Liebestrommeln auf Haiti

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Liebestrommeln auf Haiti
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Liebestrommeln auf Haiti

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2016

Copyright Cartland Promotions 1985

Gestaltung M-Y Books

www.m-ybooks.co.uk

1805

„Gleich legen wir an!”

Kirk Horner sprang auf und stellte sich ans Bullauge seiner Kajüte, um einen Blick auf den Hafen von Port-au-Prince zu werfen. Keines der zahlreichen, vor Anker gegangenen Schiffe konnte sich mit dem amerikanischen Schoner messen, auf dem sie sich befanden.

„Das Abenteuer beginnt also”, sagte eine Stimme hinter ihm. Der Amerikaner wandte sich zu dem Sprechenden um. „Überleg es dir noch einmal, André. Komm mit mir nach Boston zurück! Du machst einen unverzeihlichen Fehler, den du bitter bereuen wirst, falls du überhaupt am Leben bleibst.”

„Ich weiß. Du hast es mir oft genug gesagt”, entgegnete André de Villaret. „Aber die Aussicht, mein Leben in Armut zu beschließen, ist auch nicht gerade erhebend.”

„Du bist verrückt. Absolut verrückt. Aber mir wird nichts übrig bleiben, als dir zu helfen. Auch wenn es gegen meine Überzeugung geschieht.”

„Du hast es mir versprochen, noch bevor wir dieses Schiff betraten, und ich werde dich beim Wort nehmen! – Was hast du jetzt vor?”

Kirk Horner trat erneut vor das Bullauge.

Jenseits des Hafens lag die Stadt Port-au-Prince, dahinter die blauen, sich purpurrot in der Ferne verlierenden Berge, die selbst an einem so strahlenden Tag wie diesem düster und bedrohlich wirkten. Alles andere war grün, ein so tiefes, sattes Grün, daß man den Eindruck haben konnte, die weißen Häuser am Rand der Stadt seien von einem phosphoreszierenden Leuchten umgeben, wie es nirgends sonst zu finden war.

„Ich möchte, daß du an Bord bleibst, bis ich den einzigen Menschen aufgetrieben habe, der in der Lage sein wird, dir bei deinem wahnwitzigen Vorhaben behilflich zu sein”, erklärte Kirk energisch.

„Wer ist das?” fragte André de Villaret.

„Er heißt Jacques Dejean und ist Mulatte.”

Also ein Mischling mit einem schwarzen und einem weißen Elternteil. André war schon in Amerika Mulatten begegnet. Auf Haiti, hatte Kirk ihm gesagt, verachteten Mulatten und Schwarze sich gegenseitig, und die Schwarzen haßten die Mulatten fast so sehr wie die Weißen.

Kirk hatte nicht unrecht, wenn er behauptete, es sei für einen Franzosen heller Wahnsinn, im Augenblick auf der Insel aufzukreuzen.

Vor einem Jahr hatte Jean-Jacques Dessalines, kommandierender General der haitischen Armee, die mit bestialischer Grausamkeit gegen die französischen Pflanzer und so gut wie jeden auf der Insel lebenden Weißen vorgegangen war, sich selbst zum Herrscher von Haiti ernannt.

Eine seiner ersten Amtshandlungen nach den Unabhängigkeitsfeiern war es gewesen, für seine Armee neue Uniformen zu entwerfen.

Eine Firma in Boston hatte zweitausend Stück angefertigt und sie auf den Schoner verfrachtet, mit dem André de Villaret und sein Freund Kirk Horner nach Haiti gesegelt waren.

Kirk reiste im Auftrag des Präsidenten von Amerika und sollte über die Zustände auf der Insel berichten.

Den Amerikanern lag viel daran, die wirtschaftlichen Beziehungen wieder aufzunehmen, die unter dem verstorbenen General Ledere, dem Schwager Napoleon Bonapartes, abgebrochen worden waren.

Der französische Vizekonsul in Philadelphia hatte nicht nur heftig dagegen protestiert, daß die Amerikaner mit Dessalines Armee Geschäfte machten und ihm Waffen und Munition lieferten, sondern klagte sie auch an, farbige Amerikaner als Soldaten zu entsenden, die zusammen mit den Rebellen gegen die Überreste der Franzosen und Spanier kämpften. Diese Hilfsdienste wurden in Baumwolle, Kupfer, Holz, ja sogar in Dollars bezahlt. Zudem besaß Dessalines einen Silbervorrat, der sich sehen lassen könnte.

