Weißer Kakadu auf meinem Fenster

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Weißer Kakadu auf meinem Fenster
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Beate Eva Hutter

Weißer Kakadu auf meinem Fenster

Eine autobiografische Erzählung

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Wann hat alles angefangen?

Nachwort

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelfoto: Sulphur-crested Cockatoo, Cacatua

galerita, 30 years old © Eric Isselée

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Vorwort

Dies ist ein Teil meiner Lebensgeschichte. Meine Geschichte, von der ich immer glaubte, sie sei so banal. Eine Lebensgeschichte wie die von Millionen anderen Menschen auch. Immer dachte ich, ich sei nichts Besonderes. Ich könne nicht mithalten. Mit den Weltenbummlern. Mit den interessanten Berufen. Mit den Künstlern, mit Menschen, die etwas auf die Beine stellten. Mit dem Ziel, neues zu kreieren. Mit denen, die neue Wege beschritten, um ihren Mitmenschen eine andere Perspektive aufzuzeigen. Oder mit Jenen die die Welt ein Stück besser machen. Heute weiß ich, dass ich von Anfang an gesegnet war mit diesen Gaben, die all dies ermöglichen. Dass ich geboren wurde als hochsensitiver Mensch. Das empfand ich die meiste Zeit meines Lebens mehr als Belastung, denn als Bereicherung. Weil ich mich dadurch wie ein Außerirdischer fühlte. Mit meinem Mitgefühl, meinem Wunsch, helfen zu wollen. Und dem Gefühl der Ohnmacht, weil ich mir paradoxerweise ja selbst nicht helfen konnte. In diesem Labyrinth an intensiven Emotionen. Indem ich so oft den Ausgang nicht sah.

Als Kind der Babyboomergeneration verbrachte ich eine relativ unbeschwerte Kindheit, doch keineswegs eine schmerzfreie. Aufgezogen von Eltern, die ihr Allerbestes gaben und die selbst ihre schwere Geschichte mit sich herumschleppten. Als hochsensibles Kind übernahm ich unbewusst, aber äußerst bereitwillig einen Teil der Last. In meinen Jugendjahren kam ich meinem wahren Selbst schon etwas näher. Rebellion war kein Fremdwort für mich und um meine Grenzen zu erfahren, trieb ich die Dinge gern und oft auf die Spitze. Doch immer wieder landete ich am Boden von dem, was mein Umfeld mir als Realität vermittelte. Bald glaubte ich, mein Heil nur in einem finden zu können: in der Anpassung an die Gesellschaft. Ich hatte einen soliden „nine to five“ Job und bemühte mich verzweifelt, so zu denken und zu fühlen wie die meisten meiner Mitmenschen auch. Zumindest wie ich vermutete, dass sie es taten. Nicht selten schätzte ich den Rat Anderer höher ein als mein eigenes Bauchgefühl. Erst als ich immer unglücklicher wurde, beachtete ich meine Intuition. Sie zeigte mir, dass es mehr gab als das materielle Leben. Endlich erfuhr ich in meinem Leben die spirituelle Ebene, von der ich schon als Kind wusste, dass es sie gab. Meine Hochsensitivität ermöglichte mir Zugang zu den verschiedensten Dimensionen der Feinstofflichkeit. Energiearbeit, Körperarbeit.

Doch jedes Ding hat zwei Seiten. Das Dilemma vieler hochsensibler Menschen ist, dass sie selten ausgestattet sind mit Standfestigkeit und Beharrlichkeit. So war auch ich nicht genug geerdet, um ins Vertrauen gehen zu können und all das auch voll und ganz zu leben. Doch das Leben geht oft verwinkelte Wege, um uns mit unserem wahren Sein zu vereinen. Meine Seele, mein hohes Selbst befand es für notwendig, mich mit dramatischen und lebensbedrohlichen Erfahrungen zu konfrontieren. Um mich gänzlich aufzuwecken, um letztendlich mein ganzes Potential zutage zu fördern. Oft muss das Pendel stark in die eine, dann in die andere Richtung ausschlagen um uns in unsere Mitte, unsere Wahrheit zu bringen. Heute weiß ich, kein Leben ist bedeutungslos und banal, jedes Leben will gelebt werden. Jedes Talent, jede Bestimmung sich entfalten. Kein Weg ist umsonst. Es gibt keine Sackgasse, keinen Irrweg, der nicht seinen Zweck erfüllt. Manchmal müssen wir hinabsteigen in unsere eigenen Untiefen, um alsdann gestärkt und erneuert wieder hochgespült zu werden. Letztendlich müssen wir zu unserer Wahrheit stehen und sie auch vor uns selbst und der Welt vertreten. Doch hinter jeder Wirklichkeit, gibt es eine noch größere Wirklichkeit. Einen großen, göttlichen Plan, von dem wir hier auf Erden nur einen Teil erfassen können.

