Mordsmäßig heilig

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Mordsmäßig heilig
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Barbara Merten

Mordsmäßig heilig

EIN KRIMI AUS DEM HARZVORLAND

mit ausgewählten Wandertouren rund um die ›Tatorte‹

Impressum

Mordsmäßig heilig

ISBN 978-3-96901-020-4

ePub Edition

V1.0 (05/2021)

© 2021 by Barbara Merten

Abbildungsnachweise:

Umschlag (Front) © HayDmitriy | #391958104 | depositphotos.com

Illustration (Wanderer) © kamenuka | #166635400 | depositphotos.com

Porträt der Autorin © Ania Schulz | as-fotografie.com

Hinweise zum Kartenmaterial:

Die Kartenausschnitte für die Wandertouren

wurden mit Datenmaterial von OpenStreetMap erstellt.

Weitere Informationen: http://www.openstreetmap.org/

Lizensiert unter ODbL: http://opendatacommons.org/licenses/odbl/

Lektorat:

Sascha Exner

Verlag:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt · Deutschland

Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

E-Mail: mail@harzkrimis.de


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Allgemeiner Hinweis:

Bei den Schauplätzen dieses Romans handelt es sich um reale Orte. Die Handlung und die Charaktere hingegen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen wären reiner Zufall und sind nicht beabsichtigt.

Inhalt

Titelseite

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Epilog

Schnüffel auf Tour

1. Wanderung

2. Wanderung

3. Wanderung

4. Wanderung

5. Wanderung

Was ich unbedingt noch loswerden muss

Über die Autorin

Mehr von Barbara Merten

Eine kleine Bitte

Prolog


Das, was jemand von sich selbst denkt, bestimmt sein Schicksal.

– Mark Twain –

Er hatte nicht mehr viel Zeit. Die Diagnose: Karzinose, die ihm Professor Reiter aus der Uniklinik mitgeteilt hatte, empfand er noch immer als ungerecht. Wie konnte ihm ›Der da oben‹ das antun? Ihn mitten aus dem Leben reißen!

Zuerst hatte sich ein Gefühl der Ohnmacht in ihm breitgemacht, ihm regelrecht den Boden unter den Füßen weggezogen.

»Ich kann nichts mehr für Sie tun. Der Krebs hat sich schon zu weit im Körper ausgebreitet. Tut mir leid. Genießen Sie die Zeit, die Ihnen noch bleibt. Machen Sie das, was Ihnen Freude bereitet«, hatte Reiter ihm gesagt. Mit heiserer Stimme hatte er ihn gefragt: »Wie viel Zeit bleibt mir?« — »Ein Jahr gebe ich Ihnen, plus/minus. Alles Gute ...« Der Professor hatte ihm die Hand gereicht und sich verabschiedet. Es war sein letzter Arbeitstag in der Klinik als Chefarzt gewesen. Auf den angehenden ›Prof. im Ruhestand‹ warteten nun die angenehmen Dinge des Lebens.

Der Arzt hatte es gut. Und er? Für ihn sollte alles zu Ende sein?

Nach tagelanger Leere folgte die Rebellion. Sie bestimmte fortan sein Denken und Tun. Er empfand eine unbändige Wut. In ihm wuchs der Wille, das Unvermeidbare nicht zu akzeptieren. Er holte sich eine Zweit- und eine Drittmeinung, ließ sich immer wieder untersuchen. Mit verschiedenen Medikamenten und allerlei Quacksalberei versuchte er den Krebs zu besiegen. Wochenlang kämpfte er mit sich und seinem Körper. Erfolglos. Die Krankheit schritt mehr und mehr voran. Er spürte, seine Uhr lief ab.

Inzwischen hatte er sich mit der Situation arrangiert, sein Ableben geplant und seine letzte Ruhestätte gefunden. Etwas ganz Besonderes würde es werden, ein Unikat, das einer Koryphäe wie ihm würdig war. Ein Ort, der ein Abbild seines Lebens sein würde. Ich lasse mich nicht einfach verscharren. Nein! Sobald alles eingerichtet ist, werde ich gehen. So Gott will, selbstbestimmt. Ich nehme seinen Auftrag an. Er röchelte.

Kapitel 1


Die Frage ist nicht, was man betrachtet, sondern was man sieht.

