Irrwege der Liebe

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Irrwege der Liebe
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Irrwege der Liebe

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2017

Copyright Cartland Promotions 1975

Gestaltung M-Y Books

www.m-ybooks.co.uk

Irrwege der Liebe

Die Tür öffnete sich. Ein Gentleman trat hastig ins Zimmer und schloß hinter sich ab.

Als er sich umwandte, sah er eine junge Frau. Sie hatte sich von einem Tisch am Fenster erhoben und beobachtete den Mann sichtlich verängstigt.

„Erschrecken Sie nicht“, beruhigte er sie. „Ich möchte nur für einen Augenblick hier Zuflucht suchen.“

Die Angst in ihrem blassen Gesicht wich einem Ausdruck der Erleichterung. Als der Gentleman auf sie zuging, meinte er zu seiner Überraschung sogar etwas wie Erkennen in ihrem Blick und dem leichten Lächeln um ihre Lippen zu entdecken. Sie setzte sich wieder an den Tisch und nahm ihre Handarbeit auf.

Irgendwie kam ihm die junge Frau nun auch bekannt vor.

„Kann es sein, daß wir uns schon einmal begegnet sind?“ fragte er.

Es schien undenkbar. Der Gentleman, hochgewachsen, breitschultrig und ungewöhnlich gutaussehend, war nach der letzten Mode gekleidet. Sein Abendanzug aus blauem Satin saß faltenlos, die Spitzen seines Kragens reichten ihm bis ans Kinn, und die Eleganz seiner meisterhaft gebundenen, schneeweißen Krawatte war unübertrefflich.

Die junge Frau dagegen - eigentlich mehr ein junges Mädchen - sah unscheinbar, fast mittelmäßig aus. Ihre Haare trug sie straff aus der Stirn zurückgekämmt und zu einem dicht geflochtenen Nackenknoten gesteckt. Ihr sehr schlichtes, altmodisches Kleid war aus billigem dunklen Stoff. Und als sie bei dem unerwarteten Erscheinen des Fremden aufgesprungen war, hatte sie eilig nach einer Brille gegriffen, die neben ihr auf dem Tisch lag.

Jetzt schien sie allerdings keine Verwendung mehr dafür zu haben, denn sie legte die Brille wieder fort, bevor sie ihre Nadel aufnahm und geschickt die Stickerei an einem Abendkleid aus blaßrosa Crêpe fortsetzte.

„Warum sollte ich Sie kennen?“ meinte der Gentleman nachdenklich, als sie keine Antwort gab.

Sie blickte zu ihm auf. Ihre Augen blitzten ihn spöttisch an - unerwartet große Augen, die im Kerzenlicht grün schimmerten.

„Natürlich!“ rief der Gentleman. „Diana! Gütiger Himmel! Dich hätte ich hier am allerwenigsten erwartet.“

„Wie schmeichelhaft, daß du mich erkennst, Cousin Victor“, entgegnete sie lächelnd.

Der Marquis of Lynche zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.

„Diana, bei allem, was heilig ist, ich habe mich oft gefragt, was aus dir geworden ist!“

„Papa verließ Lynche nach dem Tod deiner Mutter“, erwiderte Diana. „Er bekam Streit mit der nächsten Marquise.“

„Wer nicht?“ entgegnete der Marquis. „Aber wo seid ihr hingezogen?“

„Nach Ovington, auf den Besitz des Herzogs“, antwortete Diana. „Bis dann auch Papa starb.“

„Mein aufrichtiges Beileid“, sagte der Marquis förmlich. „Aber was tust du hier?“

„Ich bin die Gouvernante der kleinen Tochter Ihrer Gnaden.“

„Gouvernante!“ rief der Marquis schockiert. „Könntest du nicht etwas Besseres tun?“

Diana sah ihn an.

„Und was schlägst du für eine junge Waise ohne Geld und ohne Beziehungen vor?“

„Die Familie hätte dir helfen können!“

„Papa hatte alle Verbindungen zu Mamas Verwandtschaft abgebrochen“, erklärte Diana. „Er hatte immer das Gefühl, daß man auf ihn herabsah und es ihm verübelte, daß er in adlige Kreise einheiratete. Daher hatte auch ich keine Verbindung mehr zu meinen vornehmen Verwandten.“

„Das ist doch Unsinn!“ protestierte der Marquis. „Wenn dein Vater es vorzog, sich zurückzuziehen, so war das seine Sache und gilt doch nicht für dich. Du bist und bleibst meine Cousine.“

„So nah sind wir ja gar nicht verwandt“, meinte Diana kühl. „Unsere Großmütter waren Schwestern.“

„Aber wir sind verwandt“, beharrte der Marquis. „Es muß etwas für dich getan werden.“

„Deine Einmischung ist nicht notwendig“, wehrte Diana ab. „Und bitte, erzähle niemandem, daß ich hier bin. Für den Augenblick ist alles zufriedenstellend.“

„Was meinst du mit ,für den Augenblick’?“ fragte der Marquis.