Die Insel war in einer Weise ausgebeutet worden, von der man sich in anderen Ländern keine Vorstellung machte. Kirk Horner war auf einiges gefaßt, als er jetzt, nach zweijähriger Pause, wieder haitischen Boden betrat. Was er über Dessalines Tyrannenherrschaft wußte, ließ ihn auch für seinen Freund das Schlimmste befürchten.

Die beiden Männer kannten sich seit einigen Jahren. Kirk war auf einer seiner Europareisen Gast bei Andrés Familie gewesen. Vielleicht hatten sogar seine begeisterten Schilderungen Andrés Interesse an der Insel geweckt, abgesehen von der Tatsache, daß für André durch dessen Onkel, der als wohlhabender Pflanzer während der Revolution umgekommen war, persönliche Bindungen dorthin bestanden.

Dieser Onkel hatte sein Leben nicht in den ersten Wirren von 1791 verloren, da die Sklaven der de Villaret Plantage nie Grund gehabt hatten, sich über menschenunwürdige Arbeitsbedingungen zu beklagen wie andere. Andrés Onkel und seine drei Söhne waren, soweit Kirk bei seinem letzten Besuch auf der Insel in Erfahrung gebracht hatte, erst vor kurzem ermordet worden. Er hatte nicht schlecht gestaunt, als André vor zwei Monaten in Boston aufgetaucht und mit dem Wunsch an ihn herangetreten war, ihn auf die Insel zu begleiten.

„Das ist unmöglich”, hatte er ihn gewarnt. „Jean-Jacques Dessalines hat geschworen, jeden Weißen zu töten, der ihm über den Weg läuft. Er haßt alle Weißen. Von dem Augenblick an, wo du haitischen Boden betrittst, ist dein Leben keine zehn Cents mehr wert.”

Er hatte ihm Dessalines beschrieben. Untersetzt, breitschultrig, stiernackig, einem Gorilla nicht unähnlich. Dicke, wulstige Lippen, eine unförmige, plattgedrückte Nase mit riesigen Nasenlöchern, eine niedere Stirn, darüber eine wirre Mähne krauser, bis zu den Augenbrauen reichender Haare.

„Klingt nicht ausgesprochen attraktiv”, hatte André lachend erwidert.

„Das ist alles andere als lustig”, war Kirks Antwort gewesen. „Er verbreitet Terror unter seinen eigenen Leuten. Wenn er hysterisch wird, redet er nur noch von Blut und Rache.”

„Er soll den Weißen seinen Schutz zugesichert haben, falls sie sich ergeben, und dann alle getötet haben, die ihm vertrauten”, sagte André.

„Bei einem Blutbad in der Stadt Jeremie hat er über 400 Männer, Frauen und Kinder umbringen lassen”, pflichtete Kirk ihm bei. „Sogar sein Adjutant Christophe war entsetzt über sein Vorgehen.”

Nach einer Pause fuhr Kirk fort: „Überrascht es dich, daß der amerikanische Präsident bleich wurde, als man ihm sagte, einer von Dessalines Leuten habe bei der Aufstellung der Unabhängigkeitserklärung unter großem Beifall verkündet, daß man als Pergament für diese Urkunde die Haut eines weißen Mannes brauche, seinen Schädel als Tintenfaß, sein Blut als Tinte und ein Bajonett als Feder?”

„Mir läuft es kalt den Rücken runter! Und trotzdem will ich versuchen, den Schatz zu finden, den mein Onkel auf seiner Plantage vergraben hat.”

Kirk wußte, daß dies der einzige Zweck von Andrés Reise war. Seit dem Tod seines Vaters trug André den Titel eines Grafen de Villaret und galt als Oberhaupt der Familie, ein Gedanke, an den er sich nur mit Mühe gewöhnen konnte.

Sein Großvater hatte drei Söhne gehabt, von denen Andrés Vater der jüngste war.

Als es in Frankreich Schwierigkeiten mit den Bauern gegeben hatte, war der zweite Sohn, Philippe, in den siebziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts nach Haiti ausgewandert.

Er schickte viele Briefe und berichtete von dem Reichtum, den er durch den Anbau von Baumwolle und Kaffee erworben hatte.

In Frankreich war es inzwischen zur Revolution gekommen, und der alte Graf war zusammen mit seinem ältesten Sohn unter der Guillotine gestorben. Das bedeutete, daß nun Philippe Oberhaupt der Familie wurde, während es seinem jüngeren Bruder François mit seiner Frau, einer Engländerin, und dem Sohn André gelang, nach England zu emigrieren.

