Russische Freunde

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Russische Freunde
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BARBARA LUTZ

RUSSISCHE

FREUNDE

Roman


1

Nein. Nicht das. Nicht jetzt noch das.

Ich hatte den Hausschlüssel verloren. Es war kurz nach fünf Uhr in der Früh, die Dämmerung noch weit. Ich stand vor dem Wohnblock und starrte zu meinen Fenstern hoch. Nach elf Stunden Arbeit im Obdachlosenheim, nach Stunden, in denen ich im stickigen Büro angespannt betrunkenem Lallen zugehört und auf Schnarchen aus dem Schlafsaal gehofft hatte. Ich fühlte mich so dreckig, als hätte ich die Nacht unter einer Brücke zugebracht. Krätze, Flöhe, Läuse, Alkoholfahnen, alle Trostlosigkeit klebte an mir.

Ich ging um das Haus herum nach hinten, in unseren verwahrlosten, überwachsenen Garten. Ich wollte in meine Wohnung. Jetzt. Sofort. Der Fassade entlang sah ich nach oben zu meinem Balkon im ersten Stock.

Ich schob den Gartentisch an die Hauswand und schichtete eine Holzkiste und zwei morsche Harasse übereinander. Die Balkontür würde dran glauben müssen, aber sie schloss schon lange schlecht, und es war mir egal.

Der erste Versuch scheiterte. Die Regenrinne war stabil, doch fehlte mir die Kraft, um mich bis zum Balkon hochzuziehen. Der Kletterturm war nicht hoch genug. In einem Nachbargarten fand ich einen weissen Plastiksessel und einen Kübel. Das war frech, ich kannte diese Leute nicht, wusste bloss, dass sie ihren Gartensitzplatz täglich wischten und die dürren Blätter aus den Geranien zupften. Ich blieb stehen und horchte in die Stille. Noch schien alles zu schlafen, nur vorne auf der Hauptstrasse fuhr ein Auto.

Der Stuhl erwies sich als zu sperrig, aber den Kübel nahm ich mit, als ich wieder auf den Tisch kletterte. Vorsichtig balancierend, schaffte ich es auf die oberste Kiste und stieg auf den Kübel, der sofort unter mir wegzurutschen begann. Jetzt aber zog ich mich verbissen an der Rinne hoch. Ich schrammte mir die Fingerknöchel blutig. Ich würde es schaffen.

Plötzlich war alles taghell. Ich wurde von gleissenden Scheinwerfern angestrahlt, während ich vor Anstrengung zitternd an der Wand klebte. Wie die dicken Kinder im Turnunterricht, die an der Stange auf halber Höhe stecken bleiben. Ich schwitzte vor Anstrengung und es dauerte, bis ich begriff. Unter mir im Garten standen Polizisten. Ich habe doch bloss einen Plastikkübel genommen, ging mir als erstes durch den Kopf.

Die Polizisten schauten mir unbeteiligt zu, wie ich der Rinne entlang nach unten rutschte. Der Turm fiel in sich zusammen und ich musste mir vom Tisch helfen lassen. Mit herablassender Gleichgültigkeit, vorbei an uniformierten Oberschenkeln, wurde ich vom Tisch gehievt. Die Polizisten bugsierten mich in einen Streifenwagen und fuhren mit mir davon.

Ich fand mich alleine in einem kleinen, fast unmöblierten Büro wieder. Sie hatten mich ins Polizeigebäude am Waisenhausplatz gebracht. Ein Schreibtisch, drei Stühle. Keine Bilder, kein Kalender, keine Uhr, ich sass und wartete. Vielleicht hätte ich einfach aufstehen und davonlaufen können. Gut möglich, dass da keiner war, der es bemerkt hätte. Ich blieb sitzen. Während mindestens zwei Stunden wartete ich. Eine winzig kleine Spinne zog sich an ihrem Faden zum Schreibtisch hinauf und liess sich, oben angekommen, in die Tiefe fallen. Oft, immer wieder. Ich hatte Durst, meine Blase war voll, ich war müde.

