Ausgesoffen

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© 2021 – e-book-Ausgabe

RHEIN-MOSEL-VERLAG

Zell/Mosel

Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel

Tel 06542/5151 Fax 06542/61158

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-89801-910-1

Ausstattung: Stefanie Thur

Originalausgabe

© 2013

Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Bernd Thränhardt
mit Jörg Böckem

Ausgesoffen

Mein Weg aus der Sucht

Zum Schutz von Personen wurden Namen, Biographien und Orte zum Teil verändert und Handlungen, Ereignisse und Situationen an manchen Stellen abgewandelt.

Rhein-Mosel-Verlag

Für meine Eltern

»Der Schlüssel zu einem erfüllten Leben liegt darin,

das Unumgängliche zu wollen und dann das Gewollte

zu lieben.«

Friedrich Nietzsche

Geleitwort

Dr. Jarmila Mahlmeister

»Ausgesoffen«. Dieser Titel ist, wie das Buch und sein Autor Bernd Thränhardt, schonungslos ehrlich, authentisch und direkt. Die Biografie eines Menschen mit einer Suchterkrankung; alle Facetten, alle Farben, Höhen und Tiefen werden auf eine beeindruckende Art und Weise dargestellt. Der Leser wird von der ersten Minute an gefesselt. Man möchte das Buch an manchen Stellen weglegen und nicht weiterlesen, weil man beschämt ist, Fassungslosigkeit, Angst oder sogar Ekel hoch kommen. Und man liest trotzdem weiter. Man will wissen, wie es weitergeht, woraus dieser Mensch, so am Boden liegend, den Mut gefasst hat wieder aufzustehen, weiter zu leben, immer wieder von vorne anzufangen, um schließlich dort zu stehen, wo er heute steht …

Er ist ein leuchtendes Vorbild für viele Menschen mit dieser Erkrankung!

Ich selbst befasse mich seit fast 20 Jahren mit Suchterkrankungen. Die Geschichte von Herrn Thränhardt ist keine Seltenheit, ganz im Gegenteil. Sucht ist eine Erkrankung, die mit Fallen und Aufstehen einhergeht. Sie ist zerstörerisch, kennt weder Gnade noch Respekt vor Alter, Geschlecht, Status oder Wissen. Sie ist somit eine sehr faire Erkrankung: Niemand ist vor ihr geschützt. Man wird sie auch nie ganz los, aber man kann, wenn man einiges richtig macht, sehr gut und zufrieden mit ihr leben. Um dahin zu gelangen, hat Herr Thränhardt, wie alle unsere Patienten, sehr viel Lehrgeld bezahlt, aber am Ende hat er seinen Weg in die Abstinenz gefunden. Sein Weg bestand darin, Lebensinhalte zu suchen und zu finden, die ihm Halt gaben, Struktur im Alltag verliehen und damit verbunden kleine Erfolge, die wiederum Kraft gaben, es erneut zu versuchen. Ein sehr wichtiger Baustein in diesem Zusammenhang war neben seiner Familie seine Selbsthilfegruppe. Eine Gruppe von Menschen, die das gleiche Schicksal erlitten hatten, mitfühlten, Tipps geben konnten und im Notfall für ihn da waren. Menschen, die ihm als Betroffene Wissen über die Erkrankung vermittelten. Diese Erkrankung ist sehr komplex, deshalb ist das Wissen um die Zusammenhänge von Körper, Geist und Seele im Hier und Jetzt und in der Vergangenheit des Betroffenen von großer Bedeutung.

