Was ist Glaube?

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Aus der Reihe: Theologische Studien NF #3
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Theologische Studien

Neue Folge

herausgegeben von

Thomas Schlag, Reiner Anselm, Jörg Frey, Philipp Stoellger

Die Theologischen Studien, Neue Folge, stellen aktuelle öffentlichkeits- und gesellschaftsrelevante Themen auf dem Stand der gegenwärtigen theologischen Fachdebatte profiliert dar. Dazu nehmen führende Vertreterinnen und Vertreter der unterschiedlichen Disziplinen – von der Exegese über die Kirchengeschichte bis hin zu Systematischer und Praktischer Theologie – die Erkenntnisse ihrer Disziplin auf und beziehen sie auf eine spezifische, gegenwartsbezogene Fragestellung. Ziel ist es, einer theologisch interessierten Leserschaft auf anspruchsvollem und zugleich verständlichem Niveau den Beitrag aktueller Fachwissenschaft zur theologischen Gegenwartsdeutung vor Augen zu führen.

Theologische Studien NF 3 – 2011

Benjamin Schliesser

Was ist Glaube?

Paulinische Perspektiven

Theologischer Verlag Zürich

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Ulrich Neuenschwander-Stiftung

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlaggestaltung: Simone Ackermann, Zürich

ISBN 978-3-290-17803-1 (Buch)

ISBN 978-3-290-17660-0 (E-Book)

|XX| Seitenzahlen des E-Books verweisen auf die gedruckte Ausgabe.

© 2011 Theologischer Verlag Zürich

www.tvz-verlag.ch

Alle Rechte vorbehalten

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Inhaltsverzeichnis

Titelei

Inhaltsverzeichnis

1. Was ist Glaube?*

Einführung

Systematisch-theologische Einordnung

Forschungsgeschichte

Exegese

Verstehenshorizont

2. Glaube als Identitätskriterium einer Gemeinschaft

Forschungsgeschichte

Exegese

Verstehenshorizont

3. Glaube als »göttliche Geschehenswirklichkeit«

Forschungsgeschichte

Exegese

Verstehenshorizont

4. Glaube und Vernunft

Glaube als Fürwahrhalten und Überzeugtsein

Forschungsgeschichte

Exegese

Verstehenshorizont

Glaube als Wissen und Bekennen

Forschungsgeschichte

Exegese

Verstehenshorizont

5. Glaube und Wille

Glaube als Entscheidung und Gehorsam

Forschungsgeschichte

Exegese

Verstehenshorizont

Glaube als »neuer Gehorsam« und Liebe

Forschungsgeschichte

Exegese

Verstehenshorizont

6. Glaube und Gefühl

Glaube als »mystisches« Erleben

Forschungsgeschichte

Exegese

Verstehenshorizont

Glaube als Vertrauen und Gewissheit

Forschungsgeschichte

Exegese

Verstehenshorizont

Schlussreflexion

Literaturverzeichnis

Fußnoten

Seitenverzeichnis

|9| 1. Was ist Glaube?*
Einführung

Man kann »im Neuen Testament geradezu von einer Entdeckung des Glaubens sprechen. Keine andere jüdische oder hellenistische Schrift vor oder nach dem Neuen Testament verwendet das Wortfeld ›glauben‹ auch nur annähernd so häufig. In diesem Buch trat das Wortfeld des Glaubens in den Mittelpunkt, weil offenbar das Phänomen des Glaubens auf eine vorher nicht da gewesene Art entdeckt worden war.«1 So der Zürcher Neutestamentler Hans Weder in seinem Vortrag »Die Entdeckung des Glaubens im Neuen Testament« vor der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Man kann sogar zu Recht von einer »explosionsartigen Steigerung«2 des Redens vom Glauben im Neuen Testament sprechen. Verb (pisteuein) und Nomen (pistis) begegnen je 243-mal.3 Diese statistische Häufung ist beachtlich, und wenn sie auch per se noch keine theologische Aussagekraft besitzt, ist sie doch Indiz dafür, dass »Glaube« »im Neuen Testament, und zwar in allen seinen Schichten, […] zum schlechthin zentralen Begriff«4 und »zur beherrschenden Bezeichnung«5 des Verhältnisses des Menschen zu Gott geworden ist. Gerhard Ebeling stellt fest: »Würde man aus dem neutestamentlichen Gesamtvokabular diejenigen Wörter zusammenstellen, die trotz des von Schrift zu Schrift wechselnden Sprachbefundes allen Schichten des neutestamentlichen Schrifttums als tragende Begriffe angehören, so würde dabei pisteuein usw. mit an erster Stelle stehen.«6