Auch Polizisten scheinen nicht gerne vor acht Uhr morgens zu arbeiten. Irgendwann stieg der allgemeine Geräuschpegel im Haus, später betrat ein Mann in Zivil das Zimmer. Mit einem Gruss und kurzem Blick zu mir hin setzte er sich und startete den Computer. Während dieser langsam hochfuhr, sah er zum Fenster hinaus. Dann begann er etwas einzutippen.

«Wie ist Ihr Name?», richtete er schliesslich das Wort an mich und sah mich dabei zum ersten Mal an.

«Ilka Kovacs. Ich wohne in dem Haus, an dem ich hochgeklettert bin. Ich habe meinen Schlüssel verloren und wollte in meine eigene Wohnung.»

Ich sagte das sehr sachlich und souverän.

«Ich warte seit ungefähr zwei Stunden hier», schob ich nach, ohne es zu wollen. Ich gab mir alle Mühe, meine Wut zurückzuhalten. Ich war übernächtigt und entnervt und sass einem frisch rasierten Beamten gegenüber. Es hatte keinen Sinn.

«Ich muss Ihre Personalien aufnehmen. Bitte beantworten Sie meine Fragen. Ihr voller Name ist also Ilka Kovacs? Geburtsdatum?»

Nach dem Geburtsdatum kam die Frage nach Geburtsort, Familienstand, Staatsbürgerschaft, Wohnadresse. Es dauerte.

Sicherlich gab es schriftlich festgelegte Verfahrensregeln, Richtlinien für den Ablauf einer Befragung. Ganz bestimmt hielt er sich daran. Ob dort auch stand, dass kein weiteres Wort zulässig war? Eine kurze Erklärung, weshalb er mich befragte? Wie lange es dauern würde? War irgendwann vorgesehen, sich zu erkundigen, ob die Angeklagte aufs Klo musste? Ob sie Durst hatte? Ich hätte gerne meinen Anwalt erwähnt, aber ich hatte keinen, und der Herr hinter dem Schreibtisch wusste das.

Ich sagte nichts, beantwortete knapp seine Fragen und schaute, synchron zu seinen Blicken, ebenfalls zum Fenster hinaus. Ein müder Versuch, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Er tippte die Angaben ein, surfte herum, hatte sichtlich Zugang zu irgendwelchen Daten über mich. Dann druckte er etwas aus und verschwand.

Wenig später kam der gleiche Mann wieder herein, nun mit einem Dossier in der Hand.

«Kennen Sie den Mieter in der Wohnung oberhalb Ihrer eigenen, Juri Salnikow?», fragte er mich und schaute mir unerwartet direkt in die Augen. Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet.

«Ja», antwortete ich und sah wieder zum Fenster hinaus. Es schien ihn nicht zu beirren.

«Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?»

«Das weiss ich nicht mehr.»

«Wann waren Sie zum letzten Mal in seiner Wohnung?»

«Wieso glauben Sie, dass ich überhaupt schon einmal in seiner Wohnung war?»

«Waren Sie schon einmal in seiner Wohnung?»

Ich gab auf. Er sollte mir doch einfach erklären, um was es eigentlich ging.

«Weshalb fragen Sie mich das alles? Ich habe versucht, zu meinem eigenen Balkon hochzuklettern. Falls ich irgendwelche Nachbarn gestört habe, werde ich mich entschuldigen. Sie haben doch inzwischen sicher schon herausgefunden, dass ich dort wohne. Weshalb also werde ich befragt?» Es klang kläglicher, als ich wollte.

Aber überraschenderweise ging er auf mich ein.

«In die Wohnung von Juri Salnikow ist eingebrochen worden. Eine Nachbarin hat das bemerkt und uns gerufen. Gleichzeitig sind Sie die Fassade hochgeklettert. Sie verstehen sicher, dass wir abklären müssen, ob es einen Zusammenhang gibt.»