Diana zögerte, dann sagte sie leise: „Es war nicht immer leicht für mich. Und jetzt bitte ich dich, zu gehen und mich zu vergessen. Wenn dich jemand hier im Schulzimmer finden sollte, werde ich Schwierigkeiten bekommen.“

Auf dem Korridor draußen brach plötzlich ein Höllenlärm los. Ein Jagdhorn ertönte, männliches Gelächter, aufgeregte weibliche Stimmen und Rufe waren zu hören, und viele eilige Füße liefen an der Tür vorbei.

Der Marquis bemerkte, daß Diana reglos und angespannt dasaß, eine Hand an die Brust gepreßt. Der Lärm wurde ohrenbetäubend.

Plötzlich rüttelte jemand an der Türklinke.

Eine weibliche Stimme rief: „Die Tür ist abgeschlossen. Hier kann er nicht sein!“

Wieder ertönte das Jagdhorn, und die fröhliche Meute entfernte sich.

„Da siehst du, warum ich mich versteckt habe“, sagte der Marquis lächelnd.

„Jagen sie dich?“ fragte Diana.

„Zwei von uns wurden ausgewählt, beide begehrte Junggesellen“, erklärte er. „Ich versichere dir, Diana, daß nach dieser Jagd ein Fuchs meine ganze Sympathie besitzt.“

„Warum hast du dich dann einverstanden erklärt?“

„Wie hätte ich mich weigern können?“ entgegnete er. „Ich habe gelernt, daß es in einer solchen Lage weitaus besser ist, sich mit dem einverstanden zu erklären, was die Leute von einem wollen und dann das Gegenteil zu tun.“

Diana mußte lachen.

„Du hast immer deinen Willen bekommen, Victor, ohne je einen Gedanken daran zu verschwenden, daß vielleicht andere darunter leiden könnten.“

„Was meinst du damit?“

„Nun, unsere letzten gemeinsamen Ferien in Lynche, zum Beispiel. Als du nach Eton zurückgingst, wurde ich bestraft, weil es mein Ball war, den du durch die Scheiben des Treibhauses geworfen hattest.“

„Arme Diana“, meinte er mitfühlend. „Ich wette, du hast mich nie verpetzt.“

„Nein, das habe ich tatsächlich nicht getan. Doch das war sehr dumm von mir. Dem Erben des Hauses hätte man alles verziehen. Aber ich war nur die wilde Tochter des Pfarrers.“

„Was hat man mit dir gemacht?“ wollte der Marquis wissen.

„Oh, ich bekam eine Tracht Prügel und Wasser und Brot zum Abendessen. Es war nichts Neues“, antwortete sie leichthin.

„Ich entschuldige mich hiermit für meine vergangenen Sünden und hoffe, du verzeihst mir“, sagte der Marquis.

„Ich verzeihe dir, wenn du jetzt augenblicklich dieses Zimmer verläßt“, entgegnete sie. „Bitte, geh!“

„Warum willst du mich unbedingt loswerden?“ fragte er.

„Weil jemand dich hier finden könnte. Kannst du dir vorstellen, was man dann reden würde? Ihre Gnaden hat mich nur unter der Bedingung eingestellt, daß...“

Diana hielt plötzlich inne.

„Warum beendest du den Satz nicht?“ forderte der Marquis sie heraus.

Seine Frage schien sie zu ärgern.

„Nun gut“, sagte sie, und ihre Augen blitzten. „Ihre Gnaden hat mich nur unter der Bedingung engagiert, daß ich nicht mit irgendwelchen Männern ins Gerede komme, solange ich unter ihrem Dach lebe!“ sagte sie wütend. „Und ich habe nicht die Absicht, deinetwegen ins Gerede zu kommen! Männer sind allesamt Bestien. Je weniger ich von ihnen sehe, um so besser für meinen Seelenfrieden!“

Diana preßte die Lippen fest zusammen. Es sah fast so aus, als wollte sie weinen.

„Bitte, geh jetzt, Victor“, sagte sie dann etwas ruhiger, „und vergiß, daß du mich gesehen hast.“

„Irgendein Mann hat dich schwer gekränkt“, bemerkte er. „Wer könnte dich so behandelt haben? Wer?“

Diana lachte kurz auf.