Auch die Briefe des Paulus fügen sich in diesen Befund ein, nur dass bei ihm das Übergewicht des Nomens sogleich ins Auge fällt: Das Verbum pisteuein |10| verwendet er 42-mal, das Nomen pistis dagegen 91-mal.7 Die Exegese einer Auswahl der pistis/pisteuein-Belege wird zeigen, dass Paulus damit eine wichtige – wenn nicht sogar »die wichtigste«8 – theologische Aussage machte und dass er den Begriff pistis »in den Mittelpunkt der Theologie« stellte.9

Die überragende Bedeutung, die dem Glaubensbegriff in der Geschichte des Christentums zukommt, führt dazu, dass er »überfrachtet« zu werden droht, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen besteht aus linguistischer Perspektive die Gefahr, dass ein unsachgemäßer »Totalitätstransfer«10 vollzogen wird, bei dem die Bedeutungsvielfalt eines Wortes auf die einzelnen Belegstellen übertragen wird. Um den »Glaubensbegriff« des Paulus zu bestimmen, werden – vereinfacht gesagt – die einzelnen Aspekte und Nuancen des Wortes pistis gesammelt und in einem zweiten Schritt wieder auf alle Belege aufgeladen. Das heißt nun nicht, dass im Gegenzug lediglich verschiedene Bedeutungen aneinanderzureihen sind; vielmehr sollen die einzelnen Stellen in ihrem jeweiligen Kontext gehört und ihre Aussageabsicht herausgearbeitet werden.

Ein zweiter Hinweis ist im Blick auf die Bedeutungsgeschichte des Glaubens angebracht. Die Tatsache, dass die Texte des Paulus die Geschichte der westlichen Kultur und Sprache entscheidend geprägt haben, kann dazu verleiten, die verschiedenen Stationen der semantischen Geschichte des Glaubens auf die Belege bei Paulus zu übertragen. Der heutige, religiös-kirchlich geläufige Begriff des Glaubens, der ja Teil der paulinischen Wirkungsgeschichte ist, gleicht »einem Esel, dem man einen Möbelwagen aufgeladen hat und noch immer wieder auflädt. […] ›Glaube‹ wurde identisch mit ›Christentum‹, ja mit ›Religion‹ überhaupt.«11 Hinzu kommen alltagssprachlich vertraute Verwendungsweisen und Vorverständnisse von »glauben«, durch welche die Umrisse des Bedeutungsfeldes im Laufe der Zeit immer verschwommener und durchlässiger wurden. Diese finden in den folgenden sprachlichen Wendungen ihren Ausdruck12:|11|

 

 »ich glaube, dass … bzw. etwas« (doxastisches Fürwahrhalten)

 »ich glaube jemandem« (fiduziales Vertrauenschenken)

 »ich glaube an jemanden« (personales Sichverlassen)

