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Bernhard Giersche

Karl

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© 2014 Begedia Verlag

© 2014 Bernhard Giersche

Umschlagbild: Lichtinspektor

Layout und Satz: Begedia Verlag

Lektorat: Begedia Verlag

ISBN: 978-3-95777-042-4 (epub)

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Bernhard Giersche, Jahrgang 1967 ist Vater von vier Kindern und hat ein bewegtes berufliches wie privates Leben hinter sich. Daraus schöpft er sein breites Spektrum an Wissen über menschliche Charaktere und menschliche Untiefen. Er arbeitet und lebt in Lippstadt/NRW.

Prolog

Das flache Gebäude mit dem beschädigten Putz war hinter den hoch wuchernden Holundersträuchern kaum zu erkennen. Die Zufahrt war von Brennnesseln und Disteln überwuchert, und aus den Rissen, die die Witterung jahrelang in die Betonplatten vor dem Haus gegraben hatte, wuchs das Unkraut fast einen halben Meter hoch. Ein Stapel alter Autoreifen, der abseits des Weges stand, war vom Moos grün patiniert. Eine Birke wuchs aus ihm heraus, als habe sie den Reifenstapel als Blumentopf auserkoren. Das SEK »Alpha« bahnte sich nahezu geräuschlos seinen Weg zum Haus. Nur der schwere Atem der Männer unter den schwarzen Helmen war zu hören. Ein unterdrückter Fluch, den einer der Polizisten ausstieß, als er in eine Distel griff, wurde von einem ermahnenden »Pssst« kommentiert. Die Gruppe kam langsam voran und bezog unter den mit grauen Brettern zugenagelten Fenstern des Bungalows Stellung. Der SEK-Beamte, der an der rechten Hausecke kauerte, richtete seine Aufmerksamkeit auf den Bereich seitlich des Hauses, der von seiner Position aus am besten einzusehen war. »Alpha bereit«, knisterte es in den Lautsprechern, die auf Ohrhöhe in den Helmen der fünfköpfigen Einsatzgruppe integriert waren. Die marode Eingangstür würde der Türramme keine Sekunde standhalten, und sobald die Tür geöffnet war, würden Blend- und Nebelgranaten jeden Widerstand der oder des Menschen innerhalb des Gebäudes zur Farce werden lassen.

»Team Bravo bereit. Alpha wartet. Sichert den Ausgang und das Fahrzeug.« Dicht neben dem Bungalow stand ein blauer Renault, auf dessen Dach einige Holzpaletten gestapelt waren und der aussah, als wäre er schon sehr lange nicht mehr bewegt worden. Die fünf Männer spannten ihre Muskeln unter der schwarzen Schutzkleidung an und waren bereit zum Zugriff. Das Bravo-Team sollte das Haus von der Rückseite her betreten, und mit dreißig Sekunden Verzögerung würde das Alpha-Team in das Geschehen eingreifen. Das Zielobjekt war chancenlos und bereits so gut wie in Gewahrsam, wenn es gut lief, oder aber tot, wenn es Probleme geben würde. Der Leiter des Einsatzkommandos, ein Mann namens Gerald Picard, war bei seinem Team hoch angesehen, und es bestand zwischen allen Teammitgliedern und ihm ein starkes Vertrauensverhältnis. Picards Vorfahren waren Hugenotten und hatten ihm den französischen Nachnamen vererbt. Sein Team, zwölf Männer und zwei Frauen, hatte ihm den Spitznamen »Captain«, gegeben wegen seiner Namensvetternschaft mit dem Kommandanten des legendären Raumschiffs Enterprise. Und er, Picard, hatte aus dieser Not eine Tugend gemacht, indem er seinen Leuten ihren Spaß ließ, den sie bisweilen mit ihm trieben. »Captain« Picard gab den Einsatzbefehl auf die ihm zu eigen gewordene Art. »Energie!«

Für die beiden SEK-Teams war dies im Grunde ein Routineeinsatz. Sogar die Gegebenheiten der Szene ähnelten denen des Trainingszentrums, auf dessen Gelände Standardsituationen trainiert wurden. Sie wussten, dass sich die Zielperson im Gebäude befand und sie hatten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Zwar hatte der Täter wahrscheinlich eine Geisel, aber es war zu erwarten, dass sich diese in einem separaten Raum in Gefangenschaft befand und somit keiner Gefahr ausgesetzt war.