Diese Art der Unterstützung erfährt man als Erkrankte nicht ausschließlich in Selbsthilfegruppen, sondern auch in Kliniken, die sich auf Suchterkrankungen spezialisiert haben. In Deutschland gibt es viele Kliniken, die sich seit Jahren mit dieser Erkrankung befassen und somit eine zentrale Rolle in dem Prozess der Begleitung von Suchtpatienten spielen. Diese Kliniken erfüllen neben der Wissensvermittlung eine weitere Funktion in der Behandlung des Patienten. Sie nehmen die Patienten auf zur Entgiftung und/oder Entwöhnung des Patienten. Das bedeutet, dass der Patient »stofffrei« gemacht wird, um dann in einer zweiten Phase die notwendige therapeutische Begleitung unter geschützten Bedingungen einer Klinik zu erfahren.

Zunächst möchte ich die Frage aufrufen: »Warum eigentlich stationär entgiften? Geht es auch nicht ambulant?« Die Antwort ist so komplex wie die Erkrankung selbst. Es hängt unter anderem davon ab, von welchem Stoff man abhängig ist, ob eine ambulante Entgiftung medizinisch zu verantworten sei. Zum Beispiel ist die Entgiftung von Opiaten medizinisch problemlos, damit meine ich nicht gefährlich, durchführbar im ambulanten Bereich. Eine Entgiftung von Alkohol oder Benzodiazepinen (Schlaftabletten) hingegen, kann in den ersten Tagen des Entzuges zu tödlichen Komplikationen, wie einen epileptischen Anfall führen. Eine Empfehlung diese im ambulanten Bereich durchzuführen, kann ich somit auf gar keinen Fall, ohne strenge medizinische Begleitung, aussprechen.

Auch Herr Thränhardt hat im Laufe seiner Erkrankung die verschiedenen Formen der Versorgung in Suchtkliniken, mit deren unterschiedlichen Strukturen, Vor- und Nachteilen erfahren dürfen und in treffender Art und Weise in seinem Buch dargestellt.

Ein weiterer sehr wichtiger Baustein in der Versorgung und somit Unterstützung von Suchtpatienten ist, neben dem stationären Bereich, die ambulante medizinische und therapeutische Betreuung. Die erste medizinische Versorgung wird in der Regel durch den Hausarzt sichergestellt. Bei Komplikationen oder Begleiterkrankungen kommen dann u.a. Internisten, Neurologen oder Psychiater ins Spiel. Auch Tageskliniken oder Substitutionspraxen sind ein wichtiger Bestandteil des Suchthilfesystems. Für die therapeutische Betreuung bietet das System eine Fülle von wertvoller Unterstützung. Psychiater, Psychologen, Heilpraktiker mit psychotherapeutischer Ausbildung, Suchttherapeuten, Coaches usw. bieten auf sehr unterschiedlicher Weise Ihre Hilfe an.

An der Stelle sind mir zwei Bemerkungen sehr wichtig. Zum Einen gibt es nicht den richtigen oder falschen Therapeuten. Jeder Patient muss seinen Weg gehen und den für ihn unterstützenden Therapeuten suchen und finden.

… Wer heilt hat Recht …

Es ist wichtig, wie die verschiedenen Elemente des Suchthilfesystems, zum Wohle des Patienten, miteinander zusammenzuarbeiten. Es ist z. B. sehr wichtig für den Betroffenen nahtlos, mit guter Übergabe vom stationären in den ambulanten Bereich übergehen zu können und umgekehrt. Hierzu braucht es eine gute Kommunikation, Koordination und Verständnis von den verschiedenen Helfern untereinander. Die Zusammenarbeit von Ärzten, Therapeuten und Gruppenbegleitern wird im Idealfall zu einem Auffangnetz für die Betroffenen, das dem Patienten hilft, seinen Weg in ein abstinentes Leben zu gehen.

Deshalb freue ich mich jedes Mal, wenn ein Anruf in unsere Klinik von Herrn Thränhardt kommt und er um unsere Hilfe für einen seiner Patienten bittet. Genauso gerne tätige ich den Rückruf nach vollbrachter Entgiftung und begonnener Entwöhnung, um den Patienten in seine Obhut zurück zu geben.

Und mit der gleichen Freude bin ich deshalb der Bitte diesen Prolog des Buches von diesem langjährigen Kooperationspartner unserer Klinik zu schreiben, nachgekommen.