– Henry David Thoreau –

Mittwochnachmittag

Auf der Polizeiwache in Gieboldehausen klingelte das Telefon. Wachtmeisterin Marie Steffen, die heute Telefondienst hatte, nahm ab. Eine schrille Frauenstimme drang schmerzhaft in ihr Ohr.

»Hallo? Is doa die Polißei in Cheboldehusen?«

Marie hielt den Hörer auf Abstand. Wahrscheinlich ist die Frau schwerhörig. »Ja, hier ist die Polizeidienststelle Gieboldehausen. Sie sprechen mit Wachtmeisterin Marie Steffen«, antwortete sie deshalb auch lauter als gewöhnlich. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ähm, wie soll eek sei dat säjen? … Ja ähm ...« Die Frau schien zu überlegen.

»Von wo rufen Sie denn an?«, erkundigte sich Marie.

»Eek? Ja, von truus«, brüllte die Frau vorwurfsvoll, so als müsste die Polizei das doch wissen.

»Aha, von zu Hause, truus. Ich verstehe. Sagen Sie mir Ihren Namen und Ihre Adresse?«, fragte Marie nach.

Die Frau antwortete nicht. Nach kurzer Zeit, Marie war schon drauf und dran aufzulegen, begann sie in einigermaßen verständlichem Hochdeutsch zu sprechen.

»Ja, dat iss so. Ich war jerade in der Kirche und wollte bei unserer Madonna eine Kerze anstecken. Wissen Se, heute hat mein Sohn nämlich Geburtstag. Aber der ist schon tot. 2012 iss er an Krebs jestorben. Eine schreckliche Krankheit. Das können Se mir glauben. Ich habe ihn jepflegt, bis zum letzten Atemzug. Heilige Maria, bitte für uns«, betete die Frau. Dann schien sie sich zu schnäuzen.

 

Marie nutzte die kurze Pause und fragte noch einmal: »Wie heißen Sie denn? Und wo wohnen Sie?«

»Ja, wie ich heiße?«, entrüstete sich die Frau. »Trudchen. Ähm.« Sie schien wieder zu überlegen. »Ach so, ja. Das können Se ja nich wissen – Gertrud Rudolf aus Charmeshusen. Mein Mann ist auch schon tot. Ich bin hier ganz allein. Die Tochter wohnt nämlich in Göttingen. Iss ´ne Studierte. Hat alles mein Mann bezahlt. Nun iss se wech und ich sitze hier. Aber ich geh jeden Tag in die Kirche, obwohl die Pfarrer ja keine Messen mehr feiern. Wegen der Corona! Wissen Se, die iss vom Teufel! Könn Se mir glauben. Aber die Mutter Gottes, das ist meine Fürsprecherin – Heilige Maria! Und die iss nu auch wech. Haben se die wechgebracht? In Quarantäne?«

Angespannt versuchte die Wachtmeisterin, aus dem Durcheinander Schlüsse zu ziehen. Ihr war nicht klar, ob die Frau vor Aufregung wirr redete oder ob sie dement war. »Frau Rudolf. Habe ich Sie richtig verstanden? Sie wohnen in Germershausen und waren in der Kirche?«, hakte Marie nach.

»Ja, sag ich Se doch! Wollte bei der Mutter Gottes den Rosenkranz beten und eine Kerze anstecken. Aber da iss keine Madonna mehr! Iss denn die janze Welt verrückt jeworden?« Frau Rudolf schien ernsthaft besorgt.

»Nein, Frau Rudolph. Die Welt ist nicht verrückt geworden. Das glaube ich nicht. Aber danke, dass Sie angerufen haben. Ich werde mich darum kümmern. Können Sie mir sagen, wer morgens die Kirche aufschließt?«

»Ja, das macht Frau Hundeshagen. Die wohnt im Unterdorf, muss nur über die Brücke gehen. Und wenn Se was vom Pfarrer wissen wollen, den jibt es hier nich mehr, auch nich im Kloster. Alles leer. Der Pfarrer aus Göttingen, der iss jetzt auch für Duderstadt zuständig, der kommt manchmal«, antwortete Frau Rudolf und es schien der Wachtmeisterin, dass die Frau, je länger sie redete, klarer denken und reden konnte.

»Sagen Sie mir noch in welcher Straße Sie wohnen, Frau Rudolph? Dann können wir uns bei Ihnen melden, wenn wir noch Fragen haben«, erklärte Marie. Die Frau gab ihre Adresse an, wünschte der Polizistin einen schönen Feierabend und legte auf. Sprachlos starrte Marie Steffen auf den Hörer. »Was war das jetzt? Erst ist die Frau total gaga und dann wieder normal. Wollte die mich verschaukeln?«

Wachtmeister Kowalski guckte zur Tür herein.

