Der mitteleuropäische Reinigungskult

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Der mitteleuropäische Reinigungskult
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BERNHARD MOSHAMMER

DER MITTELEUROPÄISCHE REINIGUNGSKULT

ROMAN


DAS LOKAL WAR DÜSTER UND DRECKIG, obwohl die Putzfrau, eine Ukrainerin mit Bandscheibenvorfall, erst vor einer Stunde damit fertig geworden war. Über den Möbeln und Wänden schimmerte ein rauer, fast schon pelziger Film im spärlichen Licht. Die von einem künstlichen Zitrusduft erfüllte Luft war eine Wand, eine milchig-trübe Bremse, die dem Besucher das Gefühl gab, in eine andere Klimazone einzudringen. Alles hier war in eine maskuline Mischung aus kaltem Zigarettenrauch, Alkohol, Schweiß, Leere, Frust, Wut und Sehnsucht nach einem anderen Leben getränkt. Keine Putzfrau der Welt, auch keine mit intakter Wirbelsäule, hätte diesen Ort davon befreien können.

Nicht einmal der Mitteleuropäische Reinigungskult wäre dieser Aufgabe gewachsen gewesen.

Die Toiletten waren so ekelerregend, dass Hans das Gefühl nicht loswurde, dass hier nicht etwa gespart oder nur ein zwangloser Umgang mit Hygienevorschriften gepflegt wurde – nein, das hier war das Wahrzeichen einer ganz bewusst gelebten Kultur, einer Antikultur oder, wie die hier Verkehrenden es wahrscheinlich nannten, der einen, wahren Kultur. Hier wurden Zeichen gesetzt und Rituale zelebriert. Die Wände waren so schamlos mit dem Kot der Geschichte, mit offenen Parolen, Zahlencodes und Chiffren vollgekritzelt, dass man Stunden hätte zubringen müssen, um auch nur einen Bruchteil der lausigen Botschaften zu entziffern.

Aber ja, dachte Hans Tellar, als er die Luft anhielt, so war es doch auch richtig, die sollten ruhig im Untergrund hausen und nicht in den Führungsetagen, Bürgermeisterbüros und Machtzentralen. Beinahe hätte er dieses mehr oder weniger respektable Linzer Etablissement gar nicht gefunden, weder war es beleuchtet noch angeschrieben, der Eingang war eine unauffällige, ganz normale Holztür, das Gebäude ein offenbar baufälliges Hinterhofhaus am Stadtrand. Auf einer altmodischen Gastwirtschaftstafel stand unter einem Zipfer-Bier-Logo mit Kreide gekritzelt: EK115.

Hier also würde er heute auftreten, einen kleinen Gig spielen – in einem Nazischuppen bei einem fröhlichen Beisammensein zum hundertfünfzehnten Geburtstag von Ernst Kaltenbrunner.

Dieser Auftritt war das sogenannte Verbrechen, welches ihn schließlich ins Gefängnis brachte, aber wir müssen gleich unterbrechen, dürfen nicht vorgreifen, müssen da anfangen, wo das Ganze begann interessant zu werden. Doch vorweg ein paar Worte zu Tellar, dem einigen Lesern womöglich noch bekannten, österreichischen Künstler.

Hans Tellar machte Musik für niemanden, elektronischen Noise Metal, Postindustrialavantgarderock oder so was – eine lächerliche Bezeichnung, die er selbst nie gewählt hätte –, jenseits von Gut und Böse, konventionellen Geschmäckern und simplifizierenden Kategorien. Sie sei, wie er Anton gegenüber einmal erwähnte, das variable Ergebnis eines lebenslangen Suchprozesses nach etwas Neuem, einer neuen Musikform, die jedoch nicht existiere. Das Beschreiten tatsächlich neuer Wege schien seiner bescheidenen Meinung nach das Privileg des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen zu sein. Er präsentierte seine Arbeit zumeist in autoaggressiven Performances im Stil eines Brus, nur nicht archaisch minimalistisch, sondern opulent und, wenn möglich, technisch aufwendig. (Wenn das nicht möglich war, machte er es aber auch ohne – im Gedenken an Schwabs liebe Mariedl, ehemalige Präsidentin von Österreich.)