Lautes Krachen und Splittern drang aus dem Gebäude, dann zweimal ein scharfer Knall. Nach dreißig Sekunden zerschmetterte die wuchtige Ramme die Eingangstür, die komplett aus den Angeln gerissen wurde. Weißer Rauch quoll aus der Türöffnung und weitere Nebelgranaten flogen ins Innere des Hauses. Die fünf Männer standen auf und stürmten, die Gewehre in Vorhaltestellung, in das Gebäude, und nach weniger als drei Minuten hatten sie die Zielperson, die keinerlei Gegenwehr leistete, aus dem Gebäude gezerrt und mit dem Gesicht nach unten in die Brennnesseln geworfen. Die Hände und Füße des Mannes waren mit schwarzen Kabelbindern gefesselt und zwei Beamte blieben bei der Zielperson, während der Rest der Mannschaft die Bretter von den Fensteröffnungen riss, um das Gebäude rauchfrei zu bekommen. Noch war der Einsatz nicht abgeschlossen, denn sie mussten nun das Entführungsopfer finden und retten. Wenn der Mann nach über zwei Monaten Geiselhaft überhaupt noch lebte, woran es erhebliche Zweifel innerhalb der Sonderkommission gab.

Schnell hatten sie die Tür entdeckt, die mit einem schweren Vorhängeschloss gesichert war. Der Rauch hatte sich mittlerweile komplett verzogen und das Schloss hielt der Zuwendung durch einen Bolzenschneider nicht stand. Da niemand wissen konnte, was sich hinter der Tür befand, hielten Picard und sein Team noch immer die Gewehre schussbereit in den Händen. Hinter der Tür befand sich eine Treppe, die in den Keller des Gebäudes führte. Unter gegenseitiger Sicherung tastete sich die Gruppe in den Keller. Die einzigen Lichtquellen bildeten die kleinen Ziellampen, die an ihren Sturmgewehren angebracht waren. »Meine Fresse, stinkt das«, entfuhr es Picard, als die Gruppe in eine Wolke beißenden Fäkaliengestanks geriet. Die Treppe endete in einem einzigen Raum, der wohl früher als Vorratskammer diente. Hier fanden sie ihn.

Graue Lumpen bedeckten den völlig ausgemergelten Körper nur dürftig. Im Licht der Gewehrlampen sah die Haut des Mannes aschgrau aus. Die Haare des Entführungsopfers waren ebenfalls grau, verfilzt und hingen ihm in strohigen Strähnen in das bärtige Gesicht. Der Mann blickte sie mit irren Augen an und ein animalischer Laut entfuhr seiner Kehle. Der Boden des Kellers war eine einzige Jauchegrube und die Möblierung bestand lediglich aus einer Aluminiumschüssel, in der ein gebogenes und völlig vertrocknetes Stück Brot lag. Als einer der Beamten versehentlich diese erbärmliche Schüssel umstieß und der Kanten Brot in die Jauche fiel, stürzte sich die Gestalt auf das Brotstück und rettete es aus dem Schlamm, der aus seinen eigenen Exkrementen bestand. Hastig stopfte er das besudelte Brot in den Mund und versuchte, das steinharte Stück herunterzuschlucken. Ohne ein Wort griffen Picard und zwei seiner Leute dem Mann unter die Arme, den fürchterlichen Gestank ignorierend. Fast zu spät stellten sie fest, dass er mit einer Kette an der maroden Klinkerwand des Kellers gefesselt war. Die Kette endete in einem Eisenring, der um den Hals des Mannes gelegt worden war. Der schmutzige, lange Bart und die filzigen Haare hatten den Ring verdeckt, und so hätten die Retter ihm fast das Genick gebrochen, als sie ihn aus diesem Höllenloch befreien wollten. Auch hier war der Bolzenschneider nützlich, und so brachten sie ihn, nach Monaten in diesem Keller, wieder ans Tageslicht, doch es war nichts Menschliches mehr an dem Mann, der vor zwei Monaten und elf Tagen Opfer einer der spektakulärsten Entführungsfälle der Geschichte geworden war.

Viel später, als alle Berichte geschrieben waren und Spurensicherung und Ermittlungsbeamte den Tatort übernahmen, saß »Captain« Gerald Picard mit seinen Leuten in der Stammkneipe des Teams. Sie alle waren sich sicher, noch niemals etwas so Erbarmungswürdiges wie an jenem Nachmittag gesehen zu haben, als sie den Millionär Karl Grothner befreiten. Zumindest das, was von ihm übrig war.