»Führst du Selbstgespräche?« Argwöhnisch schaute er Marie an. Sie reagierte nicht, schien in Gedanken weit weg zu sein. Plötzlich zuckte sie zusammen.

»Ey, musst du mich so erschrecken?«, fuhr sie den Kollegen an. »Ich hatte eben ein ganz komisches Telefonat.« Sie berichtete von dem eigenartigen Gespräch mit Frau Rudolf.

»Am besten, du rufst bei der Frau Hundeshagen an. Die weiß sicherlich, warum die Mutter Gottes nicht an ihrem Platz steht. Vielleicht wird sie für die Wallfahrt geputzt.«

»Hallo? Es gibt in diesem Jahr keine Wallfahrt. Schon vergessen? Wir leben im Coronamodus. Das gemeinschaftliche Leben wurde heruntergefahren«, sagte Marie und zog prophylaktisch ihren Mundschutz, der ihr am Hals baumelte, übers Gesicht, um Kowalskis Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.

»Daran gewöhne ich mich nie! Alles wird gestrichen. Die große Wallfahrt ist doch immer ein Highlight im Kirchenjahr und ein Gemeinschaftserlebnis für uns Eichsfelder. Wo findest du das noch? Aber ruf an. Irgendetwas stimmt da nicht«, meinte Kowalski und verließ kopfschüttelnd das Zimmer.

Marie zog den Mundschutz wieder runter, schnaubte einmal nach frischer Luft und rief ihm hinterher: »Ich gewöhne mich auch nicht dran, aber wat mot, dat mot!«

Gott sei Dank gab es in Germershausen nur eine Nummer unter dem Namen ›Hundeshagen‹. Die Wachtmeisterin wählte und erreichte die Frau sofort. Sie erkundigte sich, ob es einen Grund gab, warum die Muttergottesstatue in der Wallfahrtskirche nicht an ihrem Platz stünde. Es hätte sich jemand bei der Polizei gemeldet und gesagt, dass der Schrein leer sei.

Frau Hundeshagen reagierte aufgebracht hektisch. »Der Schrein ist leer? Das kann nicht sein. Wir haben doch eine Alarmanlage! Ich geh sofort nachgucken.« Sie legte auf, noch ehe Marie etwas sagen konnte.

Wieder starrte die Polizistin das Telefon an. »Und nun?« Sie stand auf und ging rüber zu Kowalski ins andere Zimmer. »Gibt es in Germershausen nur Bekloppte? Die Frau hat einfach aufgelegt. Jetzt kann ich warten, bis sie wieder anruft.«

»Dann lass uns einen Kaffee trinken. Ich lade dich ein«, grinste der Polizist und ging hinüber zur Kapselmaschine. »Melange? Oder schwarz?«

»Cappuccino, bitte«, antwortete Marie mit einem Lächeln. Mit ihrem Kollegen kam sie sehr gut aus. Er beruhigte ungemein und machte die tägliche Arbeit um einiges leichter, sowohl die öden Tage am Schreibtisch als auch die stressigen im Einsatz. Ein väterlicher Freund. Sie klönten kaum eine Viertelstunde, da bimmelte das Telefon.

»Polizei...«

»Kommen Sie schnell! Die Madonna ist weg!«

Marie machte Kowalski ein Zeichen und stellte das Telefon laut, sodass er mithören konnte. »Frau Hundeshagen, beruhigen Sie sich!«, sagte sie, aber die Leitung war tot. Frau Hundeshagen hatte schon wieder aufgelegt. Marie schüttelte den Kopf und zuckte die Achseln. »Die lässt mich einfach nicht zu Wort kommen. Schreckliche Frau!«

Kowalski schnappte den Autoschlüssel: »Komm, wir fahren hin und schauen uns das an. Dann können wir persönlich mit ihr reden und uns ein Bild machen.«

Als sie in Germershausen auf dem Parkplatz vor der Wallfahrtskirche anhielten, konnten sie kaum glauben, was sich vor ihren Augen abspielte. Von allen Seiten kamen Leute, steuerten auf die Kirche zu. Einer in Hausschuhen, ein anderer in kurzer Arbeitshose, eine Frau mit Lockenwickler am Pony.