André war auf englischen Schulen erzogen worden und hatte in England studiert. Die meisten seiner Freunde waren Engländer. Was sein Vater besaß, hätte jedoch niemals ausgereicht, ein einigermaßen standesgemäßes Leben zu führen. Nur die Großzügigkeit seiner mütterlichen Verwandten sicherte ihnen einen gewissen Komfort.

Kirks Nachricht von der Ermordung Philippe de Villarets machte Andrés Vater zum Oberhaupt der Familie, und als dieser 1803 starb, übernahm André seine Aufgabe, was ihm jedoch keinerlei materielle Vorteile einbrachte.

Damals hatte er begonnen, die Briefe seines Onkels sorgfältig zu studieren. Der letzte, kurze Zeit vor dem Massaker geschrieben, dem sein Onkel zum Opfer gefallen war, schien ihm besonders bedeutsam. Es hieß darin:

Hier wird es langsam bedrohlich. Ich höre täglich von neuen Ausschreitungen auf befreundeten Plantagen. Man ist nicht nur in Gefahr, sein Leben zu verlieren; sie foltern und schlachten die Männer ab wie Vieh; die Frauen werden vergewaltigt und kommen als Sklaven auf die Plantagen der neuen schwarzen Besitzer.

Wir schmieden Fluchtpläne und verwerfen sie, weil alles nutzlos ist. Wer ihre Aufmerksamkeit erregt, beschwört sein Schicksal möglicherweise früher herauf als ihm lieb ist. Es wird nicht mehr lange dauern, bis auch wir an der Reihe sind. '

Dann folgte der entscheidende Satz, den André wieder und wieder gelesen hatte:

,Ich lege meine Hoffnung in den Boden dieser Insel und vertraue mein Wohl dem Schutz und Schirm des Allerhöchsten.’

„Damit”, so vermutete André gegenüber Kirk, „wollte Onkel Philippe meinen Vater wissen lassen, daß er sein Vermögen in der Nähe einer Kirche vergraben hatte.”

„Mag sein”, erwiderte Kirk. „Alle Siedler haben Geld und Wertsachen irgendwo vergraben. Dessalines ist mächtig scharf auf alles und foltert sie entweder so lange, bis sie das Versteck verraten, oder sucht selbst, bis er es gefunden hat. Seine Schatzkammern sollen voll sein von Dingen, die er auf diese Weise an sich gebracht hat. Allein aus Jeremie hat er fünfundzwanzig mit Beute beladene Maultiere wegführen lassen. In Aux Cayes soll es noch viel mehr gewesen sein, das meiste davon hatten sie aus dem Boden gebuddelt.”

 

„Ich muß es versuchen”, erklärte André entschlossen. „Ich gelte nicht umsonst als unverbesserlicher Optimist.”

„Ein Optimist mit ausgesprochen geringer Lebenserwartung”, entgegnete Kirk. „Es wird dir ergehen wie Tausenden deiner Landsleute.” Dann lachte er. „Zum Glück siehst du wenigstens nicht aus wie ein Franzose! Dafür bist du um einiges zu groß.”

„Du vergißt, daß meine Mutter Engländerin ist”, wandte André ein.

Zweifellos schien die Gräfin ihrem Sohn die männlichen Eigenschaften ihrer Familie vererbt zu haben. André hatte das schwarze Haar und die dunklen Augen seines Vaters, aber die in der Familie seiner Mutter übliche Länge. Breite Schultern, schmale Hüften und ein durchtrainierter Körper waren ideale Voraussetzungen, um in der Umgebung des Prinzen von Wales eine Rolle zu spielen.

André schien außerdem über ein gewisses Maß an Körperkräften zu verfügen, die aber, wie Kirk mit Bedauern feststellte, kaum ausreichen würden, auf Haiti seine weiße Haut zu retten.

Er blickte wieder durch das Bullauge und sagte: „Wenn wir Glück haben, kommt Jacques Dejean an Bord, sobald er unser Schiff einlaufen sieht. Er erwartet mich schon seit zwei Monaten.”

„Du scheinst überall Freunde zu haben”, meinte André leicht spöttisch.

„In meinem Beruf kommt man ohne Freunde nicht aus.”

„Sag lieber, du brauchst Spione, die dir zutragen, was vorgeht, aber nichts für ungut. Solange deine Freunde auch mir nützlich sind, soll mir alles recht sein.”