Eins

Im Keller

Aus dem Meer aus Schmerzen ragte ein besonders stechender und pochender wie ein zerklüfteter Felsen empor. Dieser alles dominierende Schmerz strahlte von seinem Nacken auf den ganzen Körper aus, und alle anderen Schmerzherde in und an seinem Körper ordneten sich ihm unter. Die Wellen, die von ihm ausgingen, mischten alle Gedanken, die er zu formulieren versuchte, zu einem Brei aus Wortfetzen, in dem sich Geräusche und grelle Blitze mischten. Er hatte versucht, die Augen zu öffnen, doch es gelang ihm nicht. Seine Augenlider schienen zusammengewachsen zu sein. Als er die Arme bewegen wollte, um nach seinen Augen zu tasten, stieß eine Schmerzspitze von den Ellenbögen gnadenlos in sein Hirn und war für eine Millisekunde dominierender als das Inferno, das in seinem Nacken und Hinterkopf tobte. Wieder wurde er ohnmächtig. Als er das nächste Mal aus der Bewusstlosigkeit erwachte, fühlte er sich, als würden seine Adern von glühender Lava durchflossen. Die Hitze, die in ihm war, ließ den Schmerz erträglicher werden, aber die Bilder, die ihm das Fieber in sein zerschlagenes Bewusstsein projizierte, waren grausam und erzeugten Todesangst in ihm. Er spürte noch, wie sich seine Blase und sein Darm entleerten, bevor ihn die tiefe Dunkelheit erneut aufnahm und in den Vorraum des Todes sperrte.

Erst Stunden später kam er wieder an die Oberfläche. Der Schmerz war zu einem monotonen Dauergefühl abgeklungen. Das Fieber ließ ihn wie ein Stück Treibgut in rauer See unkontrolliert in die Realität eintauchen, um ihn gleich wieder im diffusen Nebel der völligen Orientierungslosigkeit versinken zu lassen. Das Gefühl des freien Falls wechselte sich ab mit einem sehr starken Drehschwindel, der ihm jede Kontrolle über seinen Körper nahm, den er ohnehin nicht mehr wahrzunehmen vermochte. Als habe er keine Grenzen mehr, als bestünde sein Körper aus einer Wolke, die sich ständig veränderte und keine Konturen besaß. Eine Wolke, die tief in ihrem Inneren einen glühenden Kern hatte, der unheilvolle Hitze ausstrahlte. An diesem ersten Tag im Keller war er dem Tod sehr nahe, ohne es zu wissen. An diesem Tag bestand seine Gedankenwelt nicht aus Worten und Bildern, Erinnerungen und Deutungen, sondern nur aus Gefühlen und sensorischen Empfindungen. Erst am Ende des zweiten Tages war er imstande, sich zu fragen, wer er ist. Doch diese Frage blieb unbeantwortet für ihn.

 

Er hatte es unter Schmerzen geschafft, seine Hände zu seinem Gesicht zu bewegen und nach seinen Augen zu tasten. Er rieb sie vorsichtig und konnte die Verklebung des linken Auges lösen und es halb öffnen. Im ersten Moment dachte er, er sei blind, denn trotz des geöffneten Auges sah er nur Schwärze. Es dauerte einige Minuten, bis er begriff, dass er im Dunklen lag. Seine Nase war völlig zugeschwollen und er spürte eine harte Kruste auf seiner Oberlippe. Er war gezwungen, durch den Mund zu atmen und seine Schleimhäute waren vollkommen ausgetrocknet und rissig geworden. Seine Zunge lag wie ein gestrandeter, toter Wal in seiner Mundhöhle und keine Geschmacksknospe sandte mehr Informationen zu seinem Gehirn. Lediglich die Idee eines Geruchs tanzte wie ein zephales Glühwürmchen durch sein Geruchszentrum. Ammoniak. Und noch etwas anderes, doch auch Teile seiner Assoziationsfähigkeit waren im Meer des Vergessens untergegangen.