„Nicht nur ein Mann, lieber Cousin! Ob Vater, Sohn, Onkel oder distinguierter Familienfreund, einer war so schlecht wie der andere. Alle waren sie auf ein kleines Nebenvergnügen aus! Sie wußten genau, daß das arme Mädchen, das sie beleidigten, nicht wagen würde, sich zu beschweren und daß im Falle einer Entdeckung Wort gegen Wort stünde und man ihnen glauben würde.“

„Das klingt unglaublich“, meinte der Marquis.

„Du glaubst mir nicht?“ fragte Diana. „Meinst du, es ist angenehm, in drei Jahren aus sechs verschiedenen Stellungen verjagt zu werden? Sechs! Und dann hierher zu kommen und auf den Knien um eine Stellung bitten zu müssen?“ Sie sah ihn an. „Verstehst du jetzt? Wirst du nun gehen und mir nicht die letzte Chance verderben, unbehelligt ein anständiges Leben zu führen?“

Der Marquis erhob sich. Er sah nachdenklich aus.

„Ich werde gehen, Diana, weil du es so möchtest, aber ich werde dich nicht vergessen. Ich werde mit der Familie sprechen. Du sollst solchen Situationen nicht ausgesetzt sein.“

„Ich will keine Almosen, weder von meinen Verwandten, noch von anderen!“ sagte Diana heftig. „Sie haben alle die Nasen gerümpft, weil Mama einen Pfarrer heiratete. Für mich werden sie auch nicht mehr übrighaben. Laß mich in Ruhe, Victor. Du hast in den letzten neun Jahren von meiner Existenz keine Notiz genommen. Es gibt also keinen Grund, weshalb du es jetzt tun solltest.“

„Neun Jahre! Gütiger Himmel, ist das so lange her?“ rief der Marquis. „Aber es ist nicht in Ordnung, Diana, daß du …“

Er hielt inne, denn es klopfte an der Tür. Diana sprang erschrocken auf, und er sah wieder die Angst in ihren Augen. Er legte einen Finger an die Lippen, ging auf Zehenspitzen durch das Zimmer und öffnete eine Tür, die, wie er richtig vermutet hatte, in ein Schlafzimmer führte.

 

Im Schein eines flackernden Nachtlichts sah er in einem schmalen Bettchen ein Kind schlafen. Daneben stand ein großes Bett, das offensichtlich Diana gehörte.

Der Marquis ließ die Türe hinter sich einen Spaltbreit geöffnet, um sehen und hören zu können, was im Schulzimmer vor sich ging. Es klopfte erneut. Diana ging langsam zur Tür.

„Wer ist da?“ fragte sie, und ihre Stimme zitterte leicht.

„Ich bin’s, Miss Morley“, erwiderte eine Frauenstimme.

„Oh, Miss Deane!“ sagte Diana erleichtert und sperrte die Tür auf.

Der Marquis sah durch den Türspalt, daß eine dicke, ältere Frau mit einem Tablett ins Zimmer trat, das sie zum Tisch trug.

„Ich habe Ihnen Ihr Abendessen gebracht, Miss Morley.“

„Danke, das ist sehr nett von Ihnen“, sagte Diana.

„Ich habe Ellen das Tablett abgenommen und sie zu Bett geschickt“, erklärte die Haushälterin. „Das Mädchen konnte kaum mehr auf den Füßen stehen. Ich werde morgen mal ein paar scharfe Worte mit der Küche reden. Sie haben kein Recht, sie so lange arbeiten zu lassen - und auch nicht, Ihnen erst so spät das Abendessen zu schicken.“

„Ich nehme an, sie haben viel zu tun“, meinte Diana. „Außerdem bin ich nicht besonders hungrig.“

„Das sollten Sie aber sein“, entgegnete Miss Deane streng. „Sie haben den ganzen Tag über an dem Abendkleid gearbeitet. Es sieht so aus, als hätten Sie immer noch eine ganze Menge zu tun.“

„In drei Stunden oder so werde ich damit fertig sein“, antwortete Diana mit einem kleinen Seufzer. „Ihre Gnaden möchte es morgen tragen.“

„Um ihrem neuen Galan zu gefallen, möchte ich wetten!“ Miss Deane lachte anzüglich. „Nun, das kann ich verstehen. Ich habe noch keinen besser aussehenden Gentleman gesehen als den Marquis. Bei seinem Anblick bekomme sogar ich alte Frau Herzklopfen! Ich muß sagen, Seine Lordschaft ist eine enorme Verbesserung gegenüber dem letzten Galan Ihrer Gnaden.“

„In der Tat!“

Dianas Stimme klang kühl. Der Marquis merkte, daß sie verlegen war. Miss Deane schien das jedoch nicht zu bemerken.