So sah sieht sie also aus. Meine offenbar letzte Nacht auf dieser Erde. „Warum gebt ihr mir eigentlich seit Tagen keine Antwort?“, rief ich innerlich in Richtung Himmel. Doch ich erreichte die Engel seit längerer Zeit nicht mehr. Zumindest nicht auf die Art und Weise wie ich es mir vorstellte und gewohnt war. Als direkte Antwort, die sich in meinem Kopf abzeichnete. „Wenigstens habe ich noch mein Traumland gesehen“, dachte ich. Aber ob es wirklich auch hier zu Ende sein sollte? Ich war auf meiner lange ersehnten Australienreise im Krankenhaus gelandet. Ich klingelte nach der Nachtschwester. „What can I do for you, Sweetie?“ Nach zwei Minuten stand sie mit dieser für Aussies typisch offenen Herzlichkeit im Raum. Ich fragte sie, ob ich ein Telefon haben könnte und rief meine Freundin Susan an. Es war elf Uhr abends und ich kam auf Susan’s Mailbox. „Hi Susan“, stammelte ich. „Bitte kannst du versuchen, mit den Engeln zu sprechen. Ich glaube, für mich gibt es in diesem Körper keine Heilung mehr. Und mir geben sie keine Antwort.“

Dann fielen mir die Augen zu. Doch ich fand keinen Schlaf. Vielmehr fiel ich in eine Art Fieberwahn. Die Gedanken purzelten in meinem Kopf wild durcheinander. Irgendetwas drängte mich, über mein bisheriges Leben nachzudenken …

Wann hat alles angefangen? Ich vermute, bei meiner Geburt, aber wahrscheinlich schon davor …

Schon in jungen Jahren interessierte ich mich für das Feinstoffliche, das nicht Greifbare.

Ich erinnerte mich an ein sehr bezeichnendes Erlebnis. Eines schönen Tages – ich glaube, ich war einundzwanzig – wachte ich auf und wusste, ich möchte Yoga machen. Ich wusste sehr wenig darüber. Ich glaube, nicht einmal, dass es seinen Ursprung in Indien hatte. Es gab damals weder Kurse in den Volkshochschulen, noch Regale voller einschlägiger Literatur in diversen Buchhandlungen und schon gar kein Internet. Und so fuhr ich durch die halbe Stadt und tingelte sämtliche kleine Buchhandlungen ab. Ich glaube, die großen Buchhandelsketten gab es damals noch nicht. So erstand ich dann im x-ten Buchladen ein sehr verwestlichtes Exemplar von einer kanadischen Autorin. Aber zumindest waren anschauliche Bilder drinnen und verständliche Beschreibungen. Ich startete meine ersten Yogaversuche. Vor allem auf körperlicher Ebene verspürte ich ein angenehmes Gefühl, besonders im Rücken.

Ungefähr zehn Jahre später – ich war mittlerweile eine junge Mutter – entdeckte ich im Wartezimmer meines Frauenarztes in einer Zeitschrift einen Artikel über einen Yogakurs. Rasch notierte ich mir die Telefonnummer. Nun legte ich sozusagen los. Ich landete in so einem richtigen Ashram, nicht in Indien, sondern mitten in Wien. Das Ambiente war eher bescheiden, in einem alten Substandardhaus. Doch die Atmosphäre war hochspirituell, was mich gleichsam faszinierte und auch ein wenig befremdete. Das Befremdliche waren Swamis in orangefarbenen Gewändern, Satsangs, Mantragesänge und vor allem „Swamiji“, der Guru. Rückblickend weiß ich, dass dieser Ashram (der übrigens mittlerweile eine hochprofessionelle und durchorganisierte „Yoga-Firma“ ist) die Initialzündung für mein spirituelles Erwachen in diesem Leben war. Doch es sollte noch ein langer, steiniger Weg nachfolgen. Schnell kam ich drauf, dass die diffusen Ängste lediglich von Schranken in meinem Kopf herrührten. Von Schranken und Konditionierungen. Guru war in meiner Kindheit immer in Verbindung gebracht worden mit gefährlichen Sekten, die ihren Anhängern das Gehirn wuschen und sie anschließend in den Massenselbstmord trieben, während der Meister seine Rolls Royces zählte und pflegte. Nun, ich befasste mich mit der Bedeutung des Gurus, mit der Yogaphilosophie und in der Folge mit allem Möglichen „nicht Greifbaren“. Tarot, Bachblüten … Ich hatte, das Gefühl, ich bekam plötzlich Zugang zu anderen Welten. Ich hatte einige Erlebnisse mit Energien oder Gotteserlebnisse, wenn man so will. Ich konnte aber nicht immer alles richtig einordnen. Ich befand mich erst am Anfang …