Um ein sachgemäßes Verständnis vom Glaubensbegriff des Paulus zu gewinnen, kann man nicht von den religiös und alltagssprachlich geläufigen Verwendungstypen ausgehen. Die Fragen »Was heißt Glaube?« und »Was heißt Glaube bei Paulus?« sind methodisch auseinanderzuhalten. Und dennoch gehören beide Fragen zusammen, eben weil die Glaubenstexte des Völkerapostels mit dem Glaubensverständnis und der Glaubensgeschichte unserer Kultur aufs Engste verknüpft sind, ja »zur Grundinformation der menschlichen Geschichte« gehören.13

Die Geschichte (der Erforschung) des Glaubensbegriffes hat nun aber neben einer Überfrachtung auch eine unpaulinische Reduktion auf eine subjektive Haltung bzw. individuelle Disposition zur Folge gehabt. Daher wird (in Kapitel 2) die soziologische bzw. ekklesiologische Dimension als eine erste grundlegende Perspektive auf die paulinische Auffassung vom Glauben hervorgehoben: Glaube ist konstitutiv für die christliche Identität und Kriterium für die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde.

Mit der Betonung der überindividuellen Dimension der paulinischen Rede vom Glauben kommt (in Kapitel 3) eine weitere und bislang in der Exegese recht wenig beachtete Perspektive in den Blick. Pistis ist bei Paulus auch eine von außen hereinbrechende und durch die Christusepiphanie begründete »göttliche Geschehenswirklichkeit«. Dieses Kapitel löst zugleich die wichtige Forderung ein, »methodisch von der christologisch-heilsgesch[ichtlichen] Dimension des G[laubens] auszugehen und erst dann dessen immer soteriologisch orientierte anthropologische Aspekte thematisch zu machen«.14

Das Ineinander von christologisch-heilsgeschichtlicher und anthropologischer Betrachtungsweise bleibt auch in den folgenden Argumentationsgängen (Kapitel 4–6) zentral, in welchen die paulinische Perspektive auf die Subjektivität des Glaubens zu erörtern ist. Wenn – wie auch hier vorausgesetzt wird – der Glaube »daseinsbestimmende Bedeutung für den Menschen hat […], so stellt sich die Frage, wie solcher […] Glaube anthropologisch zu verorten ist.«15 Es bietet sich an, für diese Frage der Anthropologie bzw. der Subjektivität des Glaubens die geläufige Dreigliedrigkeit der platonischen Seelenlehre zugrunde zu legen, die seit Kant und Schleiermacher weithin anerkannt |12| ist und davon ausgeht, dass im Menschen drei Fähigkeiten oder Antriebskräfte zusammenwirken: Vernunft, Wille und Gefühl. Mag sich Paulus auch an keiner Stelle explizit über das Verhältnis der menschlichen Seelenvermögen zum Glauben geäußert haben, so kann er dennoch als Urheber einer kulturell wie religiös äußerst bedeutsamen und vielfältigen Wirkungsgeschichte gelten. Wie kein anderes literarisches Erzeugnis haben seine Briefe die Auseinandersetzung mit den Problemkreisen »Glaube und Vernunft«, »Glaube und Wille« und »Glaube und Gefühl« hervorgerufen und geformt. Aus diesem Grund ist diesen drei Komplexen jeweils eine Exposition der Fragestellung in systematisch-theologischer Absicht vorangestellt. Freilich wird schnell deutlich, dass sich Paulus’ Rede vom Glauben gegen klare Abgrenzungen sträubt: Der Glaube geht in keiner der menschlichen Erkenntnisweisen auf; er findet nicht »getrennte Haushalte« im Innern des Menschen vor, sondern durchdringt Vernunft, Wille und Gefühl. Und er ist nicht als Summe der drei Erkenntnisweisen zureichend zu bestimmen, sondern weist aufgrund seines Offenbarungscharakters wesenhaft über diese hinaus.