„Aber wirklich! Sir Andrew Blackett war ein richtiges Ekel. Ich konnte keines meiner jungen Hausmädchen in die Nähe seines Schlafzimmers lassen. Ich habe ihn gleich durchschaut, als ich ihn sah. Und als die kleine Gladys zu mir kam und sich die Augen ausweinte, da hätte ich ihm gern mal meine Meinung gesagt, aber wirklich!“

„Das kann ich Ihnen nicht verdenken“, sagte Diana. „Natürlich war es auch seine Schuld, daß die arme Miss Lovelace ohne Referenzen gehen mußte.“

„Deshalb mußte sie gehen?“ fragte Diana.

„Allerdings. Ihre Gnaden hat ihn hier im Schulzimmer gefunden, wie er sich mit Miss Lovelace unterhielt. Kurz vor dem Dinner war es. Natürlich hat er gesagt, daß er nur hergekommen wäre, um der kleinen Lady Gute Nacht zu wünschen, aber Ihre Gnaden hat bemerkt, daß Miss Lovelace einen roten Kopf hatte und sich geschmeichelt fühlte über die Aufmerksamkeit, die ihr zuteilgeworden war. Kaum war die Gesellschaft vorbei, da mußte sie gehen.“

„Das war aber ungerecht, nicht wahr?“

In Dianas Ton lagen Zorn und Erbitterung.

„Die Herrinnen kümmern sich nicht darum, was gerecht ist und was nicht, wenn man in ihren Diensten steht“, erwiderte Miss Deane. „Wenn irgend etwas vorfällt, dann haben niemals die feinen Herrschaften die Schuld, das können Sie sich merken! Ich sehe, daß Sie klug sind, Miss Morley, weil Sie Ihre Tür verschlossen halten. Ich rate Ihnen, sie Tag und Nacht verschlossen zu halten, solange diese Art von Gesellschaft im Hause stattfindet.“

„Sie meinen, ich sollte mich in Acht nehmen vor dem Marquis?“ fragte Diana, und der Lauscher nebenan hörte wohl den boshaften kleinen Unterton.

„Nun, man weiß nie, nicht wahr“, antwortete Miss Deane. „Aber auf den Marquis braucht man heute Nacht wohl nicht achtzugeben, da Seine Gnaden nicht da ist! Es sind allerdings einige andere unter der Gesellschaft, die nicht so beschäftigt sind. Trotzdem, der Marquis steht in dem Ruf, ein ziemlicher Draufgänger zu sein, was das weibliche Geschlecht betrifft.“

„Oh, tatsächlich?“ sagte Diana neugierig.

„Beim Abendessen unten haben wir fast Tränen gelacht“, berichtete Miss Deane. „Einer der Diener hat uns erzählt, wie Seine Lordschaft, der Marquis, einmal auf der Flucht vor einem eifersüchtigen Ehemann eine Regenrinne heruntergerutscht ist, nur um dann in eine Regentonne zu fallen.“

„Das hat seine Liebesglut sicher abgekühlt.“

Diana lächelte.

„Und ein andermal“, fuhr Miss Deane mit sichtlichem Genuß fort, „konnte er einer Entdeckung nur entgehen, indem er sich die Mütze eines Kochs aufstülpte und durch die Hintertür davonschlich. Ja, das ist ein richtiger Draufgänger, da gibt’s nichts! Natürlich saß der eigene Diener Seiner Lordschaft dabei und sagte kein Wort, aber an dem Lachen in seinen Augen habe ich gemerkt, daß die Geschichten gar nicht so übertrieben waren.“

„Aber Sie glauben, ich bin vor ihm sicher, nicht wahr?“

„Nun“, antwortete Miss Deane, „es heißt, daß er schwer in Ihre Gnaden verliebt sei und sie in ihn. Nach dem, was ich in der Anrichte gehört habe, hielt sie beim Dinner unter dem Tisch seine Hand und blickte ihn dauernd so schmachtend an, daß es schwierig war, die einzelnen Gänge zu servieren, weil ihre Köpfe so nah beieinander waren.“

„Dann ist es ja nur gut, daß Seine Gnaden verreist ist“, meinte Diana.