Ich erhielt ein persönliches Mantra von Swamiji bei einem Einweihungsritual, das ich übrigens heute noch verwende. Vor meinem damaligen Mann verheimlichte ich einen Großteil dieser Dinge, da ich intuitiv spürte, dass ich damit nicht unbedingt auf Verständnis stoßen würde.

Es kam, wie es offenbar kommen musste. Meine Ehe scheiterte. Jahre später erfuhr ich von gemeinsamen Freunden, dass mein Exmann erzählte, als ich mit Yoga begann, sei ich übergeschnappt und dadurch sei es zur Scheidung gekommen. Sinngemäß hatte er damit vollkommen Recht, auch wenn ich es anders einordne und bezeichne. Damals öffneten sich meine feinstofflichen Kanäle, die mir ein kleines Fenster öffneten. Ein Fenster auf den Ausblick, wer ich wirklich bin und darauf, was es außer der grobstofflichen, materiellen Welt noch gibt. Sich von Menschen zu trennen, die nicht mehr zu mir passten, wurde unumgänglich. Auch wenn es der Vater meiner Tochter war. Und ich aus diesem Grund von fürchterlichen Gewissensbissen geplagt wurde. Doch es stellte sich schon bald als die richtige Entscheidung heraus. Ich war fortan alleinerziehende Mutter. Ich war froh, dass wir es schafften, ein gutes Einvernehmen zu pflegen.

 

Damals hatte ich auch meine erste vegetarische Phase. Ich hatte das Gefühl, mich vor Gott und der Welt dafür rechtfertigen zu müssen. Vor meinen Kollegen, meiner Familie. Mir wurde vorgehalten, dass ich mein Leben nicht genießen könne, nur weil ich keine Leber in Pfeffersauce essen wollte. Zugegeben, am Anfang meiner Yogaphase war ich ein wenig missionierungsfreudig, was ich mir aber rasch abgewöhnte.