Er war ein Mann zwischen den Stühlen, ein Genresprenger und beinahe autistischer Ignorant, ein Visionär und dennoch Bewahrer eines hehren Kunstbegriffs. Er war auch kein schlechter Dichter – in Antons Augen war er sogar ein hervorragender, ein wahrer Dichter, was auch immer das heißen mochte. Er war einer von jenen Besessenen, deren Geist flexibel und herrenlos war, die keine Wahl hatten, von dunklen, rauschartigen Zuständen heimgesucht wurden, die sie nicht kontrollieren konnten, aus welchen sie aber die intensivste, verstörendste Kunst herauszupressen vermochten. Intelligente, poetische, unverständliche, gewaltige, manchmal brutale sowie seltsam erotische oder pornografische Litaneien, die neben der eigenen Biografie und der üblichen Weltreflexion oft auch auf die Kunstgeschichte zurückgriffen, die für Anton nur im Ungefähren verborgen lag. Weltkunst, wenn es nach Anton ging, der beeindruckt zu seinem Freund aufschaute. Er selbst hatte nicht studiert, was er zunehmend beklagte, ja bereute. Er meinte festzustellen, dass die Ausbildungslosen in der Welt der Künste weitgehend chancenlos waren, dass nur ganz wenige Ausnahmen es schafften, auch tatsächlich ernst genommen zu werden. Einer wie Hans hingegen konnte alles verkaufen. Wenn er wollte. Hans wiederum beneidete Anton um seinen freien Geist, der unbefleckt und vom Akademischen verschont geblieben war.

Wenn man Hans, also seiner Kunst, irgendetwas vorwerfen konnte, dann vielleicht, dass sie zu künstlerisch, zu jenseitig war, andere Menschen vollkommen exkludierte; die Grenze zur Welt des Alltags, welche Humor, Interesse, Identifikation und Verständnis beheimatete, nicht einmal von hinten kannte. Seine Kunst lag auf unberührtem Land, zu weit entfernt, hatte keine Erinnerung an das Menschliche, oder aber, und das war Antons Lieblingssichtweise, sie war so tief ins Menschliche vorgedrungen, so tief im Menschlichen verankert, dass ihr jegliche Distanz zu ihm fehlte. Das alles kümmerte Hans nicht, was nicht hieß, dass er nicht gern darüber redete oder Antons Meinung dazu hörte, aber er ließ sich davon nicht beeinflussen oder gar bremsen – er hatte, wie gesagt, keine Wahl. Anton hatte schon zwei Mal über ihn geschrieben, hatte ihn einen Monolith genannt, an welchem der monströse Strom der Zeit verzweifeln musste.

Ja, Hans war ein Schöpfer, ein Erschaffer, aber freilich war seine Arbeit keine, die einen Mann ernährte. Für Geld prostituiere er sich, wie er selbst es nannte. So schrieb er Kritiken, führte Interviews mit Musikern, Schauspielern, Regisseuren, Schriftstellern, Youtubern, Influencern, Zeitgeistidioten, wie er sie bisweilen nannte; immerhin war er ein Mann in den späten Vierzigern, verfasste Artikel, Essays und Konzertberichte, machte regelrecht alles.

Was uns direkt zu Anton führt, Anton Wagenbach, von dem im Grunde ohnehin schon die ganze Zeit über die Rede ist. Es ist nämlich so, dass wir, um uns Hans zuwenden zu können, um seine Geschichte zu verstehen, die sich nicht nur um Kunst und Rebellion, sondern auch um eine auf den Kopf gestellte Welt, Nazis und Impotenz dreht, und die ihn schließlich seine Freiheit kosten wird, vorher Antons Geschichte erzählen müssen. Anton Wagenbach, der Nazijäger, der Julius Aschmann verfolgt, gefunden und zur Strecke gebracht hat. Wissen Sie noch? Nein? Umso besser.