„Das kann man wohl sagen“, bestätigte Miss Deane. „Wir alle wissen, wie es ist, wenn Seine Gnaden in Zorn gerät. Da bleibt kein Auge trocken! So, und jetzt muß ich wieder eilen. Es gibt noch viel zu tun. Gute Nacht, Miss Morley. Vergessen Sie nicht, Ihre Tür wieder zuzusperren.“

„Bestimmt nicht“, versprach Diana. „Und vielen Dank, daß Sie mir mein Abendessen gebracht haben.“

Sie begleitete Miss Deane zur Tür und schloß hinter ihr ab. Als der Marquis aus dem Nebenzimmer trat, blickte sie ihm mit spitzbübischem Lächeln entgegen.

„Diana, du kleiner Teufel! Du hast sie absichtlich zum Klatschen verleitet, um mich in Verlegenheit zu bringen!“ sagte er vorwurfsvoll. „Redet das Personal immer so?“

„Natürlich“, antwortete Diana. „Es gibt nichts, das ihren Blicken entgeht, nicht einmal, wenn Leute unter dem Tisch Händchen halten.“

„Verdammt noch mal! Ich komme mir wie ein Idiot vor!“ rief der Marquis.

„Denke daran, daß es ja nur Bedienstete sind, die unter deiner Würde stehen“, riet Diana. „Und jetzt geh um Himmels willen, bevor dich jemand hier findet. Du hast doch gehört, was mit Miss Lovelace geschehen ist.“

„Ich nehme an, das war die vorige Gouvernante.“

„Ja, ich habe ihre Stellung bekommen.“ Diana wurde ernst. „Das arme Ding, was mag aus ihr geworden sein. Ohne Referenzen ist es fast unmöglich, eine Arbeit zu bekommen.“

Der Marquis war an der Tür und drehte vorsichtig den Schlüssel um.

„Gute Nacht, Diana, du hast mir eine Menge zu denken gegeben. Und du hast mich nicht zum letzten Mal gesehen.“

Diana wollte protestieren, aber er lächelte nur, und sie mußte insgeheim zugeben, daß er wirklich ein verführerischer junger Mann war. Kein Wunder, daß so viele Frauen seinetwegen ihren Ruf riskierten.

Sie horchte auf seine Schritte, die sich den Korridor hinunter entfernten. Dann schloß sie die Tür ab und setzte sich wieder an ihre Arbeit. Sie warf einen Blick auf das Tablett, das Miss Deane ihr gebracht hatte. Das Abendessen bestand aus einem ziemlich unappetitlich aussehenden Hühnerbein, einem Stück Käse und einem Stück Brot.

Für gewöhnlich war das Essen nicht so dürftig, aber wenn sich viele Gäste im Haus befanden, hatte das Personal zu viel zusätzliche Arbeit zu bewältigen. Diana hatte gehört, daß außerdem etwa fünfundzwanzig von den Gästen auch über Nacht bleiben würden. Und da jeder Gast auch noch Zofe, Diener, Kutscher und Lakaien mitbrachte, bedeutete dies für das Hauspersonal Arbeit von Tagesanbruch bis spät in die Nacht ohne zusätzliche Hilfe.

Aber es waren weder die Schwierigkeiten des Haushalts, noch ihr wenig appetitliches Abendessen, das Dianas Gedanken beschäftigte, als sie ihre Stickerei wieder niederlegte und vor sich hinstarrte.

Sie dachte an den Marquis und wie anders er jetzt aussah. Es war das Jahr 1802. Also mußte er in jenem letzten Sommer in Lynche siebzehn gewesen sein, ein langaufgeschossener, schlaksiger Jüngling. Sie war gerade zehn geworden.

Victor hatte sich gelangweilt, weil seine Mutter krank war und in dem großen Haus keine Geselligkeiten stattfanden. Und so hatte ihn die Gesellschaft des kleinen Mädchens belustigt, das ihm bewundernd überallhin folgte und bereit war, für ihn zu springen und zu tun, was immer er wünschte.

Er hatte sie unaufhörlich aufgezogen, weil sie rotes Haar hatte.

„Komm schon, Karottenkopf“ und „Wo bist du, Rotschopf?“ hörte sie ihn in Gedanken wieder sagen. Und ihr hatte es gefallen. Sie war glücklich gewesen, ihn in den Wald begleiten zu dürfen, wenn er zum Taubenschießen ging und stolz, daß er ihr gestattete, seine Beute heimzutragen. Er hatte sie zum Bootsfahren auf dem See mitgenommen und das Boot versehentlich zum Kentern gebracht, so daß sie aussah wie eine halbertrunkene Katze, als sie nach Hause kam.