Innerhalb der anthropologischen Betrachtungsweise des Glaubens verdient der Aspekt Beachtung, dass Glaube nicht aus sich selbst heraus existieren kann, sondern auf ein Gegenüber außerhalb seiner selbst angewiesen ist, das ihn begründet und erhält. Noch mehr: Der Glaube setzt das Individuum aus sich selbst heraus und schafft ein neues Beziehungsgefüge: »Nicht der Glaube gehört zum christlichen Individuum, sondern das christliche Individuum gehört zum Glauben.«16 Insofern ist dem Glaubensvorgang gar eine »ekstatische[ ] Struktur« eigen.17 Doch darf der externe und »ekstatische« Charakter des Glaubens wiederum nicht so verstanden werden, als sei er »seelenlos«; die Frage nach seinem Ort und Halt im Innenleben des Menschen – in seinem Denken, seinem Willen, seinem Gefühl – behält seine Berechtigung.

Der Begriff »Glaube« nimmt eine Reihe von einzelnen Bedeutungskomponenten in sich auf, die den menschlichen Seelenvermögen im Sinne einer ersten Annäherung zugeordnet werden können: »Glaube als Fürwahrhalten und Überzeugtsein«, »Glaube als Wissen und Bekennen« (Vernunft), »Glaube als Entscheidung und Gehorsam«, »Glaube als ›neuer Gehorsam‹ und Liebe« (Wille), »Glaube als ›mystisches‹ Erleben«, »Glaube als Vertrauen und Gewissheit« (Gefühl). Da zwischen diesen einzelnen Dimensionen ein innerer Zusammenhang besteht, lässt sich mitunter nicht klar abgrenzen, welche von ihnen den Ton trägt.

|13| Systematisch-theologische Einordnung

Zur Frage, wie sich eine exegetische Untersuchung zur systematischen Theologie verhalte, bemerkte Adolf Schlatter (1852–1938) lapidar: »Einer Geschichte der neutestamentlichen Begriffe, welche dieselben nur statistisch benennt und chronologisch einordnet, fehlt der Kopf.« Wahrnehmung des Tatbestandes und begriffliche Durchdringung sind im »reellen Erkennen […] nicht durch eine Scheidewand getrennt, sondern bedingen sich gegenseitig und kommen nur in und mit einander zur Vollendung«.18 Anders ausgedrückt gibt es zwei Versuchungen der Exegese: »de[n] Rückzug in die rein historische Arbeit und die Flucht in die Systematik«.19 Daher sollen in der vorliegenden exegetischen Studie die sich eröffnenden Problemhorizonte knapp in ihrem systematisch-theologischen Zusammenhang eingeordnet und bewertet werden. In der systematisch-theologischen Diskussion kann aus der Fülle der theologischen (und religionsphilosophischen) Literatur lediglich eine Auswahl von (älteren und neueren) Denkansätzen einbezogen werden. Exemplarisch seien als Gesprächspartner genannt: Augustin (354–430), Martin Luther (1483–1546), Johannes Calvin (1509–1564), Friedrich Schleiermacher (1768–1834), Martin Buber (1878–1965) und Karl Barth (1886–1968). Von den neueren Entwürfen finden insbesondere die von Gerhard Ebeling (1912–2001), Wolfhart Pannenberg (*1928), Eberhard Jüngel (*1934) und Wilfried Härle (*1941) Berücksichtigung.

Die Klärung des Glaubensbegriffs ist und bleibt eine Herausforderung für die christliche Theologie und ein Thema im ökumenischen Gespräch. »Unterschiedliche Formen von Frömmigkeit scheinen verschiedenen Glaubensweisen zu entsprechen, und verschiedene Theologietypen entwickelten unterschiedliche Auffassungen vom Glauben.«20 Bedenkenswert ist dabei die Einschätzung eines theologischen Arbeitskreises, »dass der Begriff des Glaubens noch nicht zu derjenigen Klarheit ausgearbeitet ist, die angesichts seiner schlechterdings fundierenden Stellung und Funktion erforderlich ist.«21