Sein nächstes Erwachen war völlig anders. Er konnte beide Augen öffnen und sie konnten endlich wieder Informationen an sein Gehirn senden. Es war zwar ein sehr dämmriges Licht, doch weil er seit zwei Tagen nur Dunkelheit um sich gehabt hatte, war die Helligkeit für ihn zunächst unerträglich und er war gezwungen, die Augen wieder zu schließen. Die Verkrustungen um seine Nase herum waren fort und nach einigen Minuten hatten sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt. Die Lichtquelle war eine matte Glühbirne, die an der Decke des Raumes angebracht war. Er bemerkte, dass er völlig unbekleidet auf einer Pritsche lag. Das schmerzhafte Pochen in seinem Hinterkopf war abgeklungen und er begriff, dass jemand während seiner letzten Ohnmacht bei ihm gewesen war und ihn entkleidet und gewaschen hatte. Vorsichtig sah er sich um. Er befand sich in einem kleinen, fensterlosen Raum. Seine Pritsche war eine Campingliege, wie er erkannte, obwohl er nicht wirklich wusste, was eine Campingliege ist. Vor ihm auf dem Boden sah er eine Blechschüssel, darin ein Kanten Brot und neben der Schüssel eine durchsichtige Kunststoffflasche mit Wasser gefüllt. Langsam und unter Schmerzen gelang es ihm, sich aufzurichten und sich hinzusetzen, die nackten Füße auf kaltem Beton. Es klimperte leise und mit Erschrecken stellte er fest, dass er einen Halsring aus Eisen trug, der mit einer Kette an der Stirnwand des Raumes befestigt war. Doch im Moment war ihm die Flasche mit dem Wasser wichtiger. Er ließ sich von der Kante der Liege auf die Knie gleiten und griff nach der Flasche. Hastig öffnete er den Verschluss und trank gierig mit tiefen Zügen das schale Wasser. Sein Magen war nach so langer Zeit mit der plötzlichen Wassermenge völlig überfordert, und er erbrach es sofort wieder. Wie eine Fontäne schoss ihm das Wasser aus dem Mund und spritzte bis an die gegenüberliegende Wand. Hustend rang er nach Luft und trank danach erneut, aber langsamer und in kleinen Schlucken. Sein Magen krampfte erneut bedenklich, beschloss aber offenbar, das Wasser zu behalten. Obwohl er seit zwei Tagen ohne Nahrung war, verspürte er keinen Hunger. Seine gesamte Bauchgegend fühlte sich an, als sei sie aus heißem Stahl gegossen und kein organisches Material. Sein Blick schweifte durch den Raum. Bröckeliger Putz gab den Blick auf rote Ziegelsteine frei. Er sah auf die schmale Wand, an der seine Halsfessel befestigt war. Eine eigentlich dünne, aber offensichtlich sehr robuste Kette war dort mit einer Sechskantschraube an der Wand befestigt. Er tastete nach dem Eisenring, der um seinen Hals lag und stellte fest, dass ein Vorhängeschloss den Verschluss dieses Ringes bildete. Rechts von ihm erkannte er eine schmale Holztreppe, deren zwölf Stufen zu einer grauen Stahltür führten. Er bemühte sich aufzustehen und in Richtung der Treppe zu gehen, doch nach wenigen, sehr unsicheren Schritten spannte sich die Kette und verhinderte, dass er auch nur die unterste Stufe der Treppe erreichte. Er fühlte unendliche Hilflosigkeit in diesen Minuten. Wo war er? Wie war er hierher gekommen? Und vor allem: Wer war er? Er schaffte es gerade zurück auf die Liege, bevor das starke Sedativum, das dem Wasser zugesetzt war, wirkte.