Sie hatten die schönsten Pfirsiche aus dem Treibhaus gestohlen, wenn der Chefgärtner gerade nicht hinsah, und sie gemeinsam an einem sonnigen Plätzchen mit köstlichem Schuldgefühl verzehrt.

Er hatte sie dazu gebracht, auf hohen Steinmauern entlangzulaufen, und obgleich sie innerlich zitterte vor Angst zu fallen und sich den Hals zu brechen, hatte sie sich ihre Angst nie anmerken lassen.

Zu Pferd war sie ihm über Hindernisse gefolgt, über die sie sonst nie zu springen gewagt hätte, aber der Gedanke, er könnte sie auslachen und für einen Feigling halten, wäre ihr unerträglich gewesen. Und als ihr Vater die Pfarrei in Lynche aufgab, hatte sie in verzweifeltem Kummer gedacht, daß sie nun Cousin Victor nie wiedersehen würde.

Und jetzt, dachte sie, ist er erwachsen und genau wie alle anderen Männer, die ihr begegnet waren, seit sie ihr Zuhause verlassen mußte: überelegant gekleidet, geckenhaft, eingebildet und an nichts anderem interessiert, als hinter Frauen herzujagen und ihren Untergebenen das Leben schwer zu machen. Ich hasse ihn, dachte sie heftig und war um so wütender, weil er sie aufgestört und ihr das Gefühl von Frieden und Sicherheit in ihrem Schulzimmer genommen hatte. Weil er sie erinnert hatte an all die Schrecken, die sie in den letzten zweieinhalb Jahren seit dem Tod ihres Vaters durchgemacht hatte.

Wahrscheinlich lag es daran, daß sie in der Stille und Geborgenheit einer Pfarrei aufgewachsen war, daß sie die Welt, in die sie hinausgestoßen worden war, so erschreckend gefunden hatte. Mehr als einmal war sie so verzweifelt gewesen, daß sie nicht mehr hatte leben wollen. Aber schließlich hatte ihre Verachtung für jene, die sie beleidigten, ihr neue Kraft gegeben.

Als sie sich, stellungslos, entschlossen hatte, die Herzogin um irgendeinen Posten in ihrem Haushalt zu bitten, war eben Miss Lovelace entlassen worden und die Herzogin hatte noch keine Nachfolgerin für sie. Diana war offen gewesen bezüglich der Schwierigkeiten, die sie in ihren vorigen Stellungen gehabt hatte.

Die Herzogin war ebenso offen gewesen.

„Ich stelle Sie nur unter der strikten Bedingung ein, Miss Morley, daß es in diesem Haus keine Männergeschichten gibt. Weder Seine Gnaden noch ich würden derartiges dulden.“

„Es wird nichts dergleichen geben, Euer Gnaden“, hatte Diana geantwortet.

Gleichzeitig hatte sie jedoch voller Angst an das gedacht, was ihr in den anderen Stellungen widerfahren war - an die Männer, die sich nachts heimlich ins Schulzimmer eingeschlichen hatten.

Männer, die den Schlüssel entfernt hatten, so daß sie sich nicht einschließen konnte, an den Ausdruck in ihren Augen, sobald sie sie sahen, an ihre Hände, die sie berührten, sie an sich zu reißen suchten, an ihr Lachen, wenn sie sich wehrte.

Männer, ich hasse sie alle, dachte sie, und Victor ist auch nicht anders als sie alle!

Diana seufzte. Wenn sie sich nicht sputete, würde das Abendkleid der Herzogin bis zum Morgen nicht mehr fertig werden. Es war zwar nicht die Arbeit einer Gouvernante, die Kleider ihrer Herrin zu besticken, aber seit Ihre Gnaden entdeckt hatte, wie geschickt Diana nähte und stickte, fand sie immer Extra-Arbeit auf dem Schulzimmertisch vor. Doch vielleicht würde das ein zwingender Grund für die Herzogin sein, sie behalten zu wollen. Denn Diana war sich wohl bewußt, falls einer der Dienstboten den Marquis beim Betreten oder Verlassen des Schulzimmers gesehen hatte, würde die Herzogin es am nächsten Morgen wissen.

 

Diana erschauerte bei dem Gedanken. Ihr war plötzlich kalt, und ihr Rücken schmerzte. Sie ging ins Schlafzimmer, kleidete sich aus und zog ihr Nachthemd und ihren warmen Flanellmorgenrock an. Dann löste sie ihren Knoten und ließ ihr Haar herab. Es wallte wie eine Flut von feurigem Gold über ihre Schultern und reichte bis zur Taille. Sie bürstete das Haar aus, bis es glänzte und funkelte, dann flocht sie es zu einem langen Zopf, den sie mit einem grünen Band zusammenhielt.

