Breiter bis wolkig

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Aus der Reihe: Lindemanns #369
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Breiter bis wolkig
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für Ulrike

Wenn Bernd Neuschl (*1981) nicht gerade auf der Bühne ausverkaufte Lesungen zelebriert oder mitreißende Konzerte dirigiert, vermittelt der zweifach examinierte Lehrer die Schönheit der deutschen Sprache und Musik an seine Schüler bis hin zum Abitur. Der Dirigent, Autor und Kabarettist veröffentlicht regelmäßig in Zeitungen und Zeitschriften Rezensionen und Glossen. Darüber hinaus engagiert er sich ehrenamtlich als Jugendchorleiter, Moderator und Stadtrat in seiner Heimatstadt Bretten. Seine Bühnenfiguren, Musikprofessor Ben Bock und der urige Bayer Herbfried Nudelhuber, gehören zu den Highlights der „Brettener Bütt“, deren Prunksitzungen Neuschl seit 2006 als Präsident leitet. Wenn es sein Terminkalender zulässt, tritt er als Comedy-Magier bei Hochzeiten, Kindergeburtstagen oder auch Scheidungen auf.

Bernd Neuschl

Breiter

bis wolkig

Lach- und Quatschgeschichten

über das Leben, die Liebe

und den Durst

LINDEMANNS

Beziehungsweisen

Die Stuhlpatin

Eigentlich hätte es eine romantische Szene werden können. Der Zug fährt in den Bahnhof ein, wir umarmen uns und ich vergesse für einen Augenblick die anstehende räumliche Trennung.

Eine letzte Umarmung auf dem Trittbrett, ehe sich die zischenden Zugtüren mit einem finalen Schmatzen ihrer Gummidichtungen viel zu schnell schließen werden. Ich spüre, dass mich Laura überhaupt nicht richtig drückt. Ganz passiv steht sie da. Irritiert löse ich meine Arme, suche ihren Blick, aber sie starrt auf den schroffen Gleisschotter zwischen Zug und Bahnsteig.

Ich bekomme Panik und möchte ihr noch schnell einen allerletzten Kuss auf ihre kühlen Lippen drücken. Sie dreht ihren Kopf gänzlich weg. Geht einen Schritt zurück. Sie holt tief Luft, nimmt meine Hände ganz förmlich in die ihren. Schlagartig entflammt sich in meinem Bauch ein schlimmes Gefühl. Es ist, als stehe da auf einmal eine völlig fremde Frau vor mir.

Mit leeren Augen schaut sie mich kühl an, kann meinen sehnsuchtsvollen Blicken aber nicht standhalten. Sie sieht nach oben und lässt mit einem schweren Seufzer meine Hände fallen.

Jetzt kommen die Worte, die ich nie aus ihrem Mund hatte hören wollen. Worte, die mich schlagartig lähmen und nach drei glücklichen Jahren alles um mich herum in triste, bedrohliche Farben tauchen.

Sie habe das Gefühl, wir hätten uns auseinandergelebt. Meinen beruflichen Wechsel von Hamburg zurück nach Köln wolle sie deshalb nutzen, um unter unsere Beziehung einen Schlussstrich zu ziehen.

Für mich bricht meine Welt zusammen. Wir hatten uns doch beide auf das neue Abenteuer Fernbeziehung gefreut. Alles Reden und Flehen hilft nichts. „Mach’s gut, Ben.“

Hilflos muss ich zusehen, wie sich die Türen des Zuges zynisch zischend zwischen uns schieben. Wie von Geisterhand schwebt Laura langsam nach rechts, dabei bin ich es, der mit dem anfahrenden Zug der unwirklichen Szene entschwindet.