»Was ist das denn?«, fragte Marie erstaunt.

»Das nennt man Lauffeuer!«, grinste Kowalski. »Das ergreift im Nullkommanix ein ganzes Dorf. Die Muttergottes ist wirklich weg! Da kannst du Gift drauf nehmen.«

Er legte den Mundschutz an und stieg aus. Von den neugierigen Dorfbewohnern angesteckt, lief er nun auch über die Wiese zur Kirche, so als würde der Papst dort stehen, um allen den Segen ›Urbi et Orbi‹ zu erteilen. Marie folgte ihm. Sie betraten das angenehm kühle Gotteshaus. An die zwanzig Bewohner des Ortes, allesamt ohne Mund-Nasen-Schutz, standen ergriffen vor den geöffneten Türen des Schreins. Jemand betete laut den Rosenkranz vor, die anderen antworteten: »Heilige Maria, ...« Kowalski blies die Backen auf und pustete unter dem Mundschutz die Luft aus. Augenblicklich beschlug seine Brille, sodass er sie abnehmen musste. »Herrschaften!«, machte er auf seine Präsenz aufmerksam. »Es tut mir leid, dass ich Sie in Ihrem Gebet störe, aber … Bitte verlassen Sie sofort die Kirche.«

Die Menschen drehten sich zu ihm um, manche erschraken.

»Wer hat die Mutter Gottes gestohlen?« – »Sie müssen was unternehmen!« – »In was für einer Zeit leben wir hier eigentlich?«, bombardierten ihn die Leute mit Fragen und Forderungen.

Kowalski ging nicht darauf ein. In tiefem Bass fragte er in die Runde: »Wer von Ihnen ist Frau Hundeshagen?«

Eine kleine zierliche Frau um die siebzig meldete sich. Sie stand abseits, telefonierte mit ihrem Handy. Kowalski ging auf sie zu, während Marie die Leute beruhigend aus der Kirche leitete. Nur eine alte Frau, die hinter der Säule zusammengekauert saß, blieb, von niemandem wahrgenommen, sitzen.

»Ich habe gerade mit dem Dechant in Göttingen gesprochen. Der ist während der Vakanz für unsere Gemeinde zuständig. Er kommt sofort«, erklärte Frau Hundeshagen dem Wachtmeister. »Entschuldigen Sie, aber ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Wie konnte das passieren? Wir haben doch eine Alarmanlage! Scheinbar hat die jemand ausgeschaltet. Wer macht so was?«, fragte sie verzweifelt.

»Tja, wenn ich das wüsste.« Kowalski zuckte die Achseln. Nach einer kurzen Pause meinte er: »Aber wir werden das herausfinden, Frau Hundeshagen. Die Mutter Gottes wird bald wieder an ihrem Platz stehen. Da gebe ich Ihnen mein Wort drauf. ›Maria in der Wiese‹ ohne das Gnadenbild, das geht nicht. Entschuldigen Sie, jetzt muss ich telefonieren.«

Der Wachtmeister wandte sich ab, rief beim Duderstädter Polizeirevier an und fragte nach Kriminalhauptkommissar Christian Schneider.

»Der ist schon nach Hause gegangen«, erklärte ihm der Polizist am anderen Ende der Leitung.

Kowalski berichtete ihm von dem Vorfall in der Wallfahrtskirche, überlegte kurz und entschied dann: »Ich hab Schneiders Handynummer. Ich ruf ihn selbst an. Wenn ich ihn nicht erreiche, melde ich mich nochmal.«

»Aber es ist ein anderer Diensthabender zuständig«, erwiderte der Kollege.

»Vergiss es. Wenn uns hier einer helfen kann, dann ist das ›Schnüffel‹.« Er unterbrach die Verbindung und scrollte nach der Nummer von Schneider.

Kapitel 2


Am ärgsten fällt der Größenwahn oft grad´ die kleinen Leute an.

– Eugen Roth –

Mittwochnachmittag in Duderstadt

Am Behinderteneingang der St.-Cyriakus-Basilika in Duderstadt parkte ein Pick-up. Mehrere Decken und ein paar Bretter lagen auf der Ladefläche. An der Rückfront stand eine große Holzkiste mit Deckel. Wahrscheinlich wurde hierin Werkzeug transportiert. Der Kasten war mit einem Gurt befestigt, damit er nicht verrutschen konnte.