Dieses Buch macht Mut, trotz und wegen der schonungslosen Ehrlichkeit womit diese schwere, chronische Erkrankung dargeboten wird.

Bad Brückenau, den 18.02.2021

Dr. Jarmila Mahlmeister

Chefärztin der

My Way Betty Ford Klinik

Geleitwort

Professor Dr. med. Markus Backmund

Bernd Thränhardt rief mich Ende letzten Jahres an und bat mich um ein Geleitwort für dieses Buch. Es gibt nur wenige Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen und sich zu ihrer Suchtkrankheit offen bekennen und damit einen wichtigen Schritt für alle Betroffenen gehen, ihre Angst und Scham vor dem Eingeständnis ihrer Krankheit zu überwinden. Jörg Böckem hatte ich bereits in den 1990er Jahren auf einer Veranstaltung für suchtkranke Menschen kennengelernt. Prominente Menschen, die sich in die Mitte der Suchtkranken stellen, setzen ein unüberseh- und hörbares Signal, die kranken Menschen aus der Schmuddelecke, in die sie immer wieder gestellt werden, in die Mitte der Gemeinschaft zurückzubringen. Deshalb habe ich gerne zugesagt, als Suchtmediziner und Psychotherapeut ein Geleitwort beizusteuern.

Viel zu wenige wissen, dass Alkoholabhängigkeit eine der schwersten Krankheiten ist, die unbehandelt früh zu weiteren schweren Krankheiten und zum frühen Tod führen kann. Jährlich sterben allein in Deutschland 75000 Menschen an den Folgen.

Alkohol ist die härteste Droge, ein Zellgift, das nicht nur jedes Organ, sondern auch die Nerven und das Gehirn schädigt. Alkohol und Kokain geben sich schnell die Hand und die Drogenkarriere nimmt Fahrt auf. Häufig entsteht die Suchterkrankung infolge einer anderen psychischen Erkrankung, wenn die Droge wie ein Medikament zur Selbsttherapie eingesetzt wird. Die Ursachen für Sucht sind sehr vielfältig; das Problem der Abhängigen ist am Ende das Gleiche.

Sucht ist kein Randphänomen, sondern ein Teil unserer Gesellschaft. Sucht kann jeden Menschen, jede Familie betreffen. Wer Hilfe braucht, muss Hilfe erhalten. Damit diese Hilfe gelingt, muss sich das Bewusstsein in der Bevölkerung und in der Fachwelt verändern: Sucht ist nicht Versagen, sondern eine schwere Krankheit. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zählt die verschiedenen Suchtkrankheiten seit vielen Jahren zu den die Menschheit stark bedrohenden Krankheiten. Diese Erkenntnis muss in die Köpfe aller Menschen, auch in die der Fachwelt.

Ehrlich und schonungslos beschreibt Bernd Thränhardt seinen Krankheitsverlauf. Anfangs helfen die Drogen, sie wirken – mit Kokain scheint erstmal alles leichter zu gehen. Er erlebt Alkohol als selbstverständliches soziales Schmier- und Bindemittel, der Konsum von Alkohol gilt als normal.

Sobald der Konsum aber als Krankheit diagnostiziert wird, werden die Menschen stigmatisiert und diskriminiert. Ein respektvoller Umgang wird ihnen vielfach und vielerorts verwehrt. Das ist ein Grund dafür, dass sich viele Suchtkranke scheuen, Hilfe zu suchen. Das Bekenntnis von Bernd Thränhardt senkt die Barriere für Betroffene, sich ihre Krankheit einzugestehen und sich behandeln zu lassen.

 

München, März 2021

Professor Dr. med. Markus Backmund

Präsident der Dachgesellschaft der Suchtfachgesellschaften (DSG)

Prolog

In den beinahe zehn Jahren, seitdem wir dieses Buch geschrieben haben, ist viel geschehen. Schönes und Bestärkendes, aber es gab auch dramatische und schmerzhafte Ereignisse, die die Gefahr in sich trugen, meine Abstinenz in Frage zu stellen.