Einsam sitze ich im Abteil und bin zu geschockt, als dass ich losheulen könnte. Ich hoffe inständig, dass sie mir zum Abschied zumindest winken oder doch noch wenigstens eine Kusshand zuwerfen würde. Oder sie würde gar den Zug anhalten lassen, zu mir ins Abteil stürzen, mich fest umklammern und schluchzen „Ben, verlass’ mich nicht, ich liebe dich doch.“

Doch als sich der Zug in Bewegung setzte, konnte ich nur sehen, wie sich Laura bereits gänzlich zum Gehen abgewendet hatte. Das Letzte, was ich von ihr sehnsuchtsvoll erhaschen konnte, waren ihre wundertollen Haare und der elegante rote Mantel, den ich ihr zum Geburtstag vergangenen Mai geschenkt hatte. Ohne sich auch nur einmal umzudrehen, floh sie eilig die Treppen der Gleisunterführung hinunter.

Von der Fahrt nach Köln weiß ich nichts mehr. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich mir tagelang wünschte, das Ganze sei ein böser Albtraum gewesen. Es hatte doch alles gepasst. Mein neuer Job war mir egal. In Hamburg war ich ein kleiner Korrepetitor gewesen und hatte jahrelang Musicaldarsteller bei sämtlichen Proben auf dem Klavier begleitet. Dann wurde ich endlich als zweiter Kapellmeister für zwei Konzertproduktionen nach Köln berufen. „Hairspray“ und „Bodyguard“. Ein Vertrag für vier Jahre. In der Branche gleicht das einem Sechser im Lotto.

Laura wollte weiterhin als Onlineredakteurin beim Norddeutschen Rundfunk für die Kulturnachrichten arbeiten. In Hamburg zu bleiben begründete sie mit der gewagten Hoffnung, eines schönen Tages bei der ARD Miss Tagesschau werden zu können. Aus diesem Grund nahm sie sogar Schauspielunterricht und ging hin und wieder mit einem Theaterensemble auf Tournee.

Dass der berufliche Wechsel von der Elbe in meine alte Heimatstadt am Rhein so furchtbar werden würde, hatte ich mir selbst in meinen schlimmsten Träumen so nicht ausgemalt.

Ich schrieb Laura endlos lange Briefe. Glühende Liebesschwüre waren das, mit goldener Feder die Vergangenheit verklärend. Von ihr jedoch kam kein Lebenszeichen.

Nach zwei Monaten verwandelte sich meine Trauer in Wut. Aus diesem Grund schickte ich ihr ein Paket mit all den Geschenken, die sie mir in den drei Jahren gemacht hatte. Es fiel mir überraschender Weise nicht schwer, mich von diesen kostbaren Erinnerungen zu trennen.

Als ich das Paket abgegeben hatte, kam ich mir sehr erleichtert vor. Bis mich Lauras neuer Freund Lukas anrief und mir drohte, falls ich Laura weiterhin belästigen würde, käme er persönlich nach Köln, um die Sache zu klären. Das war wie ein Schlag ins Gesicht. Laura hatte also nach so kurzer Zeit schon einen neuen Partner.

Aus meiner Wut wurde Hass. Dann erfuhr ich zufällig von einer gemeinsamen Freundin, dass die Sache zwischen Laura und Lukas, dem Lichttechniker ihrer Theatergruppe, schon über ein Jahr ging. Wieder war ich geschockt, aber im gleichen Augenblick hatte ich nicht mehr das Bedürfnis, Laura in meiner Erinnerung zu überhöhen. Im Gegenteil.

Aus Hass wurde abgrundtiefe Abscheu, welcher ich in einem allerletzten Telefonat Luft machte.

Das Ganze ist jetzt ein Jahr her. Es stimmt, nichts dauert ewig. Nicht einmal Liebeskummer. Zum Glück. Wunden heilen. Narben bleiben jedoch als stumme Warnung für mehr Achtsamkeit in einer künftigen Beziehung zurück.

In meiner alten Heimat Köln habe ich so gut es ging alte Verbindungen neu aufleben lassen, aber auch neue Freundschaften geschlossen.