Bestimmt ein Tischlerei- oder ein Restaurationsbetrieb, mutmaßte Mathilde, die mit ihrer dreijährigen Nichte Elsa vom Spielplatz kam. Eine lustige Zeichnung mit einem augenzwinkernden Wurm, der eine Holzbank repariert, grinste die Betrachterin an. ›Benedikt Holzwurm‹ stand in geschwungenen Lettern unter dem Firmenlogo. Mathilde gefiel die Zweideutigkeit. Sie rief nach Elsa.

»Guck mal! Hier ist ein lustiger Wurm auf dem Auto!«

Das Kind zögerte. Es schaute gerade einer Amsel zu, die einen Wurm aus dem Rasen zog und verspeiste. Erst als die Amsel davongeflogen war, kam sie angelaufen, stoppte vor dem Bild und betrachtete es eingehend. »Waru-um?«, stellte sie heute gefühlt zum hundertsten Mal ihrer Tante diese Frage, die wohl alle Dreijährigen umtreibt.

»Warum? Weil der Mann, dem das Auto gehört, Holzwurm heißt«, erklärte Mathilde.

»Warum heißt der Holzwurm?«

»Ich denke, das ist sein Nachname.«

»Ich will auch ›Holzwurm‹ heißen«, bettelte Elsa und knabberte mit ihrer kleinen Schnute – wie der Wurm auf dem Bild – an Mathildes Hand.

»Nein, n´te«, schnalzte Mathilde mit der Zunge und zog energisch ihre Hand weg. »Das geht nicht. Du heißt doch ›Schneider‹, so wie dein Papa und Onkel Christian. Und ich auch. Das ist ein viel schönerer Name. Wenn deine Mama am Samstag den Papa heiratet, dann will sie auch ›Schneider‹ heißen und nicht mehr ›Kuckuck‹, so wie Oma und Opa in Bad Lauterberg.«

»Waru-um?«

»Äh, warum, warum, warum? Das musst du deine Mama fragen. Du fragst mir ja ein Loch in den Bauch«, antwortete Mathilde gereizt und zog ihre Nichte weiter. Warum ist dieses Kind so anstrengend? Waren Thomas und Moni auch so gewesen? Sie dachte an die Zeit zurück, als ihre Zwillinge drei Jahre alt waren und ihren Alltag bestimmten. Nein, sooo anstrengend waren die nicht. Sie konnten ja miteinander spielen. Da brauchte ich nicht ständig Programm machen. Heutzutage fordern das die Kinder ja von ihren Eltern regelrecht ein. Ich hätte gar nicht die Zeit gehabt. Neben dem Halbtagsjob im Büro, den Eltern, die meine Hilfe brauchten, Haus und Garten … Und Christian? Ja, der war als Kriminalbeamter auf der Leiter nach oben gefordert. Eine Fortbildung nach der anderen. ›Ich will eine leitende Funktion, keine leidende als Straßenpolizist‹, war sein Spruch, wenn ich mich beschwert hab, dass ich alles allein machen muss. Also hab ich zurückgesteckt. Ja, so war das damals.

Die kleine Elsa riss Mathilde aus ihren Gedanken. »Tante Mathi, schau mal!«, rief sie rückwärtsgehend. »Da kommen zwei Männer aus dem Haus. Was haben die da?«

»Das ist kein Haus, Elsa. Das ist eine Kirche!«, korrigierte Mathilde kopfschüttelnd und dachte: Am Handy kennt sich die Kleine besser aus als ich. Aber was eine Kirche ist, weiß sie nicht. Verrückte Welt!

 

»Ich will mal gucken!«, rief Elsa und lief den Weg zurück.

Abermals schüttelte Mathilde den Kopf und atmete stöhnend aus. »Kleiner Feger!«, raunte sie und war froh, dass hier vor der Pfarrei keine Autos fuhren. Sie schaute Elsa nach und musste die Hand an die Stirn halten, denn die Sonne blendete stark. Ihr fiel auf, dass die Männer, die aus dem Gotteshaus kamen, blaue Arbeitshosen und die gleichen rotgrün-karierten Hemden anhatten. Wie Zwillinge. Auf dem Kopf trugen sie beigefarbene Schirmmützen. Ihr Gesicht war durch schwarze Mundschutzmasken verdeckt.

