Indischer Liebeszauber

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Indischer Liebeszauber
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Indischer Liebeszauber

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2017

Copyright Cartland Promotions 1985

Gestaltung M-Y Books

www.m-ybooks.co.uk

1 ~ 1883

Die weibliche Gestalt, die verstohlen über Deck huschte, war in ein weites Gewand gehüllt, wie es die Muslime bevorzugten.

Sie bewegte sich langsam und vorsichtig, um den auf dem Boden ausgestreckt liegenden Schläfern auszuweichen.

Seitdem das Schiff den Suezkanal verlassen hatte und ins Rote Meer eingelaufen war, herrschte eine geradezu lähmende schwüle Hitze, die bewirkte, daß viele Zwischendeckpassagiere ihren überfüllten und stickigen Quartieren entflohen waren und die Nacht lieber unter freiem Himmel verbrachten.

Abgesehen von den wenigen, die auf der Brücke oder im Maschinenraum Dienst taten, lag jetzt, um zwei Uhr morgens, alles in tiefem Schlaf.

Lautlos erreichte die Frau die Reling am Heck des Schiffes. Unter ihr lag das schäumende Kielwasser.

Der Sternenhimmel spiegelte sich im phosphoreszierenden Wasser, so daß Firmament und Wasser eins zu werden schienen.

Die Frau umklammerte die Reling und starrte ins Leere.

Da völlige Windstille herrschte hing die britische Flagge schlaff von der Fahnenstange herunter. Die Luft war drückend und bar allen Lebens.

Plötzlich raffte die Frau ihr Gewand enger um sich und atmete tief ein, als habe sie sich zu einem Entschluß durchgerungen. Sie setzte einen Fuß auf die unterste Querstange, wie um sich hinüberzuschwingen.

In diesem Augenblick hörte sie hinter sich eine leise Stimme.

»Was Sie vorhaben, halte ich für einen großen Fehler.«

Sie schrie unterdrückt auf und drehte sich erschrocken um. Hinter ihr stand ein Mann, der mit seinem Turban und seiner armseligen Kleidung wie ein Inder aussah.

Wortlos starrte sie ihn an. Das Sternenlicht ließ ihn die Angst in ihren Augen und das Beben ihrer Lippen erkennen.

»Ihr Vorhaben ist sehr töricht«, fuhr er leise fort. »Das Leben ist ein überaus kostbares Gut.«

»Nicht... für mich«, entschlüpfte es der Frau unwillkürlich. Hastig setzte sie hinzu: »Bitte, gehen Sie . . . es ist meine Angelegenheit.«

»Ich werde nicht gehen, und ich verspüre auch nicht den Wunsch, den Helden zu spielen und Sie zu retten.«

»Ich ... ich möchte gar nicht gerettet werden.«

»Leider ist es aber so, daß ich mich zu Ihrer Rettung verpflichtet fühlen würde. Das brächte unweigerlich ein gewisses Aufsehen mit sich und würde die Fahrt verzögern.«

Sie wandte sich ab und umfaßte abermals die Reling.

»Es ... es handelt sich um mein Leben«, sagte sie wie im Selbstgespräch.

»Das Leben ist der kostbarste Besitz eines Menschen. Es grundlos wegzuwerfen ist das Dümmste, was man machen kann.«

»Grundlos!« rief sie schluchzend aus.

Damit war es um ihre Beherrschung endgültig geschehen: Sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Ihr Körper verlor alle Spannkraft, so daß es aussah, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen.

Ohne ein weiteres Wort hob der Mann sie hoch und trug sie den Weg zurück, den sie gekommen war. Nach einem ersten Schaudern der Abwehr legte sie den Kopf auf seine Schulter, und er spürte, wie der Aufruhr der Tränen ihren ganzen Körper zittern ließ.

Sie war zart und sehr leicht.

Er trug sie ins Schiffsinnere, einen trüb erhellten Gang entlang, dann eine Treppe hinauf, auf ein anderes Deck. Hier war die Luft weniger drückend, und die Beleuchtung war nicht so spärlich.

Zielstrebig ging er einen langen Korridor entlang, vorbei an vielen Kabinen. Am Ende des Ganges befand sich ein kleines Schreibzimmer. Es war leer, nur eine einzige Lampe brannte.

Behutsam setzte er sie in einen Sessel. Als sie die Hände vors Gesicht schlug, rutschte das Gewand, das auch ihren Kopf bedeckt hatte, herunter. Er sah nun, daß sie sehr helles Haar hatte. Daß sie blutjung war, hatte er bereits im Sternenlicht erkannt.

Wortlos setzte er sich ihr gegenüber.

Nach einigen Sekunden nahm das Mädchen die Hände vom Gesicht und fragte: »Weshalb mußten Sie sich einmischen?«

Sie hatte ihren ganzen Zorn in diese Frage legen wollen, doch nun kamen ihre Worte stockend und ein wenig atemlos.

»Sagen Sie mir lieber, weshalb Sie etwas so Schreckliches tun wollten!« konterte er mit einer Gegenfrage.

Sie hob ihm ihr tränennasses Gesicht entgegen.

»Ich möchte . . . sterben!«

»Und warum auf so dramatische Weise?«

»Eine andere Möglichkeit wollte mir nicht einfallen.«

Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab und fuhr leise fort: »Ich habe es mir genau überlegt ... so kann ich nicht weiterleben . . . ganz unmöglich.«

»Nichts ist wirklich unmöglich«, erwiderte der Mann. »Mag es im Moment auch noch so finster aussehen, es gibt immer einen Lichtblick.«

»Nicht für mich.«

»Wie können Sie dessen so sicher sein?« fragte er. »Kein Mensch kann in die Zukunft sehen. Wenn man es am wenigsten erwartet, begegnet man hinter der nächsten Ecke etwas Aufregendem und Wunderschönem.«

Sie schüttelte den Kopf. Dabei glitt ihr Gewand noch ein Stück tiefer. Er sah, daß ihr blondes Haar, das locker ihre Schultern umspielte, sehr lang war.