Ich nahm den Beamten zum ersten Mal genauer wahr. Sein Blick auf mich war aufmerksam und angenehm nüchtern. Er war um die vierzig, etwas untersetzt, mit einem weichen Gesicht und braunen, leicht gelockten Haaren. Er wirkte nicht unklug und, genauer besehen, eigentlich sogar sympathisch. Ich war schon nicht mehr sauer, nur noch müde. Ich befürchtete den Beginn eines Stockholm-Syndroms.

«Waren Sie in seiner Wohnung?» Während er die Frage wiederholte, stand er kurz auf und beugte sich über den Drucker, mit gezielten und sorgfältigen Bewegungen. Ein ruhiger, besonnener Mann, ergänzte ich das «sympathisch». Seine weichen Bewegungen passten nicht zu meiner Vorstellung von einem Polizisten.

«Ich war ab und zu da. Wenn Juri Salnikow weg ist, schaue ich nach den Pflanzen. Ich darf sein Klavier benutzen. Ich weiss, wo ein Ersatzschlüssel zur Wohnung liegt. Ich müsste also gar nicht einbrechen. Und wenn schon eingebrochen worden ist, weshalb würde ich dann anschliessend noch einmal die Fassade hochklettern?»

Seine Kopfbewegung schien fast ein Nicken zu sein. Vielleicht war ich doch nicht die Hauptverdächtigte. Vielleicht würde er mich bald einmal auf die Toilette gehen lassen. Vielleicht bekam ich sogar einen Kaffee. Ich war bereit zur Kollaboration.

«Wo war denn Juri, als eingebrochen wurde?», erkundigte ich mich. Juri war nachts eigentlich immer zu Hause, er kam ab und zu spät heim, schlief aber selten auswärts. Der Beamte erklärte mir, der Einbruch sei um drei Uhr in der Früh geschehen. Eine Nachbarin wurde von ungewohnten Geräuschen wach und hatte im Treppenhaus nachgesehen. Sie bemerkte Juris aufgebrochene Wohnungstür und rief die Polizei, die den Einbruch feststellte. Die Täter waren bereits verschwunden, aber auch der Mieter war nicht da. Bisher hatte die Polizei Juri nicht erreicht. Als ich um fünf Uhr an der Fassade hochkletterte, fuhr die Polizeistreife zufällig zu einem zweiten Kontrollgang am Haus vorbei. Meine Wohnung liegt unter Juris Wohnung, ein Stockwerk tiefer.

Ein Einbruch in unser Haus war seltsam. Ich hatte noch nie daran gedacht, nicht in dem Quartier, nicht in dem Haus. Bei uns gibt es nichts zu holen, weder bei mir noch bei meinen Nachbarn, von denen viele von der Sozialhilfe leben. Allerdings war es einfach, über die Fassade einzusteigen. Falls man genügend Zeit dazu hatte.

Ich wurde noch weiter befragt und ich bekam einen Kaffee im Styroporbecher. Der Befrager hatte sich schliesslich vorgestellt, er hiess Stefan Ricklin und arbeitete beim Einbruch. Gegen Mittag fuhren mich zwei uniformierte Polizisten nach Hause. Sie fragten nach dem Ersatzschlüssel zu Juris Wohnung, der wie immer verstaubt auf dem kleinen Mauervorsprung über dem Gangfenster lag. Die Beamten versuchten, Juris Wohnung abzuschliessen, was ihnen nicht gelang. Die Tür war aufgebrochen worden, das Schloss kaputt, und schon vom Gang aus sah ich, dass in der Wohnung ein Chaos herrschte. Im Flur lagen CDS, Bücher und Papiere.

 

Ich dachte, die Polizisten würden die Wohnung nun versiegeln, aber sie versuchten bloss, sie abzuschliessen. Weil ich wollte, dass sie bald gingen, bot ich ihnen an, mich darum zu kümmern. Sie waren einverstanden und folgten mir hinunter zu meiner eigenen Wohnung, als ob sie überprüfen wollten, dass ich tatsächlich dort wohnte. Von der Polizeiwache aus hatte ich einen Schlüsselservice bestellt, der aber noch nicht eingetroffen war. Wir warteten.