Als sie Elsa und Mathilde erblickten, stoppten sie kurz, dann nickten sie sich zu und Mathilde beobachtete, wie sich ihre Gangart schlagartig veränderte. Im Eilschritt trugen sie nun das flache Teil, das in eine Wolldecke gewickelt war, den abgeschrägten Eingang hinunter zu ihrem Wagen.

Die holen bestimmt ein Gemälde zum Restaurieren ab.

In den Pfarrnachrichten hatte sie allerdings nichts darüber gelesen. Aber genau wusste sie es nicht. So streng wie früher nahm sie ihre kirchlichen Pflichten schon lange nicht mehr wahr. Viel zu oft fühlte sie sich von der Obrigkeit der Kirche unverstanden. Außerdem waren aus Furcht vor einer Pandemie seit dem Frühjahr sämtliche Messen abgesagt worden, sodass die Gläubigen auch untereinander kaum noch Kontakte pflegen konnten. Das gemeinschaftliche kirchliche Leben und das Vereinsleben waren so gut wie tot.

»Was machst du da?«, sprach Elsa einen der Männer an und stellte sich ihnen in den Weg.

»Vorsicht, Kleine! Mach Platz!«

»Hopp! Hopp!«, rief der andere mit drohend tiefer Stimme, um sie zu scheuchen.

Erschrocken trat Elsa zur Seite. »Warum bist du böse?«, fragte sie den Mann keck, beäugte ihn von oben bis unten.

»Weil du im Wege stehst! Verschwinde!«, antwortete er lauter werdend, nickte dem Anderen zu und warf Mathilde einen finsteren Blick rüber. Eingeschüchtert drückte sich Elsa an die Mauer mit dem Geländer und ließ die Männer vorbei. Sie legten das Teil mitsamt der Wolldecke hastig auf die Ladefläche zwischen die Decken, stiegen gehetzt in den Wagen.

Komisch. Als wären sie auf der Flucht, durchfuhr es Mathilde, als der Motor aufheulte. Aufgeregt rief sie: »Elsa! Bleib an der Mauer stehen! Rühr dich bloß nicht von der Stelle! Hörst du?« Sie hielt ihre Hand zum ›Stopp!‹ hoch. »Stehen bleiben!«

Viel zu schnell beschleunigte der Fahrer den schweren Wagen rückwärts, bremste dann scharf, als er das Kind im Rückspiegel sah. Elsa presste sich verängstigt an die Steine. Mathilde kreischte: »Halt! Das Kind!« Empört und voll Angst lief sie hin. »Sind Sie verrückt?«, schrie sie und versuchte in ihrer Not, den Wagen festzuhalten, damit er Elsa nicht plattdrückte. Doch der Fahrer legte den Vorwärtsgang ein, gab Gas und fuhr mit quietschenden Reifen los.

»Idiot!«, schrie Mathilde aufgebracht hinterher. Das Auto bog nach rechts zum Hauptportal der Basilika auf die Marktstraße und preschte dann übers Obertor aus der Innenstadt davon. Mathilde nahm Elsa in die Arme. Erleichtert, dass dem Kind nichts passiert war, lobte sie das Kind. »Das hast du toll gemacht, Elsa.« Sie streichelte ihr beruhigend über den Kopf, obwohl ihr eigenes Herz raste.

»Warum sind die schnell weggefahren, Tante Mathi?«

Nachdenklich betrachtete Mathilde das Kind.

»Ja, warum? Die hatten es plötzlich sehr eilig. Vielleicht mussten sie noch woanders hin«, antwortete sie, glaubte aber nicht, dass das der Grund für die Hals-über-Kopf-Aktion gewesen war.

Die sind ja regelrecht in Panik geraten. Als wollten sie nicht gesehen werden. Was hatte der Wagen eigentlich für ein Nummernschild?, überlegte Mathilde mit aufkommendem Unbehagen. Das hätte ich mir merken müssen als Frau von Hauptkommissar Christian Schneider, rügte sie sich selbst.

Sie blickte hinüber zum Pfarrhaus. Niemand war hinter den Fenstern zu sehen. Durch die weißen Gardinen, die keinen Blick in die Räume zuließen, erschien das Haus verlassen, regelrecht leblos. Energisch fasste Mathilde das Kind bei der Hand. »Komm Elsa, wir besuchen jetzt Anne im Pfarrhaus. Du kennst doch meine Freundin. Vielleicht hat sie noch Dienst.«

»Waru-um?«, wollte Elsa wissen.