„Du bist reichlich egoistisch”, antwortete Kirk lachend.

Er kannte André so weit, um zu wissen, daß er alles andere hintenanstellen würde, wenn es um die Verfolgung eines Ziels ging.

Kirk verließ die Kabine. André blieb mit dem in seiner Familie wohl bekannten verbissenen Gesicht zurück, das er aufzusetzen pflegte, wenn er zum Äußersten entschlossen war. Er hatte diese Reise nicht nur gegen den Widerstand seiner Mutter angetreten und sie stündlich neu gegenüber Kirk verteidigt, sondern wußte selbst sehr wohl, auf was er sich eingelassen hatte.

Die Revolution der Sklaven auf Haiti, die Tatsache, daß die Stadt Le Cap in Flammen aufgegangen war, als General Ledere versucht hatte, dort zu landen, sein Tod am Gelbfieber und der erneute Ausbruch des französisch-britischen Krieges war für alle Franzosen ein Schock gewesen, obwohl sie nach der Art, wie sie ihre Sklaven behandelten, früher oder später damit hatten rechnen müssen.

Die Sklaven besaßen in Dessalines und Henri Christophe zwei hervorragende Anführer. Mochte Dessalines auch ein Ungeheuer sein, so war er doch ein tapferer Soldat und unerschrockener Kämpfer. Der gemäßigtere Christophe hatte seinen ganzen Einfluß geltend gemacht und wenigstens einigen Franzosen das Leben gerettet, vor allem Ärzten und Priestern, die sich den Schwarzen gegenüber stets loyal verhalten und sie als Menschen behandelt hatten.

André holte tief Luft.

„Wenn ich sterben soll, sterbe ich!” sagte er verbissen zu sich selbst. „Hier ist schon so viel französisches Blut geflossen, daß es auf ein paar Tropfen mehr nicht ankommt. Die Sache ist den Einsatz wert.”

Die Kabinentür flog auf. Der Mann, der hinter Kirk die Kabine betrat, mußte Dejean sein. In England hätte André ihn allenfalls für braungebrannt gehalten. Seine verdächtig krausen Haare und die schwarzen Augen jedoch ließen keinen Zweifel daran, daß es sich um einen Mulatten handelte. Seine Kleidung stand derjenigen der beiden anderen Männer in nichts nach. Die tadellos sitzende Musselinkrawatte war elegant gebunden und der nur um eine Spur zu leuchtend blaue Rock saß fast zu tadellos.

„Jacques”, sagte Kirk, „darf ich dir meinen Freund André vorstellen? Er braucht deine Hilfe, und ich habe ihm versprochen, daß du ihm jede nur mögliche Unterstützung gewähren wirst.”

„Deine Freunde sind auch meine Freunde”, antwortete der Mulatte. „Du weißt, daß ich alles für dich tun würde.”

Das klang glaubwürdig. André hatte den Eindruck, daß dem Mann zu trauen war. Als hätte er Andrés Zustimmung heischenden Blick verstanden, erklärte Kirk: „Ich habe Jacques in einem Sturm auf See das Leben gerettet. Aus Dankbarkeit hat er mir seine Dienste angeboten, und er wird sein Wort halten, auch dir gegenüber.”

„So ist es”, bestätigte Jacques. „Was kann ich also für Sie tun, Monsieur?”

André und Kirk waren überrascht. Durch diese Anrede hatte Jacques unmißverständlich kundgetan, daß er in André den Franzosen erkannt hatte.

Kirk überzeugte sich davon, daß die Kabinentür geschlossen war, und sagte dann: „Sieht man meinem Freund seine Nationalität so deutlich an?”

„Ich bin ein guter Menschenkenner”, entgegnete der Mulatte. „Schon die Tatsache, daß er um meine Hilfe bittet und nicht bereit ist, sich an Deck zu zeigen, machte mich stutzig. Als ich ihn sah, war mir klar, daß er nicht Amerikaner sein konnte.”

André lachte. „Ich hatte die Absicht, mich als Engländer auszugeben, aufgrund der Tatsache, daß mein Blut zur Hälfte englisch ist.”

„Mein Blut ist zur Hälfte weiß”, antwortete Jacques, „trotzdem haben mich die Weißen nie als ihresgleichen betrachtet, außer wenn sie meine Dienste benötigten.”

„Gut. Ich gebe zu, daß ich Franzose bin. Mein Name ist André de Villaret.”