Diese Geschichte präsentiert also eine kleine Versammlung mittelalter Männer und Frauen, ihre Gedankenwelten, Erlebnisse, Versuche, Visionen, Verrücktheiten, Vergehen und, nun ja, Verbrechen in jener Phase der Geschichte, die später einmal von manchen als schlafende, von anderen als traurige Ära bezeichnet werden wird, wobei schlafend sich auf die nervöse, sich bereits ins Bewusstsein schleichende Geradenoch-Ruhe vor dem Weckerläuten beziehen muss und mit traurig weder rührselig, sentimental oder gar das Gegenteil von lustig gemeint sein kann, eher glanzlos, verstört, bloßgestellt. Schlaf und Traurigkeit als Nacktheit im Lichte einer Öffentlichkeit ohne Gnade. Alles in allem war es eine ungestüme, überreizte und gefühlsduselige Zeit, die alle überforderte, alles ins Chaos tauchte, alles infrage stellte und noch viel, viel mehr beantwortete.

Aber schön der Reihe nach.

Inhalt

Teil 1 Anton Wagenbach

WHITE HORSE

LESSONS IN LOVE

LA CALISTO

EMPTY ROOMS

THE MAN IN THE LONG BLACK COAT

MANIFEST DES MITTELEUROPÄISCHEN REINIGUNGSKULTS

Teil 2 Julius Aschmann

DER FREMDE

DER BOTE

VISIONS OF JULIUS

DIE VORTEILE PHYSISCHER GEWALT ZWISCHEN ERWACHSENEN

LADY MACBETH

DIE LAGER UND DIE WAFFEN

GETHSEMANE

VICTORIA & ALBERT

Teil 3 Hans Tellar

EK115

KLEINES NACHSPIEL IM HERBST

DAS GEFÄNGNIS ALS ORT DER SICHERHEIT

 

ASHES TO ASHES, FUNK TO FUNKY

Teil 1
Anton Wagenbach

Ich klammerte mich an dem Kameragestell fest, krank vor Schwindel, aber berauscht von Machtgefühl: All dies war meine Schöpfung, meine vorhergesehene, geplante und durchgeführte Wirklichkeit. Die wirkliche Wirklichkeit schlug schnell und grausam zu.

Ingmar Bergman / Laterna Magica

WHITE HORSE

AUF DEM COMPUTER LIEF EIN PORNO; das Notebook war mitten auf dem ungemachten Bett platziert, es schien für diesen Zweck erdacht und gebaut zu sein, thronte majestätisch auf der Hotelbibel über einer stillosen Anhäufung von Zeitungen, Magazinen, geöffneten Chipspackungen, Socken und T-Shirts sowie einem dicken Notizheft, auf dessen Umschlag mit blauem Kugelschreiber die Buchstaben M, R und K gekritzelt waren. Auf dem Boden lagen zwischen einem Koffer und weiteren Textilien zwei leere Fish&Chips-Boxen sowie ein großer Pizzakarton; der ausgetrocknete Teigrand lugte unter dem Deckel hervor wie ein faules oder totes Haustier.