Zwei

Karl Grothner war ein hochgewachsener und stattlicher Mann. Seine leicht ergrauten Haare verliehen ihm noch zusätzliche Autorität, obwohl er die gar nicht benötigte. Als alleiniger Chef des Handelsriesen »Grothner« und alleiniger Anteilseigner der »Grothner Solutions«, die eigentlich ein Geflecht aus verschiedenen Unterfirmen darstellte, gebot er über die veritable Menge von über zehntausend Angestellten. Er war Besitzer von unzähligen Immobilien und hatte sich mit seinen Firmen strukturell unabhängig gemacht. Wenn ihm zum Realisieren seiner Projekte Partner fehlten, buhlte er nicht um Zusammenarbeit, sondern schuf die Firma, die er benötigte, selbst. Transport, Logistik oder IT-Komponenten umrahmten sein Imperium und bildeten den Metabolismus, der es am Leben erhielt. Karl Grothner verfügte über ein Privatvermögen von über vierhundert Millionen Euro und gedachte, seinen Besitz stetig zu mehren. Sein sportlicher Körper steckte in einem dunklen Anzug, seine gesamte Erscheinung war vollkommen makellos. Die glänzenden Lederschuhe wiesen keinen Quadratmillimeter matter Stellen auf, als er aus der Limousine stieg, nachdem ihm der Fahrer die Tür geöffnet hatte. Der schwere, schwarze Land Rover, der stets wie ein Schatten hinter der Limousine des Firmenchefs herfuhr, hatte etwa fünfzig Meter entfernt gehalten. In ihm saßen vier sehr beeindruckende Männer, deren Aufgabe es war, für die Sicherheit des »Chefs« zu sorgen, wie Grothner immer dann genannt wurde, wenn er selbst nicht zugegen war. Ihn in seiner Anwesenheit so zu nennen, hätte niemand gewagt. In diese Verlegenheit kam allerdings niemand, denn Grothner kommunizierte nicht oft mit seinen Angestellten. Er gab Anweisungen, die stets so klar und durchdacht waren, dass es keinen Bedarf an Nachfragen gab. Hätte es diese gegeben, wäre der Frager für die Mitarbeit im Grothner-Imperium auf der Stelle disqualifiziert worden. An manchen weniger guten Tagen hatte Karl Grothner bis zu fünf Kündigungen ausgesprochen. Er verfügte über mehrere Rechtsabteilungen, von denen sich eine ausschließlich mit der Abwicklung der jeweiligen Beschäftigungsverhältnisse befasste.

Karl Grothner ging die wenigen Meter zum Haupteingang des Verwaltungsgebäudes, dessen gesamte Fassade aus verspiegeltem Glas bestand und das einen perfekten Würfel von exakt fünfundvierzig Metern Kantenlänge darstellte. Der Fahrer wartete weisungsgemäß genau dreißig Sekunden, bevor er dem »Chef« mit der schwarzen Aktentasche folgte, die er ihm dann vor die imposante Bürotür stellen würde. Frau Huss, die mausgraue Sekretärin des »Chefs«, würde ihm, wenn Karl Grothner das Gebäude wieder verlassen würde, jene schwarze Tasche exakt dreißig Sekunden später hinterhertragen und in den Kofferraum der Limousine legen. So war es jeden Tag. Zu genau derselben Zeit. Karl Grothner hatte jedes Detail im Ablauf seines Arbeitstages durchorganisiert und genauestens geplant. Jede Abweichung von diesem Schema, sofern von den Angestellten verursacht, führte in die sofortige Arbeitslosigkeit. Karl Grothners Chefsekretärin, Frau Huss, war eine unansehnliche Frau mit einem strengen und völlig altmodischen Dutt. Sie trug stets unauffällige, knöchellange Kleider und eine ebenso unspektakuläre Brille und selten Schmuck oder Parfüm. Ihr unterstand die Buchhaltung und das gesamte Sekretariat, das eine Etage tiefer untergebracht war. Ihr oblag die Auswahl der Schreibkräfte, die zum inneren Zirkel des Grothner-Imperiums gehörten, da sie Zugang zu teilweise sensiblen Daten und Vorgängen hatten. Sie konnte von sich behaupten, es am längsten mit dem »Chef« ausgehalten zu haben, würde das aber niemals tun. Sie war wie ein Schatten, wie der Mensch gewordene Nachhall seiner Persönlichkeit und Autorität. Als sie sich vor über fünfzehn Jahren auf die Stelle der Chefsekretärin bewarb, war sie in einem grauen Kostüm zum Bewerbungsgespräch erschienen und hatte fachliche Kompetenz bewiesen und das nötige Maß an Unterwürfigkeit mitgebracht, um die Stelle zu bekommen. Leidensfähigkeit musste sie erst lernen, aber Karl Grothner war diesbezüglich ein guter Lehrmeister. Sie lernte mit der absoluten Emotionslosigkeit des Konzernchefs zu leben, wie man es lernen mag, mit einer Krebserkrankung umzugehen. In den ersten Jahren litt sie seelisch Höllenqualen, wenn Grothner menschliche Existenzen mit eiskaltem Kalkül zerstörte. Sie sah ehemalige Firmenbesitzer geschockt und in Tränen aufgelöst aus Grothners Büro schleichen, nachdem deren Unternehmen vom ständig wachsenden und unersättlichen Grothner-Konzern geschluckt und zerschlagen wurden. Sie musste herzzerreißend weinende ehemalige Mitarbeiter abweisen, wenn diese trotz ihres Leids noch den Mut fanden, mit dem »Chef« persönlich über ihre Entlassung reden zu wollen. Und sie musste dies mit der gleichen Kälte tun wie der »Chef« selber. Sonst würde sie die Nächste sein, die gehen musste. In ihrer Position entwickelte sie eine Art »Stockholm-Syndrom«, die Identifikation mit dem Aggressor. Sie arbeitete schon lange nicht mehr für Geld, sie gehörte Grothner. Wie alles um Karl Grothner herum Karl Grothner gehörte.