Ein besonderer Freund ist Holger, mein Jahrgang, aber im Vergleich zu mir ein echt schräger Zeitgenosse.

Holgers Nachnamen lautet Hartnuß. Ich finde, dieser Nachname passt, denn Holger Hartnuß ist ein wahrer Sturkopf vor dem Herrn. Entgegen sämtlicher Empfehlungen seiner Lehrer und Studienberater studiert Holger Mathematik. Mittlerweile im 24. Semester. Die Miete für seine Wohnung in einem kleinen Vorort von Köln bezahlen seine Eltern.

Er hält sich als wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität finanziell verblüffend trocken über Wasser. Aufgrund von Budgetkürzungen sollen jedoch ab dem kommenden Semester sämtliche Stellen der wissenschaftlichen Hilfskräfte an seiner Fakultät für ein Jahr ersatzlos gestrichen werden. Deshalb jobbt Holger bereits jetzt schon freitags auf einem Recyclinghof, wo er pro Schicht 27 Tonnen Kühlschränke aus rostigen Abrollcontainern auf ein Förderband wuchtet oder gleich Richtung Schredder wirft.

Manchmal hilft er auch in dem altehrwürdigen Bestattungsunternehmen seines Onkels aus. Je nach Tagesform kann es jedoch vorkommen, dass Holger sein Tätigkeitsfeld verwechselt und den Sarg beim Verladen in den Leichenwagen oder beim Abseilen in das offene Grab vor den Augen entsetzter Angehörigen mit einem kaputten Kühlschrank verwechselt. Im Gegenzug dazu verneigt er sich auch schon mal pietätsvoll, wenn ein Kühlschrank in den Schredder gleitet.

Und dieser Holger ist es auch, der die glorreiche Idee hat, mich bei einem Speed-Dating anzumelden. Was soll schon schiefgehen? Da ich ohnehin vorhabe, am Sonntagabend die Abschlussvorstellung einer Gastproduktion des Hippie-Musicals „Hair“ zu besuchen, kann ich auch schon zwei Stunden früher los.

Es ist Sonntagmittag und ich sitze mit sieben anderen Versagern in einem Café am Rheinufer. Meine Konkurrenten sind entweder schüchterne Muttersöhnchen, alberne Nerds oder verlebte Draufgänger. Die munter dreinblickenden Muttersöhnchen sind am besten gekleidet. Meine Mutter hätte sich indes sicherlich gefreut, wenn ich zu ihr und Vater in die City gezogen wäre. Ich habe aber lieber unserem alten Siedlungshaus in Lechenich westlich von Köln den Vorzug gegeben. Nach einem überraschenden und recht ansehnlichen Lottogewinn im immerhin unteren sechsstelligen Bereich hatten meine Eltern nämlich beschlossen, ihr Häuschen auf dem Land für eine Eigentumswohnung in der Stadt zu verlassen. Als ich anbot, das Haus in Schuss zu halten, waren sie heilfroh, den Familiensitz weder vermieten noch verkaufen zu müssen.

Heute würde ich bei dem Speed-Dating hoffentlich eine neue Weggefährtin finden. Die jungen Frauen kommen und die sieben einsamen Herzen neben mir werden nervös. Es sind nur vier Damen, das bedeutet, vier von uns Verlierern würden rein rechnerisch leer ausgehen.

Der Veranstalter stellt sich als Tom vor, erklärt noch einmal die Regeln und die Nerds neben mir machen sich eifrig Notizen: Bei übereinstimmender Sympathie würden gegen eine Gebühr von jeweils 79 Euro die Kontaktdaten ausgetauscht werden. Mögen die Spiele beginnen.

Mir fällt sie sofort auf, weil sich ihr sonniges Lächeln von dem der anderen abhebt. Auf dem Herz, das auf ihrem modischen Oberteil klebt, steht Esther O.

 

„Hallo Estero“, scherze ich und sie muss ehrlich schmunzeln.