Anton Wagenbach setzte sich an den Bettrand und hielt seine müden Augen ausdruckslos auf den Bildschirm gerichtet, der Rest seines Körpers ignorierte das Angebot. Er hatte den Film nur aus Langeweile gestartet, eine kleine, belanglose Routine, die er sich angewöhnt hatte, wenn er allein unterwegs war. Außerdem sollte man den Tag mit etwas Hoffnungsvollem beginnen, fand er, das sei man den schlimmen Zeiten, dem bevorstehenden Ende der Welt schuldig. Was ist gegen ein paar Tropfen Sinnlichkeit einzuwenden, dachte er weiter, gegen ein kleines, freudvolles Tablettchen Zuversicht, ein offenes Fenster in Richtung weltauslöschende Ekstase? Seit drei Tagen war er hier, seit drei Tagen hatte er bis auf zwei kurze Spaziergänge am Strand sein Zimmer nicht verlassen. Jeden Tag hatte er irgendwann ein Filmchen gestartet und nie länger als zwei, drei Minuten laufen lassen, bevor er es völlig unbeeindruckt wieder stoppte. Sein sexueller Trieb schien versiegt zu sein, es mochte auch am unkontrollierten Alkoholkonsum liegen, wer wusste das schon.

Teilnahmslos verharrte Anton in einer unnötig verdrehten und unbequemen Position und betrachtete die Darsteller, als ihn ein seltsames Gefühl überkam. Plötzlich empfand er so etwas wie Mitleid: Was sind das für Leben?, fragte er sich. Seine Gedanken stülpten diesen armen Seelen, die da ihre angestrengte Hamsterarbeit verrichteten, die Trostlosigkeit der ganzen Welt über. Ja, es musste eine geradezu religiöse Geißel, eine höllische Bestrafung sein, die sie zu ihrem Tun zwang. Und er wurde noch abwegiger, dachte, ihre Arbeit sei womöglich die für immer überfällige und qualvolle Buße für die unaussprechlichen Sünden der Menschheit – noch konkreter, für die Sünden seiner Ahnen; eine Kette, die er weder überblicken noch begreifen konnte. Zweifellos war Anton Wagenbach dabei, verrückt zu werden.

Gleichwohl, auch wenn dieses Wissen vorübergehend aus seinem Bewusstsein verbannt war, war sein Zustand, seine Hölle, eine selbstgewählte und selbstgefällige.

Von sublimer Dekadenz hatte er kürzlich gelesen, und dieser Begriff fiel ihm just in dem Moment ein, als der schwitzende Darsteller mit schmerzverzerrter Miene, die an einen in der prallen Sommerhitze auf offener Straße arbeitenden Dorftrottel erinnerte, »Dreh dich um, Baby« sagte, und die nicht weniger schwitzende Darstellerin unsinnig zu jodeln begann. Zumindest klang es in seinen Ohren nach Jodeln, was dem Moment eine gewisse Absurdität verlieh.

Sublime Dekadenz? Anton wusste damit nichts anzufangen, er konnte sich nicht erinnern, in welchem Zusammenhang der Autor den Begriff verwendet hatte, und es war ihm auch egal. Wahrscheinlich war der Wunsch Vater seines Gedankens, wie man sagt. Sublime Dekadenz war angesichts des laufenden Films oder auch des beinahe herabstürzenden Himmels draußen vor dem Fenster möglicherweise etwas Gutes, Angenehmes, Beruhigendes oder Wünschenswertes, vielleicht das Gegenteil eines Pornos, er wusste es nicht und wollte auch nicht darüber nachdenken. Und doch haftete sein Blick auf dem Bildschirm. Seine Gedanken spielten verrückt: Geschundene Knechte, schuftende, schwarze Sklaven kamen ihm in den Sinn. Gedrillte Soldaten oder Bergarbeiter, Metal-Bands mit Namen aus dem Necronomicon, in schwarzes Leder geschnürt, mit weiß bemalten Gesichtern, die theaterbluttriefenden Zähne gebleckt und einen Höllenlärm von sich gebend. Flüchtlinge fielen ihm ein, vergehende Völker, Horden von offenbar sinnlosen Existenzen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan oder anderen sinnlosen Gegenden, die einst groß, stolz und einflussreich und nunmehr zum Abschaum der Welt verkommen waren, Wörter wie Balkanroute oder Auffanglager flogen an ihm vorbei und strapazierten seine Aufmerksamkeit, er dachte an Choleraepidemien, Dürers rätselhaften Syphilitiker oder noch unbekannte Seuchen aus dem Reagenzglas, die ganze Erdteile hinwegrafften.