Ich hatte die Gelegenheit, in Zusammenarbeit mit einer engagierter Produktionsfirma aus Leipzig für den MDR als »Trocken-Doc« in der gleichnamigen Fernsehserie in einer neuen Art und Weise Betroffenen Unterstützung anzubieten – und für einen klischee- und vorurteilsfreien Blick auf das Thema Alkoholismus und gegen Stigmatisierung zu kämpfen.

Im Zuge der Dreharbeiten bin ich zahlreichen interessanten Menschen begegnet, zu einigen habe ich bis heute Kontakt, eine Zahnärztin aus Leipzig hat mittlerweile selbst eine Selbsthilfegruppe gegründet. Vor allem die Reaktionen von betroffenen Zuschauern, die zahlreichen Zuschriften, haben mich angespornt und ermutigt. Und sie haben mich daran erinnert, wie wichtig es für mich selbst in meiner schwierigen Zeit war, Menschen kennen zu lernen, die ihr Leben zum Besseren verändert hatten. Vorbilder, die mir Orientierung gaben und eben nicht dem klassischen Säufer-Klischee entsprachen, die sich differenziert, persönlich und authentisch mit dem Thema Alkoholismus und der seelischen Komponente der Sucht auseinandersetzten.

Menschen wie der Autor Jacques Berndorf zum Beispiel, oder der Spiegel-Journalist Jürgen Leinemann, der zu einer Zeit offen über seine Suchterkrankung sprach, in der ich noch dabei war, eine Art Krankheitseinsicht überhaupt erst zu entwickeln. Sein Satz »ich bin auch nach 30 Jahren noch eine Armlänge vom Rückfall entfernt« ist mir in den vergangenen Jahren immer in den Sinn gekommen. Ich stimme ihm zu – mit der Einschränkung, dass nach beinahe zwei Jahrzehnten suchtfreiem Leben mein Arm etwas länger geworden ist.

Mir ist es mit über 60 Jahren endlich gelungen, eine tragfähige Beziehung zu einer tollen Partnerin aufzubauen, die mir in den vergangenen fünf Jahren immer wieder eine große Stütze war. Und die beiden von mir geleiteten Selbsthilfegruppen haben mittlerweile ihr zehnjähriges Jubiläum gefeiert.

Auch wenn der allergrößte Teil der Gruppenmitglieder seit vielen Jahren stabil ist, gab es auch immer wieder Rückfälle. Manche mit tödlichem Ende: Ein Gruppenmitglied hat sich vor einigen Jahren von einer Brücke gestürzt, ein anderer ist nach schwerem Rückfall an einem Herzinfarkt verstorben. Das trifft mich jedesmal sehr. Aber es motiviert mich auch – in meiner Nüchternheit und der Arbeit in den Gruppen. Ich habe gelernt zu akzeptieren, dass es keine absolute Sicherheit gibt, egal wie sehr wir versuchen, abstinent zu bleiben, Hilfe anzunehmen und das Gelernte umzusetzen. Das gleiche gilt für meine Arbeit – egal, wie sehr ich mich bemühe, das Scheitern gehört dazu. So, wie ich akzeptieren musste, dass ich dem Alkohol gegenüber machtlos bin, musste ich auch immer wieder meine Machtlosigkeit gegenüber der Suchterkrankung mancher meiner Gruppenmitglieder akzeptieren. Eine schmerzhafte, aber wichtige Erkenntnis.

Meine zufriedene Nüchternheit wurde 2015 auf die Probe gestellt: Ärzte diagnostizierten ein Aneurysma an meinem Herzen. Ich musste das Tennisspielen und Krafttraining aufgeben, ein großer Einschnitt für einen Bewegungsmenschen wie mich. Und ich wurde mit der Endlichkeit meines Lebens konfrontiert: alle sechs Monate werde ich untersucht; sollte mein Aneurysma wachsen, bestünde Lebensgefahr und eine Operation wäre die einzige Option.

