgesprochen, als ihm auch schon ein vierundvierzigkehliges mehrfaches »Gladius Dei!« entgegenschallte.

Danach trat einer nach dem anderen aus seinem »Magischen Quadrat« und nahm stolz seine Waffe in Empfang. Als derjenige an die Reihe kam, der den Großmeister kurz zuvor unterbrochen hatte, wurde er von ihm aufgefordert, das Schwert aus der Scheide zu ziehen und es ihm zu geben. Kaum dass dies geschehen war, stieß er es ihm, ohne zu zögern, mitten ins Herz. Nun wusste auch der Letzte unter ihnen, was es hieß, eines der fünfundvierzig Mitglieder des Geheimbundes »Gladius Dei« zu sein. Und er würde bald auch wissen, wie nah Gut und Böse beieinanderliegen konnten.

Weitere Bücher von diesem Autor