Bevor sie sich wieder an ihre Arbeit setzte, nahm sie ein paar Bissen von dem Käse und Brot. Da sie aber wirklich nicht hungrig war, schob sie das Tablett bald beiseite.

Es waren noch etwa fünfzehn Zentimeter zu besticken, und sie fragte sich, wie lange es noch dauern mochte, bis sie damit fertig sein würde.

Sie mochte etwa zwei Stunden gearbeitet haben, als sie auf dem Korridor hastige Schritte hörte. Im Schulzimmer war es so still gewesen, daß ihr das Geräusch sehr laut erschien. Diana hob lauschend den Kopf. Die Schritte verhielten vor der Schulzimmertür, gleich darauf klopfte es.

Diana saß wie erstarrt. Es klopfte wieder, und dann hörte sie eine Stimme, kaum lauter als ein Flüstern.

„Diana, ich bin’s - Victor. Um Gottes willen, mach die Tür auf!“

Ihr Instinkt riet ihr, sich taub zu stellen, aber dann ging sie doch, fast wider Willen, zur Tür.

„Was ist?“ fragte sie.

„Laß mich herein, ich bitte dich! Bitte, Diana!“

Sie wollte ablehnen, aber da war etwas so Drängendes in seiner Stimme, das sie irgendwie zwang, den Schlüssel umzudrehen. Er stieß die Tür auf und rannte sie fast um, als er hastig ins Zimmer trat.

„Schnell, setz dich wieder an den Tisch“, sagte er. „Und wenn jemand kommt, ich war die letzte Stunde hier und habe mich mit dir über die alten Zeiten unterhalten. Hast du verstanden?“

„Was ist geschehen?“ fragte Diana.

„Nur du kannst mir helfen“, erwiderte er. „Ich bitte dich, Diana. Ich bin in einer verzweifelten Lage, sonst würde ich das nicht von dir verlangen.“

Diana zögerte, und dann hörten sie beide in einiger Entfernung Geräusche.

„Rasch, tu, was ich dir sage!“ flehte er. „Du kannst mich jetzt nicht im Stich lassen. Das hast du noch nie getan!“

Diese letzten Worte brachten die Entscheidung. Diana lief zum Tisch zurück und nahm wieder ihre Stickerei zur Hand. Victor holte einen weiteren Stuhl zum Tisch, setzte sich eilig und legte seine Füße auf einen anderen Stuhl.

Erst jetzt bemerkte Diana, daß er seinen Rock über dem Arm trug und keine Krawatte umhatte. Sein weißes Hemd war am Hals geöffnet und sein Haar, vorher tadellos frisiert im Windstoß-Stil, den der Prinz von Wales bevorzugte, sah ziemlich zerzaust aus.

Es blieb keine Zeit mehr, ihn darauf aufmerksam zu machen, denn er warf seinen Rock und seine Weste auf den Boden und begann, seine Manschettenknöpfe zu befestigen. Während er noch damit beschäftigt war, wurde die Tür aufgerissen, und der Herzog von Windleham stand auf der Schwelle.

Seine Gnaden trug Reisekleidung, seine polierten Reitstiefel waren schlammbespritzt. Diana, die sich automatisch erhoben hatte, sah mit wachsender Angst, daß Seine Gnaden einen seiner Zornesausbrüche hatte.

„Sind Sie bereit, sich mit mir zu duellieren, Lynche?“ rief der Herzog. „Oder soll ich Sie von meinen Lakaien aus dem Haus werfen lassen?“

Der Marquis stand langsam auf.

„Selbstverständlich stehe ich Ihnen gern zur Verfügung, Windleham“, erwiderte er bedächtig, „auch wenn ich keine Ahnung habe, aus welchem Grund.“

„Der Grund ist doch wohl offensichtlich, nicht wahr?“ entgegnete der Herzog scharf. „Ich habe gesehen, wie Sie das Schlafzimmer meiner Frau verließen, als ich kam.“

„Mein lieber Windleham, welch eine unsinnige Beschuldigung“, antwortete der Marquis. „Ich versichere Ihnen, daß ich während der letzten Stunde hier war und mich mit meiner Cousine Diana unterhalten habe.“

„Ich ziehe es vor, Lynche, das zu glauben, was ich mit eigenen Augen gesehen habe“, entgegnete der Herzog. „Sie werden sich mit mir duellieren, oder ich rufe meine Lakaien “

In diesem Augenblick ertönte ein kleiner Schrei. Die Herzogin rauschte in das Zimmer. Sie trug ein durchsichtiges Negligé aus blaßblauem Chiffon. Das goldblonde Haar fiel ihr auf die Schultern, und sie sah selbst in ihrem Kummer ganz bezaubernd aus.