Wohl wissend, dass das alles haltlose Klischees waren, möglicherweise Auswüchse seiner katholischen Prägung, die sich da in seinem Hirn zu einem monströsen Tsunami auftürmten, sah er schließlich Horden von todgeweihten KZ-Häftlingen aufgereiht an einem ins Nichts fallenden Abgrund; ja, beim Betrachten des Pornos musste er an Auschwitz denken, an Mauthausen, Vietnam, Srebrenica und so weiter. Schließlich endete die freudlose Reise seiner Gedanken im voyeuristischsten aller Tourismus-Hotspots: Golgatha. Er blickte auf die drei Gekreuzigten, auf den in der Mitte, den er sein Leben lang als edel und würdevoll Leidenden dargestellt gekannt hatte, als heroischen Unantastbaren. Jetzt, da Anton unter ihm stand, sah er ihn tatsächlich leiden, menschenunwürdig und zugleich zutiefst menschlich, sein Zustand war fürchterlich. Er war auch kein durchtrainierter Hüne mit charismatischen Gesichtszügen wie in den Filmen, eher ein drahtiger Durchschnittstyp. Nur noch Haut und Knochen, dreckig, geschunden, getreten und zerrissen, schlimmer als Mel Gibson ihn sich je hätte ausmalen können. Er weinte und schrie, rotzte und spuckte, zitterte und zuckte, nichts Göttliches war an dieser armseligen Figur. Er war die trostloseste Version eines Mannes am untersten Rand der Gesellschaft, der im Körperlichen gefangen, an die Materie genagelt, zum Leiden verdammt war, der einfach nicht sterben konnte, nicht erlöst wurde.

Wenn Anton dort war, wirklich dort war, und das dachte er, warum half er dem armen Hund nicht, warum ließ er ihn da hängen – und die anderen beiden auch? Was konnten sie schon verbrochen haben, um das zu verdienen? Anton spürte Schweiß von seiner Nase tropfen, zog in Gedanken weiter. Und wirklich bemerkenswert: Kein einziger seiner Gedanken beneidete die Protagonisten auf dem Notebook um das Fleisch, um ihre verständliche, wenn auch reißerische Behauptung eines sexuellen Schlaraffenlands jenseits des alten Vermehret-Euch- Gebots, wie die Gedanken eines normalen Mannes das womöglich getan hätten.

Gefangen in diesem dunklen Renaissancehöllengemälde verbrachte er die nächste halbe Stunde, glaubte aus dem Becher der Wahrheit zu schlürfen, die Essenz seines Zeitalters zu erkennen, ins Mark des Menschen zu tauchen, dann klappte er den Computer zu, sachte und beinahe elegant, wenn auch innerlich aufgebracht, und öffnete das Fenster.

Da draußen lag das Meer. War das eigentlich der Atlantik oder die Nordsee? Ruhig, ganz langsam zog die Nacht sich zurück und eröffnete den Blick auf das von der Ebbe im Zaum gehaltene Wasser. Noch vor einer Stunde hatte der Himmel sich aus dem Staub machen wollen, der beinah volle Mond hatte die raschen, fluchtartigen Bewegungen der Wolken in periodisch aufblitzendem Scheinwerferlicht preisgegeben und Anton zu dem Gedanken verführt, dass selbst die Natur paranoid geworden, die Macht des Menschen über die Natur endgültig bewiesen war.

Drei Tage lang verließ er das Hotel nicht, fand nur sporadischen Schlaf, eine Art trügerischen Halbschlaf. Am Morgen des vierten Tages badete er heiß, duschte kalt und badete wieder heiß, öffnete seinen Computer gefühlte tausend Mal und schloss ihn wieder, fuhr ihn herunter und wieder hoch, löschte Dateien, löschte den gesamten Datenverlauf – es half alles nichts: Der Porno war nicht zu stoppen, die Fickerei nahm kein Ende, das Plagen und Stöhnen, Ächzen und Winden ertönte und erschien, sobald er das Display hochklappte.