Vielleicht wollte ich beweisen, dass ich mich hier auskannte. Jedenfalls gab es keinen Grund, die Tür zu meiner kleinen Rumpelkammer zu öffnen, während wir warteten. Der Abstellraum liegt ausserhalb meiner Wohnung, ein halbhoher, schräger Verschlag unter dem Treppenaufgang.

Direkt hinter der Tür, noch vor meinem eigenen Plunder, stand ein grosser brauner Lederkoffer, den ich noch nie gesehen hatte. Mir gehörte dieser Koffer nicht. Instinktiv griff ich nach der Etikette, die am Handgriff baumelte. In grossen und deutlichen Buchstaben waren darauf Juri Salnikows Name und Adresse zu lesen. Meine Verblüffung ging unter in der Ankunft des Schlüsselservices, von weitem hörbar keuchte der Mann die Treppe hoch. Trotz Anwesenheit von zwei Polizisten musste ich mich ausweisen, aber eine Minute später war meine Wohnung offen.

2

Ich wachte gegen Abend wieder auf und dachte an das, was am Morgen geschehen war. Ich musste einen weissen Plastikstuhl und einen Eimer zurückbringen, und vielleicht wäre es gut, mit ein paar Nachbarn zu sprechen und zu erklären, was ich letzte Nacht an der Fassade gewollt hatte. Ich wohne seit bald zwanzig Jahren in diesem Block. Manche Nachbarn mögen mich für eine Eigenbrötlerin halten, vielleicht auch für eine gescheiterte Existenz. Beides wäre hier in der Gegend nichts Aussergewöhnliches. Ich bin nicht sehr kontaktfreudig, aber ich benehme mich anständig und bin freundlich.

Ich mag das Quartier, in dem ich wohne, Bümpliz, eine Mischung aus Hochhäusern und Industrie, aus ein paar übrig gebliebenen, verlotterten Holzhäusern und in die Jahre gekommenen Mietskasernen. Unser dreistöckiges Haus gehört zu den letzteren, es stammt aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, und die Besitzer haben seit damals nicht viel investiert, mal abgesehen von ein paar Boilern. Vom Küchenfenster aus geht der Blick auf eine Tankstelle und auf mehrstöckige Wohnblöcke. Schön ist der verwilderte Garten hinter dem Haus, der bis zum Turnplatz einer Schule reicht. Die Wohnung ist billig, was sich gerade jetzt als ein Vorteil erwies. Ich hatte seit mehreren Monaten keine richtige Arbeit mehr.

Der Abend dämmerte bereits, als ich frühstückte. Da ich wieder einmal kein Brot hatte, musste ich mich mit Haferflocken begnügen. Sobald ich richtig wach war, wollte ich bei Juri vorbeischauen und von ihm erfahren, was eigentlich los gewesen war. Ich nahm an, dass er inzwischen zu Hause war, auch wenn ich von oben keine Geräusche vernahm. Normalerweise höre ich seine Schritte.

Juri ist Russe und wohnt seit eineinhalb Jahren über mir. Es ist nicht so, dass wir uns wirklich gut kennen, aber seine Nachbarschaft tut mir gut. Juri studiert im dritten Semester Wirtschaft, hat aber, soviel ich weiss, in seiner Heimat bereits einen Abschluss gemacht. Jedenfalls ist er schon einiges über dreissig. Juri lebt zurückgezogen, bis auf seltene Besuche von ein paar Studienkollegen oder anderen Exilrussen. Abends ist er meist zu Hause. Wenn wir uns im Treppenhaus begegnen, laden wir uns manchmal auf eine Tasse Tee ein.