Der Mulatte zögerte. Dann sagte er: „Sind Sie mit den de Villarets verwandt, deren Plantage im Tal der Black Mountains lag?”

„Ja.”

„Sie sind alle tot.”

„Das weiß ich seit zwei Jahren. Kirk hat es mir gesagt.”

„Warum sind Sie dann hergekommen?”

André beschloß, ihm klaren Wein einzuschenken.

„Weil ich glaube, daß mein Onkel Geld und andere Wertsachen auf seinem Besitz vergraben hat. Da ich der einzige Erbe bin, gehört das Vermögen mir.”

„Sofern unser Herr und Gebieter Ihnen etwas davon übrig gelassen hat”, meinte Jacques skeptisch.

„Gibt es einen Weg, herauszufinden, ob er die Sachen entdeckt hat? Wenn dies noch nicht geschehen ist, möchte ich die Plantage meines Onkels aufsuchen.”

„Er möchte sie aufsuchen!” Jacques Dejean schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Als ob das so einfach wäre! Was Sie vorhaben, ist nicht ungefährlich.”

„Nun komm schon, Jacques”, mischte sich Kirk ein, „wenn einer André helfen kann, bist du es. Das weißt du so gut wie ich. Es muß doch in Erfahrung zu bringen sein, wen Dessalines geschröpft hat und wie hoch. Ich hörte, er soll in den Bergen ein wahres Beutelager eingerichtet haben.”

„Das stimmt”, gab Jacques zu. „Aber er kann weder lesen noch schreiben und führt daher auch keine Bücher. Ich glaube kaum, daß er irgendjemandem genügend traut, um ihn mit der Aufstellung seiner Schätze zu beauftragen.”

Durch ein Achselzucken gab André zu verstehen, was er von Erwägungen dieser Art hielt.

Schließlich sagte Jacques: „Es gibt einen Menschen, der uns Auskunft darüber geben könnte, wie weit die de Villarets in Dessalines Schatzkammer vertreten sind.”

„Wer soll das sein?” fragte Kirk.

„Orchis!”

„Orchis? Willst du damit sagen, daß sie hier ist?”

Jacques nickte.

„Sie hat sich in General Leclercs Villa häuslich eingerichtet und tut, als sei sie Napoleon Bonapartes Schwester persönlich, die dort wohnte, solange sie mit Ledere verheiratet war, und die seit seinem Tod als Ihre Kaiserliche Hoheit Pauline Borghese in Europa residiert.”

„Nicht zu fassen!” rief Kirk aus.

„Kann mir bitte jemand erklären, wer Orchis ist?” fragte André.

Kirk lachte. „Wenn du lange genug auf Haiti bist, wirst du es bald selbst wissen.”

„Wer ist sie?”

„Sie ist Dessalines Geliebte”, erklärte Kirk. „Er hat an die zwanzig. Aber sie versteht es am besten mit ihm. Jede von ihnen bezieht ein regelmäßiges, nicht unbeträchtliches Gehalt, oder wie du es nennen willst, aus der Staatskasse. Nur von Orchis heißt es, sie habe den ganzen Säckel mitgehen lassen.”

Jacques lachte lauthals.

„Das ist der richtige Ausdruck, alter Freund. Was sie seit einem Jahr treibt, geht entschieden zu weit. Am liebsten würde sie sich zur Königin von Haiti krönen lassen. Dabei vergißt sie, daß Dessalines schon eine Frau hat.” Immer noch lachend fuhr Jacques fort: „Zum Trost spielt sie auf vollendete Weise die Rolle Prinzessin Paulines. Sie empfängt ihre Anbeter zum Frühstück und am späten Abend. Um diese Zeit müßte Monsieur de Villaret ihr seine Aufwartung machen.”

„Ich dachte, das sei nicht möglich”, wandte Kirk ungläubig ein.

„Nicht als er selbst, natürlich”, verbesserte sich Jacques. „Als Weißer würde er nicht weit kommen. Es gibt zwar noch einige weiße Männer im Hafen, amerikanische Büchsenmacher und Munitionsarbeiter zum größten Teil. Aber nicht einmal sie sind bei Dessalines gern gesehen. Jeder Weiße ist schon wenige Meilen vor der Stadt ein toter Mann.”

„Was schlägst du also vor?” fragte Kirk.

Jacques betrachtete André kritisch von Kopf bis Fuß.

„Er könnte einen nicht unüblen Mulatten abgeben.”