Es war unerklärlich und befremdlich, entbehrte jeglicher Logik, setzte den viel beschworenen, sogenannten gesunden Menschenverstand außer Kraft. Anton meinte zu wissen, was das zu bedeuten hatte, nämlich dass sein jähes Ende bevorstand, seine Umnachtung nicht mehr aufzuhalten war und er bald schon, hoffentlich bald, in ein paar Stunden vielleicht, in ein paar Tagen oder Wochen, bitte nicht länger, würde aussteigen können aus diesem Zug ins Ungewisse, in den finalen Abgrund.

Es war ein wenig lächerlich, das mittlerweile abgelutschte Klischee einer spätmodernen literarischen Mannsfigur vielleicht, aber er wollte, nein, musste sich noch weiter im Elend suhlen. Manchmal braucht es das, manchmal muss einer sich hinlegen, eine Zeit lang liegen bleiben, den harten Boden spüren, den Dreck, den sein Weg, den seine eigene Spucke verursacht hat, im Mund schmecken, bevor er wieder aufstehen, weitergehen und weitermachen kann. Anton wusste, dass er sich gehen ließ.

Die Zugmetapher war natürlich falsch, die Vorstellung einer Erlösung war naiv und hausgemacht, zu schön, um wahr zu sein; natürlich würde er niemals aussteigen können, er würde selbstverständlich, eingeschlossen in den rasenden Höllenzug, mit Höchstgeschwindigkeit in den Abgrund stürzen – das war das Unvermeidliche, so und nicht anders würde es geschehen, dies war zweifellos sein Schicksal. Und so weiter.

Aber auch so stehe es nicht wirklich um ihn, er fühle sich nur so, umschrieb er in unsicheren, krakeligen Buchstaben (er schrieb nur noch mit der Hand, den Computer konnte und wollte er nicht mehr bedienen) den erbärmlichen Zustand seiner Existenz. Er war ganz schön tief gefallen. Er war der einzige Fahrgast in diesem Höllenzug, wusste aber gleichzeitig, dass es nur ein Hotel war, ein Zimmer im zweiten Stock, Tür Nummer 17. Und selbstverständlich stand es ihm frei, sein Zimmer jederzeit zu verlassen, er konnte – immerhin befand er sich mitten in England, genau genommen am äußersten Rande Englands – kommen und gehen, wie es ihm gefiel. Diese Freiheit aber war fürchterlich.

Die Freiheit ist fürchterlich, schrieb er.

Die Freiheit hielt ihm seine Schwäche, sein Versagen vor wie einen unerträglichen Spiegel. Er musste sie jedoch nutzen, das war er sich selbst schuldig, die totale Resignation erschien ihm albern und pathetisch, also warf er einen letzten Blick auf den Computer, widerstand dem Bedürfnis, ihn noch einmal zu öffnen und machte sich schnurstracks auf den Weg nach unten in die Hotelbar.