Ihre blauen Augen funkeln mich verschmitzt an und entpuppen sich als atemberaubender Kontrast zu ihren kurzen dunkelbraunen Haaren, die sie modisch frech frisiert hat. Noch mehr aber berührt mich die zarte Klangfarbe ihrer hellen Stimme.

Ich erfahre, dass sie so ungefähr Ende 20, Anfang 30 sei und als Erzieherin in einer Kölner Kita mit kirchlichem Träger arbeite. Halleluja.

Ich erzähle ihr von mir. Wir sind uns auf Anhieb sympathisch.

Die zehn Minuten vergehen wie im Flug und Tom läutet ein Glöckchen als Signal zum Weiterziehen. Ich habe aber nur noch Augen für Esther und schaue schnell weg, wenn sich unsere Blicke „zufällig“ treffen.

Was mir die anderen Frauen erzählen, höre ich überhaupt nicht. Das Spektakel ist vorbei und Tom erklärt zum dritten Mal, dass wir bis Montagabend Zeit haben würden, einen Sympathietreffer bei ihm zu melden. Bei Übereinstimmung seien schließlich 79 Euro für die Kontaktdaten fällig.

Esther unterhält sich noch mit einer Bedienung. Ich stehe extra langsam auf und ziehe meine Jacke umständlich an, damit ich Esther nach draußen begleiten kann. Dann werde ich aber jäh von einem dieser Single-Deppen angequatscht, der mich fragt, ob ich noch Lust hätte, einen saufen zu gehen.

Genervt lehne ich ab mit der ehrlichen Begründung, gleich noch einen Termin zu haben. Ich sehe, dass Esther das Café verlässt. Ohne mich. Ich schaue auf die Uhr. In 20 Minuten beginnt die Vorstellung von Hair. Holger hatte mir vorab berichtet, bei dieser selbst für Köln skandalösen Gastinszenierung reite eine nackte Frau auf einem Shetlandpony über die Bühne. Noch ein Grund mehr für mich, die Show anzusehen. Ich habe nämlich schon lange kein Shetlandpony mehr gesehen.

Ich sitze im Theatersaal und der Platz neben mir ist frei, obwohl die Veranstaltung ausverkauft ist. Auf den hölzernen Rand der gepolsterten Rückenlehne ist ein kleines Messingschild angeschraubt, auf dem „Stuhlpatin E. Osterfeld“ eingraviert ist. Das Programmheft verrät mir, man könne für 120 Euro im Jahr eine Stuhlpatenschaft erwerben und erhalte dafür exklusive Vorzugstickets für eine Premiere oder Dernière mit Gratisgarderobe inklusive Pausensekt. Das Saallicht verdunkelt sich und die Stuhlpatin scheint offenbar verhindert zu sein. Wahrscheinlich hängt sie auf der Toilette fest. Erst als das Musicalorchester rockige Beats fabriziert, nimmt eine Frau neben mir Platz. Die Inszenierung ist wirklich witzig und das Lachen neben mir kommt mir bekannt vor. Ich habe plötzlich keine Augen mehr für das Shetlandpony, das gerade auf der Bühne samt nackter Reiterin erscheint. Esther sitzt neben mir. Ich versinke in meinem Sitz und überlege die ganze Zeit gezielte Inhalte für ein intelligentes Pausengespräch. Ich könnte mich aber auch alternativ vor dem Aufleuchten des Saallichtes in den Orchestergraben stürzen.

Die Pause beginnt und ich studiere angestrengt das Programmheft, das ich mir vors Gesicht halte. „Na, Brille vergessen?“ Esther boxt mich frech auf den Oberarm. Ich lasse das Faltblatt fallen und lache gespielt überrascht: „Esther! Lange nicht mehr gesehen.“

„Ich habe dich gleich an deiner Lache erkannt“, erwidert sie und in ihren Backen entstehen diese süßen winzigen Lachgrübchen.