Ich ging noch zwei Jahre zum Yoga, welches in einem Stufensystem aufgebaut war. Ich hatte persönlich viel profitiert, von den Weisheiten des Swamiji, von den Menschen, die ich dort kennenlernte, von der spirituellen Atmosphäre und nicht zuletzt von den Asanas und Meditationen. Doch nun spürte ich, ich musste weiter. Die Yogajünger vertraten zwar die Ansicht, man sollte bei einem Weg bleiben und in diesem System persönlich und spirituell aufsteigen. Doch es war eben nicht mein Weg. Ich interessierte mich für Vieles, beschäftigte mich mit Vielem und lernte Vieles kennen: Kartenlegen, Aromatherapie, Rückführungen. Ich trieb mich auf Esoterikmessen herum und lernte einige für mich wertvolle Dinge kennen, Irrwege eingeschlossen. Einer davon war, dass ich beim Yoga einige schön klingende Theorien übernommen hatte, die sich für mich gleichermaßen faszinierend wie abgehoben anhörten. Die im Kopf waren. Für die ich noch nicht reif war. Eine davon war, dass man Sexualität transformieren könnte. Ich erinnere mich, dass ich einmal bei irgendeinem yogischen Event war, wo ein sehr attraktiver und exotisch anmutender Mann erklärte, dass er keinen Sex mehr praktiziere, weil er eben diese starke Triebkraft in höhere Energie umwandle. Insgeheim dachte ich mir „Scheiße“. Kurzfristig glaubte ich ernsthaft, dass das auch mein Weg sein könnte. Das Leben machte mir einen Strich durch die Rechnung. Ich war Anfang dreißig, in vielerlei Hinsicht auf dem Höhepunkt und das Leben holte mich schnell „down to earth“. Ich war sechs Jahre lang Single und hatte phasenweise sehr aktive und vor allem intensive zwischenmenschliche Zeiten und Erlebnisse. Ich wollte aber auch stets eine verantwortungs- und liebevolle Mutter sein. Es war ein Balanceakt. Ich war glücklich, allein mit meiner Tochter. Jedoch war ich auch ständig auf der Suche. Ehrlich gesagt weiß ich nicht mehr wie und warum, aber ich landete bei einem Schnupperseminar für Shiatsu. Ich war fasziniert von der Lehre, die aus Japan kommt, von den fünf Elementen und der Welt der Meridiane. Und davon, dass man über den Körper die Seele erreicht und umgekehrt. Außerdem gab mir zum damaligen Zeitpunkt das „Handfeste“, das Körperliche Sicherheit. Ich erlebte eine sehr intensive Zeit in einer wunderbaren Gruppe von Menschen. Wieder öffneten sich für mich neue Welten. Durch das ständige gegenseitige Behandeln und Üben am Anderen, bekam ich ein ganz neues Gefühl von Körperlichkeit und Berüh- rung. Mein damaliger Bürojob im Bereich Pflege und Altenbetreuung machte mir Spaß, wir hatten ein tolles Betriebsklima. Es war alles zeitweilig anstrengend. Die Ausbildung, das Kind, die Schule, der Job. Doch ich fühlte mich wohl. Nach drei Jahren hatte ich die Ausbildung abgeschlossen und mir nebenher schon einen kleinen Kundenstock aufgebaut. Neben einem Fulltimejob, gab ich bei mir zu Hause ungefähr zweimal wöchentlich Menschen Shiatsu-Behandlungen. Meine Tochter wuchs heran und kam ins Gymnasium. Sie brauchte viel Raum und breitete sich mit ihren Schulsachen in der ganzen Wohnung aus. Zuvor hatte ich das Wohnzimmer für mich und die Klienten als Rückzugsort und Oase der Ruhe zur Verfügung gehabt, weil Laura in der Ganztagesbetreuung gewesen war. Ich spürte, ich musste etwas ändern. Einen eigenen Behandlungsraum mieten. In meinem Job Stunden reduzieren. Doch ich hatte nicht den Mut dazu. Stattdessen ließ ich Shiatsu langsam auslaufen. Ich war nicht glücklich über meine Entscheidung oder vielmehr Nicht-Entscheidung, spürte aber auch, dass mein Weg noch nicht zu Ende war. Shiatsu war für mich noch nicht der Weisheit letzter Schluss gewesen.

Außerdem hatte ich das Singleleben satt und die ganzen sinnlosen Spielchen mit den Verkehrten. Eine Zeitlang hatte ich das Motto „Wenn ich schon nicht den Richtigen finde, dann amüsiere ich mich halt mit den Falschen“ ganz witzig gefunden. Nun wollte ich aber endlich Mr. Right finden, nicht mehr alles alleine bestreiten und entscheiden müssen. Mich endlich anlehnen können. Einen Menschen haben, der sich voll und ganz zu mir bekannte.

Eben die große Liebe finden und nicht weniger …

Ich hatte keine Lust mehr darauf, mich ungefähr jedes zweite Wochenende ins Nachtleben zu stürzen, wie ich es in den letzten Jahren öfters getan hatte. Die Internet Singlebörsen boomten gerade und eine Freundin versuchte, mir deren Vorzüge schmackhaft zu machen. Erst war ich skeptisch, das Ganze erinnerte mich an Kontaktanzeigen und die hatten für mich immer ein wenig den Touch der Verzweifelten gehabt. Aber die Freundin, die so begeistert davon schwärmte, war sehr lebenslustig, alles andere als verzweifelt. Aber letztendlich gab das Sommerloch den Ausschlag. Meine Tochter Laura verbrachte einen Teil der Sommerferien meist bei ihren Großeltern auf dem Land, in diesem Jahr war sie noch zusätzlich in einem Sommercamp. In der Stadt war wenig los, in der Arbeit lief es etwas ruhiger ab. So brachte mich die Langeweile oft dazu, etwas Neues auszuprobieren. Diesmal war es eben www. flirt.at. Oder so ähnlich.