Deutlich wurde das Ringen um Klarheit im Kontext der »Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre« des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche. Die dem Konsensdokument vorausgehende fast fünf Jahrhunderte andauernde Kontroverse über die Rechtfertigung kreiste um die Auslegung von Paulusstellen wie Röm 3,28: »Denn wir halten fest: Gerecht |14| wird ein Mensch durch den Glauben, unabhängig von den Taten, die das Gesetz fordert.«22 Luther fügte bekanntermaßen das Wort »allein« hinzu: Der Mensch wird gerecht »allein durch Glauben«. Dass Luther daraus keineswegs den Schluss zog, dass die Glaubenden ohne Gehorsam und ohne gute Werke selig werden, zeigt in aller Deutlichkeit ein früher Brief an seinen engen Freund Georg Spalatin aus dem Jahr 1516: »Denn wir werden nicht, wie Aristoteles meint, dadurch gerecht, dass wir das Rechte tun, es sei denn auf heuchlerische Weise, sondern dadurch, dass wir […] Gerechte werden und sind, tun wir das Rechte. Zuerst ist es notwendig, dass die Person geändert wird, dann [folgen] die Werke.«23 Die gleichen Gedanken veröffentlichte er auch in seinem »Sermon von den guten Werken« und in der Programmschrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« (1520).

In der damaligen Auseinandersetzung wurde diese Position allerdings nicht verstanden, und noch Jahrzehnte später verwarf man die Formel »allein durch Glauben«. Glaube ist nach Meinung der Väter des Trienter Konzils die Zustimmung zur Lehre der Kirche (Denzinger/Schönmetzer, Nr. 1526) und steht als »Fundament und Wurzel« (fundamentum et radix) am Beginn der Rechtfertigung (DS 1532). Ohne Hoffnung und Liebe ist er allerdings defizitär und führt nicht zu einer völligen Vereinigung mit Christus (DS 1531). Erst durch die Taufe erfolgt die eigentliche Rechtfertigung (DS 1528f.). Vor diesem Hintergrund erst kann der Fortschritt des Dialogs historisch und theologisch angemessen gewürdigt werden. Die Gemeinsame Erklärung kommt nämlich zum die beiden Konfessionen verbindenden Bekenntnis, »dass der Sünder durch den Glauben an das Heilshandeln Gottes in Christus gerechtfertigt wird«; Glaube wird hier verstanden als das Vertrauen »auf Gottes gnädige Verheißung«. Dieser vertrauende Glaube bedarf keiner Ergänzung, denn »alles, was im Menschen dem freien Geschenk des Glaubens vorausgeht und nachfolgt, ist nicht Grund der Rechtfertigung und verdient sie nicht« (GE 25). Die Beurteilung der Konsensformel zur »Rechtfertigung durch Glauben und aus Gnade« klafft auseinander: Anerkennen die einen »ein bemerkenswert hohes Maß an Übereinstimmung«24 und (trotz des fehlenden Stichworts »allein«) eine sachliche Übereinstimmung mit dem reformatorischen sola fide,25 notieren andere gravierende Differenzen zwischen dem lutherischen und katholischen Glaubensverständnis.26

|15| Es ist wichtig zu sehen, dass die mühsam erarbeiteten ökumenischen Erträge der »lehramtlichen Instanzen« maßgeblich auf akademischer Ebene vorbereitet wurden, wo seit dem Zweiten Vatikanum die methodischen Differenzen zwischen katholischer und evangelischer Exegese weithin nivelliert sind. Im Fall von Röm 3,28 betonen katholische Exegeten fast einhellig, dass das ganze Gewicht des Satzes auf dem Ausdruck »durch den Glauben« liege;27 »die deutsche Übersetzung ›allein durch den Glauben‹ ist ganz exakt im Sinne des Paulus.«28

Forschungsgeschichte

Wenn unter den jeweiligen Dimensionen des Glaubens zunächst einige theologie- und forschungsgeschichtliche Perspektiven anzeigt werden,29 hat dies zweierlei Gründe:

Zum einen erweist sich darin die Kontingenz jeglichen exegetischen Arbeitens, die individuelle Abhängigkeit von übergeordneten Notwendigkeiten. Ebenso wie Albert Schweitzers berühmte Untersuchung zum »Leben Jesu« zeigte, dass sich die Entwürfe der Jesus-Bilder vornehmlich aus Projektionen von Idealen des jeweiligen zeitgeschichtlichen und kulturellen Kontextes und der jeweiligen Forscherpersönlichkeit zusammensetzen, so drängt sich analog beim paulinischen Glaubensverständnis der Eindruck auf, dass auch hier die geistige Atmosphäre einer Epoche und die individuelle Frömmigkeit die Exegese der paulinischen Stellen zum Glauben prägt. Positiv gewendet könnte man sagen, dass jeder Entwurf für sich ein Spezifikum der paulinischen pistis einschärft und darin eine particula veri formuliert.

 

Das solchermaßen ideologiekritische Interesse der forschungsgeschichtlichen Einordnung wird ergänzt durch eine erkenntnistheoretische Absicht: In der Mehrzahl der Forschungspositionen kommt explizit oder implizit die spezifische Fragestruktur in den Blick, die der Frage nach dem Wesen des Glaubens innewohnt. Sie gehört in den Umkreis derjenigen Fragen, die den Menschen in seinem Menschsein selbst angehen. Man könnte sagen, dass sich in dieser Frage die individuelle Abhängigkeit von übergeordneten Bedürfnissen ausdrückt und dass zum Einblick in diese Frage nicht bloß Wissensdurst |16| oder historisches Interesse, sondern »ein bestimmter Einsatz von mir gefordert ist, wenn ich mich auf sie einlasse«30.

Blickt man auf die Anfänge der historischen Erforschung des paulinischen Glaubensbegriffs, sind die Arbeiten zweier Exegeten maßgeblich und wegweisend: Adolf Schlatters Monographie »Der Glaube im Neuen Testament« und Rudolf Bultmanns Artikel im »Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament« (1955). Im Jahr 1882 ging dem Berner Privatdozenten Adolf Schlatter die Mitteilung der Haager Gesellschaft zur Verteidigung der christlichen Religion zu, dass sie einen Preis für eine Abhandlung zum Thema »Glaube und Glauben im Neuen Testament« ausgeschrieben habe. Im Rückblick erinnert sich Schlatter, er habe diese Nachricht mit dem Gedanken gelesen, »auf die hier gestellte Frage dürfe nicht der Schein fallen, dass sie unbeantwortbar sei; eine Theologie und Christenheit, die nicht mehr wisse, was das Neue Testament Glaube nenne, wäre tot«.31 Die sodann mit dem ersten Preis ausgezeichnete Arbeit erfuhr insgesamt sechs Auflagen und prägt die exegetische Diskussion bis heute – »angesichts der Kurzlebigkeit theologischer Produktion eine erstaunliche Sache«32. Man kann der Einschätzung Peter Stuhlmachers durchaus zustimmen, dass Schlatters Untersuchung in ihrer »systematischen Geschlossenheit und historischen Präzision […] bis heute unübertroffen« ist.33

Einzig Rudolf Bultmanns Darstellung des neutestamentlichen Glaubensbegriffs kann sich mit der Schlatters »im Niveau der Argumentation und der Treffsicherheit der Formulierung« messen.34 Bultmann hat sich vornehmlich in seiner »Theologie des Neuen Testaments« (1948–1955) und im erwähnten Wörterbuchartikel (1955), aber auch in zahlreichen Aufsätzen mit dem Thema »Glauben« auseinandergesetzt. Seine knappen und in schlichter Sprache abgefassten, aber keineswegs einfach zu verstehenden Ausführungen weisen bemerkenswerte und überraschende inhaltliche Analogien zu Schlatters Erstlingswerk auf.