Mir fehlen die Worte. Ich deute auf das Schild an ihrer Rückenlehne. „Jetzt weiß ich, wie du mit vollem Namen heißt. Frau Osterfeld. Oder bist du gar keine Stuhlpatin?“

„Doch, seit zwei Jahren. Seit ich mit meinem Ex Marco aber nicht mehr zusammen bin, machen die Theaterbesuche weniger Spaß.“

Ich werde mutig und höre mich sagen „Naja, eigentlich könnten wir uns die 79 Euro vom Speed-Dating sparen und gleich unsere Nummern austauschen.“

„Lass uns das bei einem Gläschen Sekt diskutieren“, lächelt sie mich an und läuft in das Foyer. Mir wird heiß und ich habe das Gefühl, in meinem Bauch seien tausende Kokons mit Schmetterlingen geplatzt, die nun schwerelos durch mein Innerstes Richtung Herz und Verstand flattern.

Beim Sektschlürfen haben wir nur Augen für uns. Während des zweiten Teils sitzen wir etwas enger aneinander und bei dem finalen Hit „Let the Sunshine in“ streife ich umständlich und ungelenk ihre Hand. Standing Ovations. Beim Schlussapplaus sehe ich dann auch die nackte Frau auf dem Pony.

Es ist Laura. Meine Ex aus Hamburg. So wurde aus der Möchtegern Miss Tagesschau eine Miss Tittenschau. Ich bin nur kurz verwirrt, klatsche aber einsam weiter, selbst als alle anderen schon längst den Saal verlassen haben. Nicht, dass ich noch an Laura hängen würde. Ich frage mich nur, was ihr neuer Freund Lukas davon hält, dass sie sich vor so vielen fremden Menschen derart hängen lasst.

„Komm jetzt, so großartig war die Show auch wieder nicht“, feixt Esther fröhlich und wir begeben uns zur Garderobe.

Dort helfe ich Esther in ihren Mantel. Ihre Haare streifen meine Nase, mit ihrem herrlichen Duft inhaliere ich alles Glück dieser Welt ein. Wir gehen noch am Rheinufer spazieren. Ich bin selig und aufgeregt zugleich. Selbst die langgezogenen Containerschiffe erscheinen mir romantisch, wie sie wie verliebte Wale den Rhein mit weichen Wellen Richtung Nordsee durchpflügen.

Wir stellen fest, dass Esthers Bahn aufgrund einer Signalstörung ausfällt. Ohne Hintergedanken biete ich ihr an, sie nach Hause zu fahren.

Vor ihrer Wohnung angekommen, steigt sie nicht aus und wir unterhalten uns noch zwei Stunden über Gott und die Welt. Schließlich fällt ihr Blick auf die Uhr und ich bin enttäuscht, weil ich merke, dass sie gehen möchte. Sie steigt aus, aber bevor sie die Tür zuschlagen kann, rufe ich panisch: „Halt, wir haben vergessen, unsere Nummern auszutauschen.“

Sie nimmt einen Zettel, notiert Zahlen darauf, beugt sich in den Wagen und während sie ihn in meine Hand drückt, gibt sie mir einen scheuen Kuss auf den Mund. Noch ehe ich reagieren kann, ist sie im Treppenhaus verschwunden.

Noch in der gleichen Nacht rufe ich sie an. Gut, es ist zwei Uhr in der Früh’, aber ich glaube, Esther hat sich über den Anruf gefreut, auch wenn sie ihn nicht entgegengenommen hat.

Am nächsten Morgen habe ich eine Nachricht von ihr auf dem Handy, in der sie fragt, ob ich nicht Lust hätte, mit ihr Essen zu gehen, jetzt da wir uns gleich zwei Mal die 79 Euro sparen.

Es wird ein wunderbarer Abend.

Nach zwei Monaten zieht sie zu mir. Ich bin der glücklichste Mensch der Welt und hätte nie geglaubt, dass eine Stuhlpatin zur Partnerin werden kann.