Vor meinem ersten Blinddate war ich nervös. Was würde mich erwarten?

Das Cafe, in dem das Treffen vereinbart war hatte geschlossen, das sah ich schon aus der Ferne.

Es schüttete in Strömen. Vorsichtshalber versteckte ich mich hinter meinem Schirm und platzierte mich auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Sollte der Mensch, der sich hinter dem virtuellen Profil befand so gar nicht meinen Vorstellungen entsprechen oder gar aussehen wie Quasimodo, konnte ich mich immer noch heimlich, still und leise durch den Regen davonschleichen. Ich wusste zwar, man soll nicht nach Äußerlichkeiten gehen, aber die ersten Minuten entscheiden bekanntlich. Es ging nicht um Schönheit, aber abgestoßen wollte ich mich auch nicht unbedingt fühlen. Doch der Mann, der mit selbstsicherem Schritt und leichten O-Beinen ums Eck bog, übertraf meine Erwartungen. Was ich aus der Ferne wahrnehmen konnte, war nicht unbedingt ein Schönling, aber ein überaus interessant wirkender Typ. Schnell sprang ich mit meinem Schirm über die Straße. Lange Rede kurzer Sinn: Ich erlebte einen überaus angenehmen Abend, bei dem es auf beiden Seiten knisterte. Beinahe hätte ich mich verliebt. Aber eben nur beinahe. Manchmal ist es eben nicht mal ein Strohfeuer, mehr eine Stichflamme. Aber auch das hat seine Berechtigung. Zumindest war es ein toller Einstieg. In die Welt der Blinddates. Es folgten eine Handvoll weitere. Einige waren skurril, doch mit den meisten Männern hatte ich ungefähr für zwei Stunden ein anregendes Gespräch oder zumindest eine nette Unterhaltung.

Dann verliebte ich mich tatsächlich. Doch diesmal war es keine Stichflamme, sondern ein Strohfeuer, das ein paar Monate loderte. Dann stellte sich heraus, dass wir so was von gar nicht zusammenpassten. „Mal ist es Liebe und mal bleibt es eben nur Liebelei“ sang schon Hildegard Knef …

Ich brauchte eine kurze Atempause, um meine Gefühle, Erwartungen und Vorstellungen wieder neu zu ordnen. Dann stieß ich durch Zufall auf die Aktion „SMS-Flirten“, veranstaltet von einer Telefongesellschaft über eine Wochenillustrierte. Kurzerhand meldete ich mich an. Dann fuhr ich mit meiner Tochter und einer Freundin auf Urlaub. Und vergaß darauf.

Der erste Tag vom Urlaub zurück – ich weiß es noch genau – es war der 1. September – piepste ununterbrochen mein Handy. Schnell begriff ich, dass ich hier von Herren aus dem ganzen Land angesimst wurde. Ich empfand das Ganze als völlig sinnlos. Zum einen wollte ich einen Partner aus meiner Heimatstadt, zum anderen wusste ich nicht, was man in einer „short message“ über einen Menschen erfahren sollte. Doch irgendwann nahm ich mir vor, einfach das Beste aus der Situation zu machen und gab einfach denen, die mir anhand der wenigen Informationen einigermaßen interessant erschienen, meine Mailadresse.

Viele meine neuen Mailfreunde schieden sofort aus. Aufgrund von unverständlichem, sinnfreien Geschreibsel, schwerer orthographischer Defizite oder auch einfach nur weil sich mir auf eingescannten Fotos unansehnliche Gestalten präsentierten. Das Geschäft war beinhart. Bei Jenen, die die Auslese überstanden hatten, war auch Michael aus Salzburg dabei. Wir mailten eine Zeit lang hin und her und beschlossen, uns im Mai zu treffen, denn da wollte Michael beim Wien-Marathon mitlaufen. Wir hatten September. Irgendwann stellte sich bei unserem Mailverkehr heraus, dass wir am selben Tag Geburtstag hatten. Dann kam die Wende und er wollte schon in zwei Wochen kommen. Er erzählte mir später, dass er plötzlich wahnsinnig neugierig geworden war, wie eine Frau, die am gleichen Tag geboren war, so tickte. Ich erinnere mich, als wir das erste Mal telefonierten. Es war der 11. September 2001. Laura, meine damals 12jährige Tochter musste sich einer Mandeloperation unterziehen und ich war als Begleitperson mit ihr im Krankenhaus. Fassungslos sahen wir im Fernsehen die Bilder von „nine/​eleven“. Und dann läutete mein Handy …