Ich mag Juri. Ich glaube, er erinnert mich an Freddie, einen Buben aus meiner Kindheit. Freddie wohnte im gleichen Haus und er war mein Freund, dass er drei Jahre jünger war, spielte keine Rolle. Stundenlang lagen wir auf der Terrasse über der Bäckerei und betrachteten die Welt. Die Schnecken auf dem Weg zum Basilikum, die Käfer und Ameisen in der Regenrinne, die dicke Nachbarin beim Wäscheaufhängen, die anderen Kinder bei ihren Streifzügen durchs Quartier. Freddie durfte bei der Quartierbande nicht mitmachen, weil er zu klein war, und mich wollten sie nicht, weil ich ein Mädchen war. Freddie war wie ein kleiner Bruder. Juri gegenüber habe ich ähnliche Gefühle, er ist jünger als ich, aber er ist ein Verbündeter, dem ich ohne viele Worte begegne. Weshalb ich wenig über ihn weiss.

Was uns auch verbindet, ist das Klavier. Als Juri hier einzog und es die Treppe hochgetragen wurde, hatte ich seit Jahren keine Tasten mehr berührt. Dann aber liess Juri mich sein Klavier benutzen und eigentlich haben wir uns so kennengelernt. Auch das ist wie in meiner Kindheit. Damals ging ich zu einer Nachbarin, um zu spielen, zu einer älteren Dame, die mich dann auch unterrichtete. Da die Stunden nicht offiziell waren und der Unterricht meine Eltern nichts kostete, erwartete niemand, dass ich übte. Frau Rottuner brachte mich trotzdem dazu, mich mit Fingerübungen abzugeben, und ich wurde überraschend gut. Als ich irgendwann, ich war vielleicht sechzehn oder siebzehn, mit dem Improvisieren begann, war sie zuerst entsetzt. Dann aber überwand sie sich und besorgte mir Noten und Bücher über Jazz und Rock. In meiner Jugend verbrachte ich Stunden in der Nachbarwohnung am Klavier, und später gab es sogar eine Zeit, wo ich mit einer Band unterwegs war.

Juri selbst spielt ausgezeichnet Klavier. Er hat mir erzählt, er habe mit vier Jahren an der öffentlichen Musikschule von Tscherepovez begonnen, von dort stammt er. Und Juri ist ausgesprochen lärmtolerant. Selbst wenn ich stundenlang die gleichen Dinge übe, sitzt er seelenruhig mit seinen Arbeiten für die Uni im Nebenzimmer. Er muss in akustisch schlecht isolierten Plattenbauten aufgewachsen sein. Mein Geklimper stört ihn nicht, das hat er schon oft gesagt.

Ich rief meine Mutter an, in der Hoffnung, dass ich ihr einen Schlüssel überlassen hatte. Das Gespräch wurde langfädig, bis ich schliesslich die Frage nach dem Schlüssel anbringen konnte. Sie hatte einen, und wir vereinbarten, dass ich ihn am nächsten Tag holen kam.

Als ich auflegte, merkte ich, wie kalt mir war. Jetzt im September war es abends schon recht kühl. Ich sass neben dem Telefon auf dem Boden, durch die undichte Balkontür zog eisige Luft herein. Bald schon musste ich Öl beschaffen, ich heize mit einem Ölofen aus den Fünfzigerjahren, den man morgens mit einem Kanister auffüllt. Die Wohnung würde wieder den ganzen Winter über nach Öl stinken.

Juri war nicht da. Ich stieg mehrmals zu seiner Wohnung hoch und klopfte an die offen stehende Tür, betrat die Wohnung aber nicht. Juri kam auch im Laufe des Abends nicht nach Hause.