„Einen Mulatten?” schrie André entsetzt auf.

„Warum nicht? Zum Glück haben Sie schwarze Haare. Wir werden Ihnen ein paar Locken verpassen, und mit den Augen gibt es auch keine Probleme. Wären sie blau oder grau gewesen, hätten wir Schwierigkeiten bekommen. Wenn Sie erst dieselbe Hautfarbe haben wie ich, dürfte alles klargehen.”

„Ich hatte eigentlich nicht an eine Maskerade gedacht”, wandte André betreten ein.

„Dann werden Sie sterben”, erklärte Jacques ohne Umschweife. „Und wenn Dessalines oder einer seiner Leute die Hände im Spiel hat, wird es kein sehr angenehmer Tod sein, der auf Sie wartet.”

Jacques Dejean hatte recht. Niemand auf Haiti durfte auch nur einen Augenblick lang glauben, er, André, sei Weißer oder gar Franzose.

„Ich werde jetzt nach Hause gehen und ein Bräunungsmittel holen, das aus der Rinde eines ganz bestimmten Baumes gewonnen wird. Es ist genau das Richtige, um Ihnen das Aussehen eines Mulatten zu geben. Und wenn ich Ihnen raten darf, Monsieur, tragen Sie Ihre auffallendsten und verrücktesten Kleider. Wir Mulatten haben's gern so bunt wie möglich.” Schon halb unter der Tür fragte er: „Verstehen Sie Kreolisch?”

„Ich bemühe mich seit einem Jahr darum. Allerdings nur mit Hilfe von Büchern. Aber hier auf dem Schiff gibt es einen Kreolen, bei dem ich Unterricht genommen habe.”

„Gut so”, sagte Jacques. „Kirk wird Ihnen bestätigen, daß wir Mulatten größtenteils gebildete Leute sind. Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen meine Zeugnisse, obwohl ich glaube, daß Ihnen mein Kopf dienlicher sein wird!”

Bei Einbruch der Dunkelheit wurden zwei Mulatten von Bord des amerikanischen Schoners gerudert.

André war von oben bis unten mit einer Flüssigkeit eingefärbt, deren Gestank ihm unangenehm in die Nase gestiegen war, als Jacques, den Schwamm in der Hand, sich angeschickt hatte, die Prozedur vorzunehmen.

„Wenn das Zeug erst auf der Haut ist, verliert sich der Geruch sofort”, hatte der Mulatte ihn beruhigt. „Aber mit der braunen Haut allein ist es nicht getan. Sie müssen lernen, wie ein Mulatte zu denken.”

Zum ersten Mal schwang etwas wie Bitterkeit in Jacques Worten, als er fortfuhr: „Wir Mulatten haben von den Weißen viele Demütigungen erfahren, daß wir uns notgedrungen auf die Seite der Schwarzen schlagen mußten.”

„Das habe ich gehört”, pflichtete André ihm bei.

„Die Schwarzen haben uns nie gemocht, geschweige denn uns vertraut. Aber weil wir gebildeter sind als sie und oft sogar das Wissen des weißen Mannes haben, nehmen wir wichtige Stellungen ein und sind ihnen nützlich. Gleichzeitig aber leben wir in einer Art Niemandsland zwischen Weiß und Schwarz. Keine sehr glückliche Situation.”

„Ich verstehe”, sagte André. „Umso mehr schätze ich es, daß Sie mir helfen wollen.”

Er betrachtete sein Spiegelbild kritisch. Die Verwandlung war vollkommen. Die Hautfarbe wirkte täuschend echt. Ob man ihm den Schwindel abnehmen würde?

Jacques schien seine Gedanken erraten zu haben.

Er sagte: „Sie müssen eins werden mit Ihrer Rolle, Monsieur. Sie sind jetzt Mulatte – Ihrer Sache nie ganz sicher und immer auf Verteidigung eingestellt.” Er lächelte, als er hinzufügte: „Immer ein bißchen geladen, wie man so schön sagt. Das wird uns Mulatten schon in die Wiege gelegt.”

 

„Und wo komme ich her? Was für einen Werdegang habe ich?”

„Ihre Heimat ist Haiti. Aber Sie sind in Amerika aufgewachsen und auch dort erzogen worden”, antwortete Jacques. „Sie heißen André – es besteht kein Grund, das zu ändern. Sie können meinetwegen sogar zugeben, daß Sie ein de Villaret sind. Wenn Ihr Vater Weißer war, würden Sie ohnehin seinen Namen angenommen haben und nicht den Ihrer Mutter.“

„Ich soll also Philippe de Villaret als meinen Vater angeben, obwohl er eigentlich mein Onkel ist?”