Michael entsprach auf den ersten Blick nicht gerade dem Bild, das ich mir von meinem Traummann zurechtgezimmert hatte, auch wenn dieses sehr vage war. Ausstrahlung vor Aussehen, so lautete schon längst meine Devise. Er war eher schmächtig und hatte zu diesem Zeitpunkt einen rasierten Kahlkopf, der ihm jedoch gut stand. Er strahlte eine für mich eine sympathische Aura aus. Ich fühlte mich zu ihm hingezogen, er vermittelte mir innere Ruhe. Von Anfang an. Bis zu dem Zeitpunkt war ich bei Männern, die mich interessierten immer nervös gewesen. Wir verbrachten auf sehr angenehme Art und Weise den Samstagnachmittag und Abend zusammen. Irgendwie floss alles wie von alleine …

Das nächste Wochenende verbrachte ich in Salzburg. Dann kam er wieder nach Wien. Und so ging das abwechselnd. Fünf Jahre lang.

Irgendwann in dieser Zeit fing ich an, mich zeitweilig körperlich unwohl zu fühlen. Ich litt unter Allergien, die im Blut allerdings nicht nachweisbar waren. Es war immer nur ein bestimmter Blutwert erhöht, was kein Arzt so richtig erklären konnte. Plötzlich litt ich auch unter Bluthochdruck. Ich war die absolut atypische Bluthochdruckpatientin und hatte bis dahin eher unter zu niedrigem Blutdruck gelitten. Beim Durchchecken war organisch alles unauffällig. Dem Ganzen wurde das psychosomatische Etikett aufgedrückt und ich erhielt blutdrucksenkende Medikamente.

Ich ging auf den Vierziger zu und meine Tochter auf die Dreizehn. Mein bis dahin liebenswertes, aufgewecktes, schlaues kleines Mädchen mutierte zu einem Pubertätsmonster.

In meinem Job, den ich bis dahin gerne gemacht hatte, wurde es zunehmend enger und unrunder. Das ehemals angenehme Betriebsklima schwand immer mehr dahin. Gemeinsamer Spaß mit den Kollegen und Kolleginnen hatten in der Vergangenheit auch als Ventil, als Psychohygiene gedient, um den herausfordernden Job und die zeitweise schwierigen Klienten zu ertragen. Wenn ich nach Hause kam, ging der Stress weiter. Waren mein Kind und ich früher ein Herz und eine Seele gewesen, so gab es jetzt nur Streit, Diskussionen, Streit, Diskussionen, Streit …

Meist hatte ich es so organisiert, dass Laura an dem Wochenende, an dem ich nach Salzburg fuhr, bei ihrem Vater war. Am Samstagvormittag erledigte ich noch schnell den Haushalt und um die Mittagszeit machte ich mich auf den Weg. Ich freute mich immer auf unser gemeinsames Wochenende und war schon aufgeregt. Hin und wieder empfand ich es auch als Belastung. Das ewige Hin- und Herfahren. Manchmal dachte ich daran, diese Fernbeziehung zu beenden. Doch jedes Mal wenn wir uns sahen, waren meine Bedenken sofort weggewischt. Es war Harmonie pur, Michael war immer fröhlich, gut gelaunt, wahnsinnig gelassen und steckte mich sofort damit an. Das Wochenende war eine Quelle der Kraft. An den Wochenenden, an denen er nach Wien kam, hatte er oft seine kleine Tochter mit und wir unternahmen etwas zu Viert. Es war ziemlich bald klar, dass Michael nach fünf Jahren zu mir ziehen würde, dann waren seine beiden Kinder aus dem Gröbsten raus.

 

In der Arbeit gab es mobbingartige Situationen, von denen ich indirekt und auch direkt betroffen war. Oft konnte ich nicht abschalten, schlecht einschlafen und hatte Herzrasen.

Michael und ich telefonierten und simsten jeden Tag. Obwohl wir ungefähr 300 km voneinander entfernt lebten, verspürte ich das erste Mal seit meiner Scheidung das Gefühl tiefer Verbundenheit und dass Jemand wirklich für mich da war. Die Urlaube verbrachten wir immer gemeinsam, meistens mit den Kindern.