Flupp!

Herbst 2019. Esther hat es sehr eilig. Nicht etwa, weil sie schon Weihnachtsgeschenke besorgen möchte, sie muss vielmehr dringend zum Friseur. Am heutigen Nachmittag hat sie ein Vorstellungsgespräch bei der Stadt Köln. Im Frühjahr 2020 soll die größte Kita Kölns mit sage und schreibe sechzehn Gruppen eröffnet werden. Für dieses überdachte Freiwildgehege wird eine neue Leitung gesucht und Esther hat sich beworben. Nun wird sie sich fein machen.

Mein Kumpel Holger ist extra vorbeigekommen, damit wir dieses durchdramatisierte Schauspiel gemeinsam wie Statler und Waldorf von der Muppet Show vom Sofa herab mit kantigen Zwischenrufen kommentieren können.

„Wie wollt ihr diese sechzehn Gruppen nennen?“, möchte ich mit gespielter Neugierde wissen.

Esther ignoriert mich.

Holger trinkt einen Schluck aus der Bierflasche, grübelt kurz, ehe sich sein Gesicht erhellt. „Die Gruppen heißen bestimmt Schmetterlinge 1–8, Bären 1–7 und die Krippenkinder Teppichratten“, doziert er. „Oder werden, didaktisch sinnvoll, die wissenschaftlich korrekten lateinischen Namen gewählt, wie Smerinthus ocellata oder Ursus arctos?“

Wir lachen und prosten uns zu. Esther zeigt uns einen Vogel. Mit dem Mittelfinger.

Das scheint Holger zu motivieren. Er fabuliert weiter. „Es wäre doch kreativ, die Kids nicht in drollige Tiergruppen einzuteilen, sondern nach den Stellungen, mit denen sie neun Monate vorher gezeugt worden waren. Da gäbe es dann die frommen Missionare, die hechelnden Hunde, die anschmiegsamen Löffelchen, die peitschenden Reiter oder die alten 69er.“ Nur kurz hält er inne, um schließlich sinnlos weiter zu sinnieren. „Man könnte die Gruppen aus pädagogischen Gründen auch grundehrlich danach einteilen, wie sich die Kinder primär verhalten. Dann gäbe es die Krippengruppen Heulsusen, Hosenscheißer, Deppen, Volldeppen, ab drei Jahren die Nervensägen, Arschlöcher, Psychopathen und die Vorschulgruppen heißen Terroristen, Tyrannen, Blutsauger und Dämonen.“

Holger prostet sich selbst zufrieden zu, doch ehe er sich einen Schluck gönnen kann, hat ihm Esther die Flasche aus der Hand gerissen und zeigt mit strenger Miene in Richtung Ausgang.

„Raus hier. Auf deine erbaulichen Kommentare kann ich verzichten.“

Schuldbewusst zieht Holger seinen Kopf ein und dann von dannen.

Danach bin ich an der Reihe. „Ben, bis ich vom Friseur wieder da bin, könntest du, anstatt hier faul herumzusitzen, bitte wenigstens Wohnzimmer und Schlafzimmer durchsaugen? Ich schaffe das alles sonst nicht.“

„Geht klar“, nicke ich beschwichtigend und warte aber, bis die Haustür ins Schloss fällt.

Ich hole den Staubsauger und ärgere mich bereits beim ersten Aufheulen des Motors über sein störrisches Eigenleben. Wie ein sturer Esel verweigert er mir die Gefolgschaft, verheddert sich im eigenen Kabel und kippt beim kleinsten Ruck wie eine schwere Schildkröte auf seinen Rückenpanzer aus Plastik.