Einige Monate nach meiner Diagnose musste sich dann mein Bruder Carlo einer riskanten Notoperation am offenen Herzen unterziehen. Auch bei ihm war ein Aneurysma gefunden worden, einige Zentimeter größer als meines. Es bestand akute Lebensgefahr. Das hat mich sehr mitgenommen.

Eine Kiefer-OP, die starke chronische Schmerzen nach sich zog und die bis heute andauern, folgte. Schließlich kam noch ein schwerer Schlaganfall hinzu, von dem der Anhang zu diesem Buch erzählt. Der Schlaganfall war für mich eine dramatische Erschütterung meines Lebens, lange sah es so aus, als ob ich nie wieder normal essen, trinken, gehen oder gar Golf spielen können würde. Vor allem in dieser Phase war meine Partnerin Caro mir eine unschätzbare Hilfe. Für mich selbst überraschend habe ich in dieser extrem belasteten Phase keine Sekunde daran gedacht, wieder zu trinken. Darauf bin ich auch ein wenig stolz.

Dann kam die Corona-Pandemie mit all ihren Einschränkungen. Einschränkungen, die vor allem die Schwachen, die psychisch Instabilen, die Suchtgefährdeten und die Süchtigen mit besonderer Kraft getroffen haben. Ich denke oft, hätte ich die Entscheidung, mein Leben zu ändern und mit dem Saufen aufzuhören, nicht 2001, sondern 2020 getroffen, ich wäre vermutlich gescheitert. Der größte Teil dessen, was mir geholfen hat, diesen schwierigen Schritt zu gehen, hätte mir nicht zur Verfügung gestanden. Meine Alltagsstruktur, die ich um die Pfeiler Selbsthilfegruppen, Tennisverein und nüchterne Freundschaften aufgebaut habe, hätte es in der Form nicht gegeben.

Doch auch mein abstinentes Leben hat die Pandemie schwer erschüttert. Am Anfang, als aufgrund der Kontaktbeschränkungen keine Gruppentreffen mehr möglich waren, war ich in einer Art Schockstarre: Die Gruppe ist eine über Jahre gewachsene Gemeinschaft, in der eine enge Verbundenheit und großes Vertrauen herrschen. Wir haben über viele Jahre etwas aufgebaut, dann kommt so ein Virus und droht, alles zu zerstören. Ich hatte Angst um mein Lebenswerk, vor allem aber um die Gesundheit meiner Gruppenmitglieder. Ich weiß, wie wichtig unsere Treffen für die Teilnehmer sind; gerade für diejenigen, die ihren Weg in die Gesundung gerade erst begonnen haben.

Aber die Gruppentermine sind auch ein wichtiger Teil meiner persönlichen Tagesstruktur, meiner Identität. Ein Gespräch mit einem Freund hat mir dann geholfen, meine Frustration zu überwinden – wie bei einer Suchterkrankung ist in einer Pandemie Selbstmitleid ein schlechter Ratgeber. Ich habe mich bemüht, mit Phantasie und Kreativität andere Angebote und Möglichkeiten zu schaffen. Je nach Pandemie-Lage digitale Treffen und Telefonate, Einzel-Spaziergänge oder Treffen in kleinen Gruppen, natürlich mit Abstand, und einiges mehr. Ein Kompromiss blieb es dennoch, nichts kann das Gruppentreffen mit seinen Ritualen, der leibhaftigen Begegnung mit vertrauten Menschen, ersetzen.