„Warum nicht? Jeder wird dann verstehen, daß Sie sich für die de Villaret Plantage interessieren, und trotzdem wird jeder wissen, daß Sie als Mulatte keine Ansprüche haben.”

„Das ist schlau”, meinte Kirk. Er war eingetreten, als André letzte Hand an seine Kleidung legte.

„Sehr schlau”, mußte André zugeben. „Doch wie geht es weiter?”

„Wir werden uns an Land begeben. Sie sagen, Sie seien in Amerika gewesen und soeben zurückgekehrt. Das berechtigt Sie, zahlreiche Fragen nach den Dingen zu stellen, die sich in Ihrer Abwesenheit ereignet haben.

Er hielt einen Augenblick inne. Dann fuhr er fort: „Orchis kennen Sie nicht, haben aber von ihr gehört. Bevor sie sich in der Villa Ledere niederließ, war sie ziemlich unbedeutend.”

„Hat Dessalines sie dort einquartiert?” fragte Kirk.

„Das wird sie selbst besorgt haben”, vermutete Jacques. „Sie ist fest entschlossen, die große Dame zu spielen. Wenn ihr Voodoo seine Wirkung tut, wird Madame Dessalines eines plötzlichen Todes sterben und Orchis den Thron besteigen. Das glaubt sie wenigstens.”

„Ist Dessalines derart hingerissen von ihr?” wollte Kirk wissen.

„Er liebt kluge Frauen, die Stil haben und sich benehmen können. Auf Orchis trifft das alles zu. Außerdem sind die Götter auf ihrer Seite, und deren Macht ist nicht zu unterschätzen.”

„Sprechen Sie von Voodoo?” fragte André.

„Wovon sonst?”

„Ich dachte, Voodoo sei verboten.”

„Ist es auch. Sowohl Dessalines als Christophe haben sich dagegen ausgesprochen. Sie sagen, es schmecke nach Unterwerfung und sei eine Religion für Sklaven.”

„Und trotzdem besteht der Kult weiter?”

„Natürlich besteht er weiter”, antwortete Jacques.

„Voodoo gehört nun einmal zum schwarzen Mann und zu jedem anderen Haitianer. Keiner kann hier mehr ohne Voodoo sein. Selbst den Katholiken ist dieser Zauber so in Fleisch und Blut übergegangen, daß niemand weiß, wo Voodoo aufhört und der Katholizismus anfängt.”

„Das kann ich nicht glauben!” rief André aus.

„Sie werden es erfahren”, antwortete Jacques gelassen. „Und jetzt auf zu Madame Orchis, der hübschesten Schlange seit Adam und Eva.”

André verabschiedete sich von Kirk. Er hatte Mühe, seine Aufregung zu verbergen. Jetzt begann das große Abenteuer. Er würde seine Kräfte mit Dessalines messen und, wenn es sein mußte, mit allen Tyrannen der Welt.

Wie er von Jacques gehört hatte, war Dessalines nicht in der Stadt. Er leitete eine militärische Aktion im spanisch besetzten Teil der Insel.

„Wird er siegen?” hatte Kirk gefragt.

„Ich bezweifle es”, war Jacques Antwort gewesen. „Die Spanier sind gute Soldaten und verstehen sich zu verteidigen.”

Solange sie auf dem Schiff gewesen waren, hatte Jacques aus seiner Abneigung für den Diktator keinen Hehl gemacht. Aber sobald sie den Boden der Insel betreten hatten, spürte André, daß sein Begleiter auf der Hut war. An der Uferpromenade bestiegen sie eine Kutsche. Obwohl es zweifelhaft war, daß der Kutscher ihrer Unterhaltung folgen konnte, sprach Jacques auf der Fahrt durch die engen Gassen mit den Holzhäusern zu beiden Seiten nur über belanglose Dinge.

Sie hielten vor Jacques Haus, einem grün gestrichenen mächtigen Bau aus Holz, um Andrés Gepäck abzuladen.

„Port-au-Prince macht sich”, meinte Jacques, „aber jeder fürchtet einen neuen Überfall der Franzosen und scheut sich, sein Geld für Dinge auszugeben, die ein Raub der Flammen oder ein lohnendes Ziel für Kanonen sein könnten.”