Hinter der Fußbodenleiste, direkt neben der Balkontür, schrecke ich ein Heer von Ameisen auf. Ich habe keine Ahnung, wie die Königin dieser hilfreichen Insekten den Beschluss fassen konnte, ausgerechnet hier, zwischen Balkontür und Bodenleiste, eine verdeckte, aber nicht minder frequentierte Ameisenstraße ganz ohne Maut anzulegen. Ohne groß nachzudenken, ernenne ich den Staubsauger zum Ameisenbären. Ich bin kein Tierquäler. Im Fernsehen haben sie gezeigt, dass Insekten den flinken Einsaugvorgang in den Staubsaugerbeutel durch das Rohr nicht überleben. Ein schneller, schmerzloser Tod. Besser als jede Chemiekeule. Esther wird stolz auf mich sein. Ich komme mir vor wie ein Kammerjäger, nein, ein Ghostbuster, der winzige Plagegeister vernichtet.

Der Staubsauger und ich kommen schließlich im Schlafzimmer an. Dort stoße ich beim Saugen an den Kleiderständer, wo Esther ihr Outfit für das Bewerbungsgespräch platziert hat. Die Strumpfhose gleitet sanft zu Boden. Es ist eine sehr teure Strumpfhose. Bekommt keine Laufmaschen. Glänzend und doch matt, nicht kratzend, aber sehr dehnbar. Ich weiß das so genau, weil ich sie heimlich anprobiert habe, als Esther heute Morgen unter der Dusche war.

Nun liegt das gute Stück auf dem Boden. Ich bin zu faul, mich zu bücken und schiele auf das Staubsaugerrohr, das wie eine glänzende Lanze in meiner Hand liegt. Bestimmt kann ich die Strumpfhose elegant ansaugen und mit dem Saugstab ritterlich hochheben. Noch während ich mich für diese grandiose Bergungsidee innerlich feiere und den Saugstab einem Schrankenwärter gleich langsam absenke, verschwindet die Strumpfhose mit einem flinken Flupp im Inneren des Saugrüssels. Ich hoffe inständig, dass sie sich innerhalb der ersten Schlauchbiegung verfängt und ich sie so einfach herausfischen kann, aber der Sauger tönt hell ohne hörbaren Widerstand auf gleicher Frequenz weiter. Mist.

Ich trete den Staubsauger genervt aus und öffne den Behälter, um den Beutel griffsicher zu packen. Um mein Gesicht herum verpufft eine Staubwolke. Wusste gar nicht, dass frisch gepresster Staub nicht nur feucht ist, sondern dieselbe Konsistenz und Farbe wie eine graue Seidenstrumpfhose hat. Mit spitzen Fingern durchforste ich die enge Beutelöffnung und werde nach vielen Fehlgriffen endlich fündig: Wie graues Gedärm hängt die Strumpfhose traurig in meiner Hand. Staubdurchtränkt, aber nicht zerrissen. Immerhin.

Da ich keine Schuhbürste zum Reinigen finde, nehme ich eine Drahtbürste zur Hand. Halt, so einfach bekomme ich den Staub nun auch wieder nicht weg. Ich beschließe, die Strumpfhose mit der einen Hand festzuhalten, um sie mit der anderen Hand sozusagen sauber zu saugen. Ich schalte den Sauger ein. Er saugt und zieht die Strumpfhose in das Rohr. Da ich sie festhalte, wird sie hörbar flott im Turbowindkanal sauber, denn es klingt, wie wenn der Zahnarzt Spucke absaugt. Plötzlich klingelt es an der Haustür. Mit einem noch flinkeren Flupp verschwindet die Strumpfhose schon wieder im Inneren. Ich kapituliere.

Genervt öffne ich die Tür. Immerhin kein Staubsaugervertreter, sondern mein Nachbar Rudi. Rudi stammt aus Österreich und ist ein Plagegeist vor dem Herrn.

 

„Servas Ben. Darf ich dich kurz stören?“

„Das tust du bereits“, erwidere ich, doch Rudi drückt sich bereits in den Hausflur.