Unter der Woche konsultierte ich Ärzte, Heilpraktiker, Homöopathen, Qi Gong Kurse. Das half mir gegen den Stress und meine gesundheitlichen Beschwerden. Ein wenig. Außerdem war ich ständig auf der Suche nach alternativen Ausbildungen. „Wenn ich noch dieses Diplom habe und jenes, dann lege ich los. Dann mache ich endlich das, was ich wirklich machen will …“ So dachte ich. Ich überlegte, meine Wochenarbeitszeit zu reduzieren. Doch dann hätte ich meine Leitungsfunktion – in der ich ohnehin nur als Minisandwich und Prellbock fungierte – zurücklegen müssen. Und ich hätte weniger Geld gehabt. Mein Kind, die Schule, die Fixkosten …

Ich beschloss, die Ausbildung zur diplomierten Entspannungstrainerin zu machen. In den Abend- und Wochenendseminaren fühlte ich mich wohl. Neues zu lernen machte Spaß und ich konnte abschalten. Am Ende der Ausbildung erhielt ich ein Diplom.

Manchmal fuhr ich auch mit dem Zug nach Salzburg. Auf einer Zugfahrt schrieb ich meine erste Kurzgeschichte. Und dann die nächste. Seltsamerweise schaffte ich es in dem ganzen Stress und zwischen all meinem Chaos fünf Kurzgeschichten zu Papier zu bringen. Im Mittelpunkt meiner Geschichten stand immer eine Frau, meist in der Lebensmitte, oft an einem Wendepunkt. Die Geschichten waren frei erfunden, ich habe bis heute keine Ahnung, wo die Inspiration dafür herkam. Autobiographische Elemente waren nicht ausgeschlossen. Möglicherweise. Die letzte Geschichte, die ich zu diesem Zyklus zähle, sollte zu einem viel späteren Zeitpunkt folgen. Nach einem Ereignis, das ich als den größten Einschnitt in meinem Leben betrachte. Doch der sollte erst einige Jahre später folgen. 2011.

Doch vorher folgte ein anderer Umbruch. Vielmehrzwei. 2005. Meine Tochter war mittlerweile 15. Es war immer noch schwierig, doch ich hatte das Gefühl, in ihrem pubertätshormonverwirrten Gehirn hatte sich ein kleiner Schalter umgelegt. Zumindest wirkte sie ein wenig normalisiert. Diesen kleinen, beruhigenden Gedanken hatte ich gerade zu Ende gedacht, da eröffnete mir Laura, dass sie beabsichtige, zu ihrem Vater zu ziehen. Ich dachte momentan, mir wird der Boden unter den Füßen weggezogen. Doch äußerlich ließ ich mir nichts anmerken. Ihre Argumente hörten sich zudem nicht mal unvernünftig an. Sie wollte wissen wie es sei, mit ihrem Vater zusammenzuleben, da sie bei unserer Trennung noch sehr jung gewesen war und sich nicht wirklich erinnern könne. Das leuchtete mir ein. Gott sei Dank, funktionierte in dieser Situation offensichtlich so etwas wie mein „Über-ich“. Ich wollte nicht, dass sie sich von mir emotional unter Druck gesetzt fühlte.

So lebte ich fortan zum ersten Mal in meinem Leben ganz alleine. Ich fiel in ein tiefes schwarzes Loch, es katapultierte mich sozusagen von Hundert auf Null. Drehte sich die Jahre zuvor gedanklich alles nur um meine Tochter. „Was treibt sie gerade? Hat sie gegessen? Gibt’s Probleme in der Schule?“ Diese und ähnliche Gedanken kreisten ständig in meinem Kopf herum. Nun kam ich von der Arbeit heim, sperrte die Wohnungstüre auf und hatte das Gefühl, mich in einer Gruft zu befinden.

Doch anscheinend besitze ich die Gabe, mich relativ rasch auf neue Situationen einzustellen und nicht allzu lange mit einem vermeintlich bösen Schicksal zu hadern. Die Beziehung zu Laura erfuhr eine ganz neue Qualität. Ich hatte die Verantwortung mit all ihren Folgeerscheinungen bewusst an ihren Vater abgegeben. Dadurch wurde unser Mutter-Tochter-Verhältnis unbelasteter, leichter und konnte sich in eine freundschaftliche Richtung entwickeln.