Im Grunde ging es ihm natürlich gut, von außen betrachtet sogar blendend. Er war wohlhabend genug, um auf Reisen zu gehen, ungebunden und frei an einem Ort seiner Wahl: Brighton, England. In Rottingdean, einem entzückenden Vorörtchen direkt am Meer mit uralten Cottages, ein paar einwandfreien Pubs und dem für ihn fantastischen, nordkühlen Klima. Sein Hotel, das White Horse, ein unaufgeregter, bodenständiger Bau aus den Dreißigerjahren, lag direkt an der Strandpromenade, die Menschen hier schienen ebenso unaufgeregt und bodenständig zu sein. Das schrillschwul eingerichtete Café gegenüber war immer gut besucht, auch von den Alten, das konnte er sich in Österreich nur schwer vorstellen. Alle waren freundlich, selbst der Kaffee war gut – es war perfekt. Gut, die Trennung von Barbara vor drei Monaten hatte Spuren hinterlassen, tiefere und schmerzvollere, als er vermutet hatte, aber so war das nun mal, es war nur ein weiteres Ende einer weiteren Liebe, er durfte sich nicht beschweren, immerhin hatte er sich von ihr getrennt, auch wenn sie das anders sah. Aus irgendeinem Grund war es ihm wichtig, sich selbst als Initiator des Endes zu wissen – wie den meisten Männern, die um ihre Männlichkeit bangen, was auch immer das heißen mag, denn in seiner Männlichkeit gestärkt fühlte er sich dadurch ganz und gar nicht. Was war das überhaupt, Männlichkeit? Acht Jahre waren sie zusammen gewesen, acht lange Jahre, und wofür? Nur um sich am Ende zu hassen? Um sich nie wieder sehen zu wollen? Was für ein jämmerlicher und armseliger Kreislauf! Er hatte genug davon, genug von der romantischen Liebe, verfluchte die Tatsache, dass ihr Ende ihn in diesen haltlosen Zustand manövriert hatte. Er verfluchte ihre Macht und seine eigene Schwäche.

 

Er verfluchte Barbara.

Er verfluchte sie nicht.

Die Bar war leer, eine in Putzmittel getränkte Brise streifte seine Nase, lediglich der angrenzende Frühstücksraum des White Horse war von ein paar müden Gestalten bevölkert. Anton setzte sich an einen freien Tisch für zwei. Die Szenerie erweckte ein gigantisches Hungergefühl in ihm – tagelang hatte er nichts zu sich genommen, er sah mitgenommen und krank aus. Er bestellte also Kaffee und ein Big English Breakfast.

Der Kellner stellte instinktiv einen Krug Wasser dazu, Anton leerte ihn in einem Zug und bestellte Nachschub. Er machte sich über das Essen her wie ein irrer Häftling nach zwei Wochen Hungerstreik. Schön anzusehen war das nicht, aber das kümmerte ihn nicht, das Futter beruhigte ihn. Die Würstchen, Eier und Bohnen krochen in ihn hinein wie in ein Nest, wie in ein wiedergefundenes Zuhause, ein regelrechtes Heimatgefühl durchfuhr seinen Körper, es schien ihn für die durchlittenen Qualen zu belohnen und für kurze Zeit vergaß er, was da oben in seinem Zimmer vor sich ging.

Als er sich wieder daran erinnerte, fragte er sich, was es eigentlich war, das da vor sich ging. Im Grunde gar nichts, sagte er sich. Gar nichts passierte hier, nichts war geschehen. Und was für Qualen überhaupt? Er hatte eine halbe Woche in einem Hotelzimmer gelegen, geschrieben, sich über einen nicht enden wollenden Sexstreifen gewundert, sich von ihm einschüchtern und womöglich an den Rand eines Nervenzusammenbruchs drängen lassen, dabei waren die Gründe für die pornografische Dauerschleife sicher rein technischer Natur, ihrer eigenen undurchschaubaren digitalen Logik folgende Banalitäten. Wer weiß, vielleicht hatte er sich das alles auch nur eingebildet, vielleicht war es eine Wahnvorstellung, die Nachgeburt seiner wiedergewonnenen Freiheit, der Rattenschwanz der Liebe, vielleicht kämpfte er nur mit seinem Roman, mit dem Schreiben selbst, vielleicht war er im Purgatorium des Künstlers angelangt.

Jetzt erst mal essen und trinken, dann duschen und runter zum Meer, das würde ihm das Gehirn schön durchblasen. Und vor allem musste er seinen Fokus wieder auf das Wesentliche lenken, auf den eigentlichen Grund seines Hierseins, auf Julius Aschmann.