In dieser Zeit ist mir die vielleicht größte Veränderung in meinem Leben bewusst geworden: Meine Perspektive hat sich verlagert, vom Hilfsbedürftigen zum Helfenden. Sicher, auch nach 19 Jahren suchtfreiem Leben muss ich immer noch achtsam sein, mir selbst auf die Finger schauen und beispielsweise meine Belohnungssysteme im Auge behalten. Ich darf die Selbstfürsorge nicht vergessen, muss darauf achten – oder immer wieder neu lernen – »Nein« zu sagen, ich neige immer noch dazu, mir zu viel zuzumuten.

Und wenn ich ganz ehrlich bin, passiert es auch immer noch hin und wieder, dass ich, wenn ich Filme sehe, in denen getrunken und ausgelassen gefeiert wird, für einen ganz kurzen Moment melancholisch werde und denke, wie schön war das doch damals! Eine kurze und flüchtige sentimentale Anwandlung, wie die Erinnerung an eine verflossene Liebe, die nach wenigen Sekunden glücklicherweise vorüber ist. Auch wenn ich nicht jeden Tag mit seligem Grinsen durch die Welt laufe, so weiß ich doch, dass mein Leben heute um so vieles besser und reicher ist als in der Zeit der Besäufnisse und Partys, egal wie wild sie waren.

Heute steht für mich im Vordergrund, anderen Betroffenen Hilfe und Unterstützung anzubieten – was wiederum auch für mich stabilisierend und Sinn stiftend wirkt. Die Menschen in der Gruppe und ihre Zusammensetzung verändern sich, ich verändere mich, ich lerne in der Gruppe ständig dazu und muss mich immer wieder hinterfragen. Langweilig wird es nie. Im Gegenteil, oft fahre ich nach einem Gruppentreffen beseelt nach Hause. Ich habe meinen Platz gefunden, denke ich. Ich weiß, wer ich bin.

Gier

Juni 2001: Ich sehe auf meine Uhr. Es ist vier Uhr am Morgen, keine Chance, Schlaf zu finden. Der Entzug ist in meinen Körper gekrochen, hält mich unerbittlich in seinem Griff. Ich, ich habe längst nichts mehr im Griff. Ich richte mich im Bett auf, mein Körper hängt an mir wie ein nasser Sandsack, jede Bewegung eine Qual. Meine Hände zittern, kalter, stinkender Schweiß klebt auf meiner Haut, jede Nervenzelle schreit nach Alkohol. Ich kann diesen Zustand nicht ertragen, keine weitere Minute. In meinem Kopf nur noch ein einziger Gedanke. Schnell jetzt, schnell; ich steige hektisch in die Jeans, die vor meinem Bett auf dem Boden liegen, auf die Unterhose verzichte ich. Dann die Turnschuhe, ohne Socken, nur keine Zeit verschwenden. Mit fahrigen Bewegungen ziehe ich mir ein Sweatshirt und die Jacke über. Fahre mit dem Lift hinunter, raus aus dem Haus, über die Straße. Die nächste 24-Stunden-Tankstelle ist rund anderthalb Kilometer entfernt, ein Taxi kommt nicht in Frage. Die Wartezeit wäre ein Martyrium, der Fahrpreis würde mich eine Flasche Schnaps kosten.

Ich schleppe mich wie ferngesteuert durch die Straßen. In dieser gutbürgerlichen Wohngegend sind sie um diese Zeit menschenleer, kein Licht in den Fenstern. Die Straßenlaternen, die Wagen am Straßenrand, die Häuser, Garagen, Gärten und Bäume der Kölner Vorstadt sind nur eine Kulisse, durch die ich mich wie ein gequälter Geist bewege. Mit mir und meinem Leben haben sie nichts zu tun. Alles um mich herum ist Kulisse, Staffage, nichts hat Bedeutung, nur der Entzug und die Gier.

Ich durchquere das Gelände des Einkaufszentrums, die Schaufenster und Wege liegen in völliger Dunkelheit. Einige Tage zuvor habe ich hier mittags auf einer Bank gesessen und meinen Morgencognac getrunken, als ich Barbara, meine Ex-Freundin, mit ihrem neuen Lebensgefährten sah. Eine beschämende Begegnung. Wir haben uns begrüßt, betont freundlich und selbstverständlich, aber ich konnte das Entsetzen in ihrem Gesicht sehen. Danach trank ich die nächste Flasche.