Der Fahrer hatte die schwarze Ledertasche vor dem Chefbüro abgestellt, Frau Huss kaum wahrnehmbar zugenickt und war gegangen. Der »Chef« war dreißig Sekunden vorher wie immer mit regungslosem Gesicht an ihr vorübergegangen und hatte lautlos die Tür zu seinem Büro geöffnet. Auf seinem schlichten Schreibtisch hatte er eine Tasse schwarzen Kaffee und die Terminliste vorgefunden. Sie nahm die schwarze Tasche und öffnete ohne anzuklopfen die Tür. Er hob nicht einmal den Kopf, wusste er doch, dass sie es war. Karl Grothner saß vor seinem Notebook, und an den Bewegungen seiner grauen Augen konnte sie erkennen, dass er dabei war, seine Korrespondenz zu sichten. Der Chef wusste, dass sie die Tasche nun öffnen und in der Reihenfolge Schnellhefter, Smartphone und Plastikdose mit zwei geschnittenen Äpfeln auspacken und die Gegenstände in vorgeschriebener Ordnung auf dem Schreibtisch platzieren würde.

Wie jeden Tag. Und wie jeden Tag gab er ihr, wieder ohne aufzusehen, sein Diktiergerät mit den Anweisungen für den Tag. Sie nahm es entgegen und war peinlich bemüht, seine feingliedrigen Finger dabei nicht zu berühren. So viel intime Nähe zu diesem Mann wäre für sie unerträglich gewesen. Eine Berührung wäre ein Tabubruch gewesen. In den fünfzehn Jahren, die sie ihn nun kannte, hatte sie nie beobachtet, dass Karl Grothner von irgendjemandem berührt worden war. Er gab niemals jemandem die Hand. Möglichst ohne ein Geräusch zu verursachen, verließ sie sein Büro und nahm auf ihrem Bürostuhl Platz, vor sich den Schreibtisch, der wie ein verkleinertes Abbild des Tisches vom »Chef« aussah.

Sie schaltete das Diktiergerät ein. Karl Grothners tiefe, sonore und doch kalte Stimme erfüllte das Vorzimmer. »Predeick um neun. Quartalszahlen Innvotec-Grothner bis zehn. Den Schweizern absagen. Termin Börsenblatt absagen. Termin Ministerium an Berhues delegieren. Max Fresenius entlassen, Vollzug an mich bis fünfzehn Uhr. Telefonate nur von Dr. Krieger und Herrn Walther durchstellen. Bildschirmkonferenz moderieren Sie. Unterlagen sind im Netzwerk. Brinkmann vom Sicherheitsdienst um sechzehn Uhr bestellen.«

Ein Tag wie jeder andere. Sie atmete auf. Max Fresenius war der Facility-Manager des Verwaltungsgebäudes. Früher hätte man »Hausmeister« gesagt. Frau Huss wusste nicht, was der etwa fünfzig Jahre alte Fresenius verbrochen hatte, vielleicht war nur eine Glühbirne auf dem Männerklo defekt oder es wuchs Unkraut in den schmalen Beeten vor dem Glaskubus. Fresenius war auch für die Wartung des Fuhrparks zuständig. Möglicherweise gab es eine leuchtende Warnlampe in der Cheflimousine.

Es war ihre Aufgabe, den Kündigungsgrund zu formulieren, Fresenius davon in Kenntnis zu setzen und die Rechtsabteilung zu informieren. Ein Memo ging an die Sicherheitsabteilung, die dafür sorgte, dass der Mann seine Sachen packte und dann das Firmengelände verließ und nicht wiederkehrte. Sie erledigte alles innerhalb einer halben Stunde und pflegte die vakant gewordene Stelle in die Firmen-Homepage ein. Routine, die sie mittlerweile ebenso emotionslos erledigte, wie der »Chef« sie anordnete. Keine Fragen.