Drei Tage später war Juri immer noch verschwunden. Ich hatte nichts zu tun, ich drückte mich ums Bewerbungen schreiben. Seit Januar, seit neun Monaten also, hatte ich keine Arbeit mehr, abgesehen von den wenigen Schichten im Obdachlosenheim. Um diesen Aushilfsjob war ich zwar froh, aber ich fand ihn, vor allem die Nächte dort, immer unerträglicher. Ich fühlte mich selbst zu sehr als Sozialfall, um noch Geduld für gestrandete Existenzen aufzubringen. Die Gänge zum Arbeitsamt, das Bewerbungen schreiben, die Absagebriefe im Briefkasten zermürbten mich. Ich hatte es in all den Monaten nie zu einem Bewerbungsgespräch geschafft. Ich bin in solchen Dingen nicht sehr begabt. Trotzdem musste ich eine Lösung finden, jetzt bald. Selbstverständlich war es nun ein Problem, dass ich die Ausbildung abgebrochen hatte.

Es war kalt in der Wohnung und ich hatte kein Geld, um etwas zu unternehmen. Und so langsam machte ich mir wirklich Gedanken darüber, was mit Juri geschehen war. Deshalb holte ich seinen Koffer aus der Abstellkammer und öffnete ihn.

Was wusste ich denn schon von Juri? Ein paar Dinge aus seiner Kindheit. Er hatte erzählt von Ferien in der Ukraine, von Obstgärten voller blühender Pflaumen- und Kirschbäume, in denen er sich als Kind herumgetrieben hatte, und dass sie dort mit einem Gewehr auf Vögel geschossen hatten. Dass im Winter in Tscherepovez, das lag ganz im Norden, nur ein einziger Raum der Wohnung beheizt wurde, und dass sich die ganze Familie abends dort aufhielt. Von einem alten Onkel, der Dinge sah, die niemand sonst wahrnahm, und der ihn als Kind oft erschreckt hatte. Russland hat mich immer schon angezogen, aber mit meinen Bildern von Schlittenfahren und russischen Bauerndörfern lag ich vermutlich um Jahrhunderte hinter der Realität.

Der Koffer war nicht abgeschlossen. Zuerst sah ich einen zerknitterten Seidenschal und ein paar abgelaufene Kindersandalen. Darunter lag ein bestickter Beutel voller Murmeln und Kinderkram mitsamt einem kleinen, kopflosen Püppchen, was ich berührend fand. Dann war da noch ein USB-Stick, der überhaupt nicht in diesen Beutel passte. Ansonsten enthielt der Koffer Fotoalben und Kartonmappen mit Briefen und Dokumenten. Ich blätterte ein paar Briefe durch, konnte aber nichts lesen, schon wegen der kyrillischen Schrift. Die meisten Briefe waren von Hand geschrieben und vom Alter leicht angegilbt. Ich stellte mir vor, wie Juri die Post seiner Mutter und seiner Grossmutter aufbewahrte, Briefe, die er erhalten hatte, als er in irgendeinem Wohnheim in einer fremden russischen Stadt lebte und studierte.

Es war nicht in Ordnung, so in Juris Andenken zu stöbern, ich legte die Briefe zur Seite und sah mir die Fotoalben an, die mir weniger intim schienen. Einen blonden Jungen, der auf fast allen Fotos abgebildet war, identifizierte ich als Juri. Blond, blass, hoch aufgeschossen, auch heute noch sieht Juri so aus. Nicht wie ich mir einen Russen vorstelle. Juri hat kaum Bartwuchs, und selbst mit dreissig wirkt er wie ein zu schnell gewachsener Junge. Juri hatte mir einmal von einer Schwester erzählt, die mit elf Jahren an einer Hirnblutung gestorben war, vermutlich das dünne Mädchen, das auf vielen Fotos neben Juri stand. Ein Album enthielt Bilder von einer Moskaureise, Juri als junger Erwachsener inmitten einer Gruppe von Kameraden. Abgesehen davon, dass mich die Bilder nichts angingen, fingen sie an, mich zu langweilen. Ich kannte die Leute nicht, Pferdeschlitten kamen keine vor, und die Häuser hätten irgendwo stehen können.