Mir ist saukalt, ich schlottere, gleichzeitig bricht mir der Schweiß aus. Ich überquere die Aachener Straße. Vier Fahrspuren, der Scheinwerfer eines Autos gleißt in meinen Augen, schneidet in meinen Kopf. Irgendwann sehe ich die Neonreklame der Tankstelle, das Licht in der Dunkelheit, die pure Verheißung. Nur noch wenige Hundert Meter, gleich ist es geschafft. Das Ende der Qualen. Ich beschleunige meinen Schritt.

Einige Tage zuvor habe ich in meiner rastlosen, Sinne vernebelnden Gier die Tankstelle nicht gefunden, bin Stunden durch die Nacht geirrt, bis ich schließlich durch Zufall vor einer Tankstelle stand. Ein anderes Mal habe ich an der Kasse bemerkt, dass ich mein Geld vergessen hatte, der besessene Drang nach Alkohol hatte alle Gehirnfunktionen ausgeschaltet. Ein Alptraum; die Vorstellung, die Tankstelle ohne Schnaps wieder verlassen und den Weg in meinem Zustand noch zwei Mal bewältigen zu müssen, war unerträglich. Glücklicherweise trug ich meine Uhr, eine Tag Heuer, für die ich wenige Jahre zuvor mehrere Tausend Mark bezahlt hatte. In einem anderen Leben musste das gewesen sein. Ich bot dem Tankstellenangestellten die Uhr als Pfand für eine Flasche Weinbrand an, bettelte schier um Alkohol: »Du kennst mich doch, ich komme morgen mit Geld zurück und hole die Uhr wieder ab, versprochen.« Der Mann ließ sich auf den Deal ein. Ja, er kannte mich, schließlich stand ich jede zweite Nacht hier und kaufte Weinbrand.

Ich bezahle meine Flasche mit schweißkalten Fingern. Der Verkäufer bedient mich freundlich, wie jeden anderen Kunden. Aber ich bin nicht wie die anderen, ich bin der schlotternde Typ, der in den frühen Morgenstunden Mariacron kauft, mehrfach in der Woche. Der seine teure Uhr für Alkohol verpfändet. Ich fühle mich ertappt, durchschaut. Aber die Gier ist stärker als die Scham, viel stärker.

In einer dunklen Ecke hinter der Tankstelle, zwischen kargen Büschen, öffne ich die Flasche und trinke. Ich friere in meinen sockenlosen Turnschuhen, unter meinen Füßen der schlammige, kalte Boden. Tagsüber werden auf dem Platz die Autos gewaschen, bei Dunkelheit ist diese verborgene Ecke ein beliebtes Freiluftpissoir. Ich stehe neben der Tankstelle in der Pisse, ohne Unterhose, und saufe billigen Weinbrand aus der Flasche. Mich zurück in meine Wohnung schleppen, den Schnaps in ein Glas gießen und auf meinem Sofa trinken, nicht einmal zu dieser rudimentären zivilisatorischen Anstrengung bin ich mehr fähig.

 

Als ich die Flasche absetze, ist sie halbleer. Endlich Ruhe, der Selbstekel heruntergedimmt. Ich mache mich auf den Rückweg. In meiner Wohnung, die kein Zuhause ist, es vielleicht nie war, leere ich die Flasche vollends und falle in einen unruhigen Schlaf. Als ich am nächsten Morgen aufwache, beschließe ich, mit dem Trinken aufzuhören. So kann es nicht weitergehen, darf es nicht weitergehen. Diesen Entschluss fasse ich beinahe jeden Morgen. Spätestens in der nächsten Nacht stehe ich wieder an der Tankstelle.