„Hör mal Ben, ich habe ein sensationelles Angebot für dich. Wir haben jetzt Ende Oktober, das heißt, wir stehen mitten im letzten Quartal.“

„Na und? Du weißt, dass ich nicht spekuliere, höchstens auf Spekulatius und den gibt es bereits seit Ende August.“

„Lass mich ausreden. Mein Schwager Axel hat doch im Sommer diesen Edeka in Linz übernommen. Und jetzt stell’ dir vor, er hat Ende September zu viele Artikel bestellt, die im neuen Quartal aus dem Sortiment müssen.“

„Aha, zu viel bestellt. So wie bei Loriot? Radiergummis und Senf?“

„Na. Es geht um diverse Hygieneartikel. Toilettenpapier, Desinfektionsmittel. Insgesamt acht Europaletten.“

„Und was sollen Esther und ich damit? Unsere Bude tapezieren? Als Mumien verkleidet mit dem Cha-Cha-Charmin-Klopapier-Bären zusammen alle Straßen von Köln nach dem Karneval mit Sagrotan aus dem Kärcher einer kräftigen Grundreinigung unterziehen?“

„Nicht ganz, aber mein Schwager muss das Zeug schleunigst loswerden, weil es Lagerplatz wegnimmt. Ben, bitte, er verscherbelt 80 Zehnerpackungen Klopapier um acht Euro, den Liter Desinfektionsmittel um einen Euro.“

„Also, ich sage mal so. Wir haben jetzt Ende 2019. Sollte es 2020 irgendwann einen Engpass an Klopapier und Desinfektionsmittel geben, würde ich sofort zuschlagen. Aber wie selbst du als Österreicher hören kannst, habe ich eben zwei Mal den Konjunktiv verwendet. Also: Nein. Und jetzt schleich dich.“

Freundlich, aber bestimmt schiebe ich Rudi aus dem Haus raus und gehe zurück ins Schafzimmer.

Dort fische ich die Strumpfhose erneut erfolgreich aus dem Staubbeutel heraus, klopfe sie nur ab und unterziehe sie mit dem Föhn einer umgekehrten Behandlung. Nicht saugen, blasen heißt jetzt das Motto. Die Strumpfhose jedenfalls ist danach ohne Makel und Esther merkt nichts.

April 2020. Zwei Lektionen habe ich gelernt.

Erstens: Wenn dir jemand an der Haustüre skurril wirkende Geschäfte vorschlägt, dann sei mutig und investiere. Ich stehe gerade im fünften Supermarkt und suche händeringend nach Toilettenpapier und Desinfektionsmittel. Rudi, so habe ich gehört, hat mit seinem Schwager von der exorbitanten Gewinnspanne durch die Hamsterkäufe in Italien eine Nudelfabrik gekauft.

Das Zweite, was ich lernen durfte: Ameisen überleben Staubsauger. Erst als Esther die Strumpfhose angezogen hatte, lösten sich nach und nach ihre kräftigen Kiefer aus der Schockstarre, mit der sie sich im Seidenstoff verhakt hatten, um mit ihren scharfen Kauwerkzeugen alsdann einen Generalangriff auf Esthers Beine zu starten.

Das Vorstellungsgespräch soll deshalb eine Katastrophe gewesen sein. Esther hat den Job als Leiterin der größten Kita von Köln trotzdem bekommen. Der Personalausschuss bestand überwiegend aus Verfechtern der Waldorf-Pädagogik. Man habe noch nie jemanden derart leidenschaftlich und ehrlich bewegt seinen Lebenslauf tanzen sehen. Esther soll schmerzgeplagt derart durch den Wind gewesen sein, dass sie – um die Ameisenattacke zu kaschieren – auch noch sämtliche schrägen Vorschläge von Holgers Gruppennamen für die neue Einrichtung in den Raum geworfen hat. Der zuständige Dezernent soll sehr angetan gewesen sein. Jedenfalls hört man es ab und zu vom Hof der Kita laut erschallen: „Die Volldeppen und Hosenscheißer gehen nach dem Freispiel in den Turnraum.“