Doch bald folgte der nächste Schlag. Mein Vater erlitt einen Herzinfarkt und verstarb kurz darauf. Natürlich, er war in einem Alter wo man – brutal gesagt – damit rechnen konnte und ich hatte mich auch schon ansatzweise mit diesem Gedanken beschäftigt. Aber wenn es dann doch passiert … Ich sagte mir, es gehört zum Leben dazu, irgendwann einmal seine Eltern zu verlieren …

Ich hatte zu meinem Vater eine ganz besondere Beziehung gehabt. Er war immer für mich dagewesen, in jeder Hinsicht. Im Idealfall hat jeder Mensch sein persönliches Bollwerk, bei dem er Zuflucht suchen kann. Seinen Lebensmenschen. Das war er für mich gewesen. Doch das Wichtigste war: Er hatte es immer geschafft, mich zum Lachen zu bringen.

Michael stand mir wie immer bei, doch er war immerhin 300 Kilometer entfernt. Meine Tochter trauerte in ihrem neuen Zuhause – getrennt von mir – um ihren geliebten Großvater. So saß ich alleine daheim mit meiner Trauer …

Ein Jahr später, beschlossen Michael und ich, Nägel mit Köpfen zu machen und zusammenzuziehen. Was bedeutete, er ließ sein altes Leben, seine Wohnung, seinen Job, seine Kinder, hinter sich und zog in eine fremde Stadt.

Ich machte mir nicht allzu viele Gedanken darüber, wie sich unsere Beziehung durch das Zusammenleben verändern würde. Da sie bis zu dem Zeitpunkt so harmonisch und ohne Probleme verlaufen war, nahm ich fast selbstverständlich an, dass es so weitergehen würde. Doch ich hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Und auch Michael hatte die Situation unterschätzt. Er war jahrelang in seiner Firma gut etabliert und in seinem Bereich angesehen gewesen. In der großen Stadt sah die Situation allerdings anders aus. Die Arbeitsstellen in der Lebensmittelbranche wirkten oft auf den ersten Blick vielversprechend. Doch schlechte Arbeitsbedingungen und viel zu lange Arbeitszeiten machten ihm das Leben schwer. Außerdem vermisste er seine Kinder.

Doch all das wollte ich nicht sehen. Ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt. In der Arbeit wurde es langsam unerträglich. Eine neue Geschäftsführung machte uns mit rigiden Vorschriften das Leben schwer. Arbeitspensum und ein mieses Betriebsklima taten ihr Übriges. Ich beschloss, mir einen neuen Job zu suchen. Monatelang durchstöberte ich sämtliche Jobbörsen und Inserate. Währenddessen spiele mein Blutdruck wieder verrückt. Ich schlief schlecht und fühlte mich schon erschöpft, wenn ich morgens ins Büro kam. Manchmal entdeckte ich ein Jobangebot, das mir so was von gar nicht entsprach und dachte mir: „Egal, Hauptsache weg von hier.“ Doch meist kriegte ich mich wieder ein. Nein, aus Verzweiflung durfte ich nicht in einer Buchhaltung landen. Es sollte ein Bereich sein, der zu mir passte. Aber vermutlich musste ich froh sein, wenn ich in meinem Alter überhaupt noch irgendwo genommen wurde. An einem Tag, an dem ich wieder besonders verzweifelt war, schickte ich meinen Wunsch zum Universum. Ich formulierte möglichst genau, aber doch nicht zu engstirnig, meine Vorstellungen. Dann atmete ich aus und ließ los.

Am nächsten Morgen öffnete ich meine Eingangstüre und fand auf der Türmatte eine Zeitung vor. Verwundert stellte ich fest, dass es sich um eine firmeninterne Gazette handelte, welche ich immer mit der Post zugestellt bekam. Was bedeutete, dass sie sich normalerweise im Postkasten befand. Spontan schlug ich die Zeitung auf und befand mich sofort auf der Seite der internen Jobbörse. Ein Jobangebot sprang mir gleich ins Auge. Zum ersten Mal seit ungefähr einem Jahr fühlte ich mich umfassend angesprochen, obwohl ich mir praktisch keine Vorstellung machen konnte. Es handelte sich um den Bereich Kommunikation, und das im Gesundheitsbereich, also mein Metier.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?