„George, was sagst du da?“ rief sie. „Bist du wahnsinnig? Ich versichere dir, daß der Marquis nicht in meinem Zimmer war. Allerdings begreife ich auch nicht, was er hier macht.“ Sie blickte sich mit echter Überraschung um.

„Meine Liebe“, sagte der Herzog, „ich bin überzeugt, daß diese gemütliche kleine Szene eigens für mich gestellt wurde. Ich habe Lynche recht deutlich gesehen. Deshalb habe ich ihn zum Duell gefordert.“

Die Herzogin stampfte mit dem Fuß auf.

„Das dulde ich nicht!“ rief sie. „Ich will es nicht, George! Willst du mich ruinieren? Die Königin mißbilligt ganz entschieden Duelle, wie du sehr wohl weißt. Wenn du Seine Lordschaft tötest, wirst du ins Exil gehen müssen. Ich würde es mehr als alles andere verabscheuen, in Frankreich oder Italien zu leben. Außerdem ist alles gar nicht wahr, wie dir bereits versichert wurde. Du hast dir eingebildet, was du gesehen haben willst. Stimmt es nicht, Mylord?“

Die Herzogin warf dem Marquis einen flehenden Blick zu und sah dabei so ungemein reizend aus, daß es eines Herzens aus Stein bedurft hätte, um ihr in diesem Augenblick irgend etwas zu verweigern.

„Ich habe Seiner Gnaden bereits mitgeteilt, daß ich mich während der letzten Stunde hier aufgehalten und mit meiner Cousine Diana geplaudert habe“, sagte der Marquis betont langsam. „In der Tat, es war eine große Überraschung für mich, als ich entdeckte, daß sie Gast in Ihrem Hause ist.“

„Gast?“ entgegnete der Herzog. „Miss Morley ist meines Wissens die Gouvernante meiner Tochter. Und halten Sie es für richtig, Miss Morley, als Gouvernante in den frühen Morgenstunden und noch dazu im Nachtgewand, Herren im Schulzimmer zu empfangen?“

Die Stimme des Herzogs dröhnte durch das Zimmer. Diana wurde erst rot und dann blaß.

„Nein, Euer Gnaden“, antwortete sie leise. „Es ist nicht meine Gewohnheit, Herren in solcher Weise zu empfangen. Mein Cousin Victor ist jedoch eine Ausnahme. Als Kinder wuchsen wir zusammen auf, und wir haben uns heute über die alten Zeiten unterhalten.“

Der Herzog blickte auf die Uhr.

„Um zwei Uhr morgens, Miss Morley?“

Sein Ton war so anzüglich, daß Diana der Atem stockte.

„Es ist die Wahrheit!“ rief die Herzogin. „Du kannst gewiß sein, George, daß Seine Lordschaft seiner Cousine etwas sehr Wichtiges mitzuteilen hatte. Bist du jetzt zufrieden?“

„Ich mag in vielen Dingen etwas naiv sein, meine Liebe, aber nicht in dieser Angelegenheit“, meinte der Herzog. „Meine Herausforderung bleibt bestehen, Lynche.“

„Nein, das kannst du nicht ernst meinen, das kannst du nicht tun!“

Die Herzogin klammerte sich an die Aufschläge seines Rocks, um den Herzog zu veranlassen, sie anzusehen.

„Es ist wahr, ich sage dir, es ist wahr! Der Marquis hat mir erzählt, daß er mit seiner Cousine sprechen wollte. Wie kannst du nur so ungläubig sein!“

Sie wandte sich nun dem Marquis zu.

„Oh, Mylord“, bat sie, „versuchen Sie, ihn zu überzeugen! Sie wissen, wie unheilvoll ein Duell sein und was es für mich bedeuten würde! Ich flehe Sie an, überzeugen Sie Seine Gnaden, daß Sie heute nacht nicht bei mir waren, wie er offenbar immer noch glaubt.“

Tränen standen in den blauen Augen der Herzogin, und ihre Lippen zitterten.

Der Marquis sah sie an und richtete dann seinen Blick fest auf den Herzog.

„Es tut mir leid, daß Euer Gnaden mir nicht glaubt, was ich gesagt habe. Vielleicht bringen Sie etwas mehr Verständnis auf, wenn ich Ihnen mitteile, daß ich gerade dabei war, meine Cousine Diana zu bitten, mir die Ehre zu geben und meine Frau zu werden.“