»Weil mir das alles komisch vorkommt. Anne weiß vielleicht, was die Männer in der Kirche gemacht haben«, antwortete Mathilde.

Anne Müller war Sekretärin in der Propstei und würde wissen, ob etwas zur Restauration abgeholt werden sollte. Sie zögerte. Ich könnte ja auch selbst in der Kirche nachsehen. Würde ich überhaupt merken, wenn etwas fehlt? Das Gotteshaus war 2016 renoviert worden und Vieles befand sich nicht mehr an dem Platz, wo es früher gestanden hatte. Außerdem würde Elsa sie mit ihrem ›Warum-Gefrage‹ nerven. Mathilde entschied sich, im Pfarrhaus nachzufragen. Sie drückte die geschwungene Klinke der schweren Holztür hinunter, öffnete die Tür und betrat mit Elsa den kleinen Vorraum, klopfte an. Das hätte sie sich sparen können, denn direkt vor ihren Augen klebte ein Zettel. Dick gedruckt stand darauf: ›Mittwochnachmittags geschlossen‹.

»Ach ja, heute ist Mittwoch. Da ist Anne nicht hier«, seufzte sie. »Komm Elsa, wir gehen nach Hause. Onkel Christian wartet bestimmt schon. Dem kannst du das erzählen.«

»Au ja, Onkel Chris ist ein Polizist. Der sperrt die bösen Männer ein!«, rief die Kleine begeistert und hüpfte die Stufen der breiten Treppe hinunter.

Mathilde kramte in ihrer Tasche nach dem Mundschutz. »Aber zuerst gehen wir noch Wurst fürs Abendessen kaufen.«

»Ja! Eine Scheibe Kinderwurst!«, jubelte Elsa.

Beim Schlachter am Obertor war reger Betrieb. Sie mussten vor der Tür warten, bis zwei Kunden den Laden verließen. Erst dann durften sie den Verkaufsraum betreten. Mathilde nahm frisches Mett und ein paar Bratwürste, und Elsa bekam von der Verkäuferin eine Scheibe Wurst.

Mit vollgestopftem Mund erzählte sie schmatzend: »Weißt du wa-as? Bei dem großen Haus waren zwei Männer. Die sind ganz schnell weggebraust. Soo! Brrrrmmm. Beinah haben die mich totgefahren.« Elsa quetschte sich an die Ladentheke und zog den Bauch ein, damit die Verkäuferin sehen sollte, wie sie sich ans Mauerwerk gedrückt hatte. »Soo«, sagte sie, schaute die Bedienung ernst an.

»Oh, je. Da hattest du wohl Angst?«

Elsa setzte einen leidenden Blick auf und nickte. »Hm-hm. Aber Tante Mathi hat geschimpft. Ganz doll. Weil die nämlich böse waren.« In Gedanken an das Geschehene nickte die Kleine noch immer, schaute ins Leere. Plötzlich schrie sie laut: »I-di-ooot!«, so wie Mathilde hinter dem Wagen hergerufen hatte.

»Te!«, schnalzte Mathilde und schüttelte peinlich berührt den Kopf. »Psch! Elsa! Schrei nicht so. Das macht man nicht.«

»Aber du hast das auch gemacht. I-d-iooot!«, rief Elsa erneut, strahlte dabei übers ganze Gesicht, hüpfte dann voll Freude durch den Verkaufsraum.

»Na, das Wort gefällt dir aber«, meinte die Verkäuferin lachend und schaute fragend rüber zu Mathilde.

»Ja, das war schon komisch. Aus dem Behinderteneingang von St. Cyriakus sind zwei Männer gekommen. Ich dachte, dass es Tischler oder Restauratoren sind,« erzählte Mathilde kopfwiegend. »Jedenfalls haben sie einen schweren Gegenstand rausgetragen und hinten auf die Ladefläche gelegt. Aber als sie uns gesehen haben, sind sie fluchtartig in ihren Wagen gesprungen und verschwunden. Ich weiß nicht, ob da alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Kommt mir sehr verdächtig vor. Aber vielleicht bilde ich mir das ja nur ein.«

Mathilde legte das Geld, das sie bezahlen musste, in die Schale. Die Verkäuferin nahm es und meinte: »Oh, ich glaube nicht, dass Sie sich was einbilden, Frau Schneider. Als Frau von unserem Hauptkommissar haben Sie doch inzwischen auch den richtigen Blick für Verbrechen, oder?«

Mathilde zuckte die Achseln. »Oh, das sagen Sie bloß nicht meinem Mann. Der sieht das sicher anders«, schmunzelte sie.