André ahnte, daß sich diese Bemerkung darauf bezog, daß Christophe den Hafen Le Cap auf der anderen Seite der Insel in Brand gesteckt hatte, als die französische Flotte in Sicht gekommen war.

General Ledere hatte bei seiner Landung alles in Schutt und Asche gefunden, ein Anblick, der seine Frau Pauline in Tränen ausbrechen ließ. Die Villa in Port-au-Prince, die nun von Orchis bewohnt wurde, war nur ein kümmerlicher Ersatz gewesen.

Als sie das reich verzierte, eiserne Tor der Villa passiert hatten, näherten sie sich auf einem von üppiger tropischer Vegetation gesäumten Weg einem grauen Gebäude aus Stein mit säulengeschmücktem Eingang. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, daß noch vor kurzer Zeit französische Wachposten in ihren rotweißen Uniformen hier strammgestanden hatten.

Jetzt gab es nur einige Mulatten in scharlachroter Livree, die sie höflich begrüßten und über mehrere Flure und Galerien zu den Räumlichkeiten von Madame geleiteten.

Einer halblaut geäußerten Vermutung Jacques zufolge hatte die neue Hausherrin nur deshalb Mulatten als Bedienstete, weil auch ihre Vorgängerin Mulatten hübscher und interessanter gefunden hatte als die schneidigsten französischen Offiziere.

Pauline hatte ihre Lakaien in gut sitzende Uniformen gesteckt, deren Schnitt ihre Vorliebe für männlichen Charme nicht verleugnen konnte. Wie leicht festzustellen war, hatte Orchis auch hier ihrem Idol ungeniert nachgeeifert. Durch einen von strengen ionischen Säulen flankierten griechischen Portikus betraten sie den Garten an der Rückseite des Hauses. Sie standen vor dem achteckigen Becken eines Springbrunnens, in dem kristallklares Wasser sprudelte. Hinter exotischen Sträuchern und hohen Bäumen öffnete sich ein zweiflügeliges Tor mit reicher Holzschnitzerei. Hier hielt Orchis Hof.

Sie wurden in aller Form angemeldet und fanden sich in einem Raum, dessen ganze rückwärtige Wand von einem riesigen Bett eingenommen wurde.

Auf diesem Bett, inmitten zahlloser spitzenbesetzter Seidenkissen, thronte Orchis in einem Negligé aus zartgelbem Chiffon, das ihren schlanken Körper verhüllte und doch nicht verbarg.

Die Einrichtung bestand aus schweren, goldverzierten Empiremöbeln, zwischen denen sich ein rundes Dutzend Männer unterschiedlichster Art aufhielt. Die meisten waren schwarz, nur wenige Mulatten. Fast alle trugen die reich bestickte Uniform der neuen Armee.

Jeder von ihnen war offensichtlich bemüht, sich ohne Rücksicht auf die anderen einen Platz in der Nähe ihrer gemeinsamen Angebeteten zu sichern und ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Alle verschlangen sie mit Blicken und zeigten offen ihre Bewunderung.

Trotzdem schien Orchis hocherfreut über die beiden Neuankömmlinge und gab ihnen ein Zeichen näherzutreten.

Sie war in der Tat ungewöhnlich schön und so aufregend wie ihr Name. Ihre bloßen Arme schimmerten golden, und die wohlgeformten, herausfordernd geschwungenen Lippen zeugten von unverhohlener Begierde und wohlerprobter Verschwiegenheit.

Ihren grünen wissenden Augen schien nichts verborgen zu bleiben. Der Mann, der diesen Blicken sein Herz öffnete, war verloren.

Alles an ihr war reizvoll und verführerisch. Ein wildes, ungezähmtes Geschöpf aus dem Dschungel, katzenhaft und unberechenbar.

Ihr freudig ausgerufenes: „Jacques!” war wie die zärtliche Liebkosung einer schönen Frau, dazu angetan, jeden Nerv im Körper eines Mannes vibrieren zu lassen.

„Wo hast du so lange gesteckt, Jacques?”

„Ich war drüben in Le Cap”, beeilte sich der Angesprochene zu erklären. „Aber seit heute bin ich zurück und bringe dir jemanden, den du noch nicht kennst. Er wird dir das Neueste aus Amerika berichten.”

„Aus Amerika?” Ihre Blicke richteten sich auf André, erfaßten jeden Zentimeter seiner Gestalt und gaben ihm das lähmende Gefühl, nackt vor ihr zu stehen.