Ganz unten im Koffer lag ein Ordner, in dem Juri Diplome und Dokumente aufbewahrte. Ich stellte fest, dass Juri in Kiew Maschinenbau studiert und vor fünf Jahren abgeschlossen hatte. Mit seinem ganzen Namen hiess er Juri Wadimowitsch Salnikow, und er hatte Blutgruppe A. Es war mir unangenehm, seine Sachen durchgesehen zu haben. Ich legte alles zurück in den Koffer und schloss ihn, zögerte dann aber, holte den USB-Stick aus dem Beutel und steckte ihn ein. Wenn schon, dann konnte ich mir auch noch anschauen, was sich darauf befand.

Aber wie kam Juri eigentlich dazu, den Koffer in meine Abstellkammer zu stellen? Als ob er ihn parat gemacht hätte für den Fall, dass er das Haus fluchtartig verlassen musste. Weil es brannte, zum Beispiel, es gibt Leute, die solche Dinge tun. Warum aber hatte er ihn dann bei mir deponiert? Jedenfalls schrieb ich ihm eine Notiz, er solle sich bei mir melden, und heftete sie an seine Wohnungstür, die ich, soweit es das defekte Schloss zuliess, zuzog. Ich musste dringend einen Schlosser bestellen.

Die nächsten Tage verbrachte ich damit, die Wohnung einer alten, alleinstehenden Dame, die vor kurzem verstorben war, zu räumen. Esther, eine Frau, die ich von meinem abgebrochenen Studium her kenne, hatte mich darum gebeten. Sie hatte als einzige Verwandte bereits alles an sich genommen, was sie behalten wollte. Es war deprimierend, wie ich in wenigen Stunden die letzten persönlichen Spuren der alten Dame beseitigte. Mit einem schlechten Gewissen stopfte ich Lippenstifte, Cremen und eine Haarbürste, in der sich noch einzelne weisse Haare der Verstorbenen befanden, respektlos in Müllsäcke, zu abgelaufenen Lebensmitteln aus der Küche, zu bereits benützten Seifen und angebrochenen Zahnpastatuben. Zuerst wollte ich nichts nehmen, dann aber überwand ich mich und füllte zwei Tüten mit unverderblichen Lebensmitteln wie Tee und Reis. Eigentlich konnte ich diese Dinge, im Hinblick auf meine finanzielle Lage, gut brauchen.

Während ich Blusen und Halstücher aus dem Kleiderschrank riss und Teppiche zusammenrollte, dachte ich an Frau Rottuner, meine Klavierlehrerin, die vor zwei Jahren gestorben war. Ich hatte sie noch bis kurz vor ihrem Tod mindestens einmal im Monat besucht, selbst als sie schon im Altersheim war und mich nicht mehr erkannte. Darauf war ich stolz.

Am letzten Abend kam Esther vorbei, und wir gingen gemeinsam in ein thailändisches Restaurant essen. Esther lud mich ein und bezahlte mich auch für meine Arbeit. Sie hat das Sprachstudium, das sie gemeinsam mit mir begann, mit Doktorat abgeschlossen, während ich nach sechs Semestern abbrach. Heute arbeitet sie in einem Sprachinstitut in leitender Stellung. Sowieso leben alle früheren Freunde und Freundinnen inzwischen in besseren Verhältnissen. Ich kann nicht mithalten, nicht beim Einkommen, auch nicht beim Nachwuchs, nicht bei den glücklichen Ehen und nicht bei den stilvoll eingerichteten Wohnungen und Eigenheimen im Grünen. Ich nehme an, einige meiner Bekannten halten mich für eine Versagerin. Normalerweise finde ich, dass das ihr Problem sei, aber in der letzten Zeit lief ich Gefahr, ihr Urteil zu übernehmen. Immerhin habe ich keine gesundheitlichen Probleme, dachte ich, als ich nach unserem Abendessen im Tram nach Hause fuhr. Kaum hatte ich mich dabei ertappt, das in allem Ernst gedacht zu haben, machte ich mir wirklich Sorgen um mich. Früher hatte ich keine solchen Gedanken.

 

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