»Aber wir Frauen sehen so manches, was Männer nicht sehen, und lassen uns nicht so schnell was vormachen, nicht wahr? Also erzählen Sie Ihrem Mann, was Sie erlebt haben. Ich bin sicher, dass da was nicht stimmt. Viel Erfolg und einen lieben Gruß an Ihre bessere Hälfte. Ich bin gespannt. Auf Wiedersehen, Frau Schneider!«, verabschiedete die Verkäuferin ihre Kundin.

»Auf Wiedersehen!«

Als Elsa eine halbe Stunde später ihrem liebsten Onkel Chris, dem Kriminalhauptkommissar, wild gestikulierend erzählte, dass ein Auto sie beinahe umgefahren hatte, meinte der amüsiert: »Oh je, Elschen, da bin ich aber froh, dass du noch lebst. Hmpf.«

»Ja, das war wirklich eigenartig, Christian«, bestätigte Mathilde, die neben dem Kind stand. »Wie Diebe haben sich die Männer benommen. Die sind regelrecht in Panik geraten, als Elsa sie ansprach. Es kam mir vor wie ... eine Flucht! Ehrlich, Christian. Ich denke, da musst du was unternehmen. Ich hab das Gefühl, da stimmt was nicht.«

Mathildes Stimme wurde schneller und schriller. Der Kommissar hörte nur noch mit halbem Ohr zu, fand die Aussagen seiner Frau nicht wirklich besorgniserregend. Er wollte Zeitung lesen, danach Rasen mähen, denn am Wochenende würde er – wegen der Hochzeit seines jüngeren Bruders – keine Zeit dafür haben.

Darum sagte er: »Ja ja, Mathilde. Ist gut. Ich denke, du steigerst dich da rein. Wenn wirklich was geklaut wurde, ist die Dienststelle der richtige Ansprechpartner. Ich hab Feierabend.«

Warum musst du immer so übertreiben, Mathilde? Zusammen mit Elsas Vorführung bekommt die Geschichte ja regelrecht theatralische Ausmaße, dachte er belustigt. Um das Kind zu beschäftigen schlug er vor: »Weißt du was, Elschen? Du malst mir ein Bild von den Männern und dem Auto und der Kirche. Dann kann ich mir das anschauen. Tante Mathi? Hast du ein Malblatt und Buntstifte für unser Elschen?«

Mathilde knirschte mit den Zähnen.

Er nimmt mich wieder einmal nicht ernst. Aber wenn Elsa abgeholt ist, werde ich es dir noch einmal erklären, mein Lieber. Da kannst du Gift drauf nehmen. Das ging nicht mit rechten Dingen zu. Bin doch nicht blöd. Und ich ruf auch nicht auf der Wache an, wenn mein Mann selbst Polizist ist. Ich mach mich doch nicht zum Affen! Sie ärgerte sich über seine Ignoranz. Freundlich an Elsa gewandt sagte sie jedoch: »Oh ja, natürlich hab ich Malpapier. Das ist eine gute Idee, Onkel Chris.«

Schnüffelnd setzte sich Christian in den Sessel und nahm die Tageszeitung. Für ihn war das Thema damit erledigt. Elsa beobachtete den Onkel, der beim Lesen immer wieder seine Nase krauste, Luft einsog und schnüffelte. »Hmpf hmpf.« Eine dumme Angewohnheit, die ihm unter den Kollegen den Namen ›Schnüffel‹ eingebracht hatte. Dem Kind gefiel es. Es versuchte, den Onkel nachzuahmen.

»Onkel Chri-is, bist du ein Hase?«

Der Kommissar schaute irritiert auf. »Ich? – Was? – Ein Hase? Hmpf.«

»Ja!«, rief Elsa, setzte sich auf sein Bein, das er über das andere geschlagen hatte, und hopste auffordernd. »Wollen wir Hasi spielen?« Sie hielt Ihre Finger wie Hasenohren an den Kopf. Stöhnend legte der Kommissar die Zeitung beiseite und hob seine Nichte vom Fuß. »Nein Elschen. Onkel Chris hat keine Zeit zum Hasen spielen. Der geht jetzt den Rasen mähen.«