Sie legte die Hände in den Schoß und saß zusammengesunken in ihrem Sessel — ein Abbild der Verzweiflung.

»Warum sagen Sie mir nicht, was Sie zu diesem verzweifelten Schritt trieb?« fragte er. »Wer weiß, vielleicht können wir gemeinsam eine Lösung finden.«

Wieder blickte sie ihn an — wie von der Frage bewegt, ob sie ihm wohl trauen könne.

Als sie seine dunklen Augen unter den geraden Brauen sah, seinen von Entschlossenheit kündenden Mund und das markante Kinn, rief sie überrascht: »Ich habe Sie doch schon einmal gesehen!«

»Wo war das?« fragte er mit einer gewissen Schärfe.

»In Southampton.«

Er war ihr im Abschiedstrubel am Kai kurz vor Auslaufen des Schiffes aufgefallen.

Wahre Berge an Gepäck waren noch im letzten Moment an Bord geschafft worden, Freunde und Angehörige verabschiedeten sich voneinander, manche lachend, andere unter Tränen. Es gab ein Durcheinander von Zaungästen, Bettlern, Arbeitern, Seeleuten und — da das Ziel des Schiffes der Ferne Osten war — etlichen Soldaten.

Auf den Gangways drängten sich die Menschen, die an Bord wollten, während gleichzeitig andere das Schiff verließen, dessen Maschinen bereits arbeiteten.

In diesem Moment hatte sie einen Mann in der Menge erspäht, der aussah wie ein Inder. Er schien es nicht eilig zu haben und strahlte eine eigentümliche Selbstsicherheit aus.

Er benutzte die zum untersten Deck führende Gangway und war der letzte, der an Bord gelangte, ehe die Gangway entfernt und die Reling wieder vorgeschoben wurde.

Zuerst war sie der Meinung gewesen, er habe großes Glück gehabt, das Schiff gerade noch erwischt zu haben, doch dann hatte sie aus seiner Haltung geschlossen, daß ihm ein solcher Fehler nie unterlaufen wäre. Im Gegenteil: Er machte den Eindruck, als würde er stets bekommen, was er wollte.

Sie schaute ihn immer noch an und bemerkte, daß er die Stirn runzelte. Zugleich fiel ihr der sonderbare Umstand auf, daß er trotz seines indischen Turbans fehlerfreies Englisch sprach. Und sie war immer der Meinung gewesen, alle Inder sprächen mit einem unverkennbaren Akzent und einem gewissen singenden Tonfall!

Als wüßte er genau, was ihr durch den Kopf ging, sagte er nach einer Weile: »Ich möchte einen Pakt mit Ihnen schließen.«

Da sie nicht antwortete, fuhr er mit einem kleinen Lächeln fort:»Ich will vergessen, was Sie tun wollten, und Sie werden vergessen, daß Sie mich in Southampton gesehen haben.«

»Warum sollte ich das?«

»Gewiß liegt es nicht in Ihrem Interesse, wenn ich Ihrer Begleitung — wer immer das sein mag — davon Mitteilung mache, auf welch unkonventionelle Weise Sie von Bord gehen wollten.«

Seine Worte schienen sie in große Angst zu versetzen, denn sie stieß einen verhaltenen Entsetzensschrei aus: »Nein ... natürlich nicht! Wenn Sie meinem Onkel auch nur ein Sterbenswörtchen verraten, wird er außer sich geraten. Er wird mich . . .«

Abrupt hielt sie mitten im Satz inne. Der Mann sah nicht nur die Angst in ihrem Blick, er bemerkte jetzt auch ein rotes Mal auf ihrer Wange, das sich von der Blässe ihrer Haut deutlich abhob.

»Wer hat Sie geschlagen?« fragte er leise.

Sie faßte nach ihrer Wange und senkte den Blick, so daß sich auf ihren Wangen dunkel die Wimpern abzeichneten.

Verwirrt schwieg sie zunächst, doch dann murmelte sie: »Wieso können Sie nicht begreifen . . . daß ich so nicht weiterleben kann? Ich . . . ich ertrage es einfach nicht mehr. Heute hat er mich mit einem Lineal . . . und ich ... ich bin ein Feigling.« Tränen schossen ihr in die Augen.

Der Mann beugte sich entsetzt zu ihr hinunter.

»Warum fangen wir nicht von vorne an, und Sie sagen mir endlich, wie Sie heißen?« Er schaute sie abwartend an. »Wenn Sie es mir nicht verraten wollen, dann frage ich einfach den Zahlmeister.«

»Nein, das dürfen Sie auf keinen Fall! Er könnte es Onkel Harvey sagen.«

Der Mann erstarrte.

»Soll das heißen, daß Sir Harvey Arran Ihr Onkel ist?«

»Sie kennen ihn? Versprechen Sie mir . . . versprechen Sie mir, daß Sie ihm nichts verraten! Er würde außer sich geraten und im Zorn . . .«

Sie hielt inne, worauf der Fremde voller Ingrimm wie im Selbstgespräch feststellte:»Er schlägt Sie!«

 

»Er ist oft sehr mißlaunig ... die langen Jahre in Indien haben ihn so werden lassen. Seine Leber muß wohl arg gelitten haben . . . und außerdem haßt er mich.«

»Warum sollte er Sie hassen?«

»Weil ich seit dem Tod meiner Eltern gezwungen bin, bei ihm zu leben und für ihn eine Belastung darstelle, wie er sich auszudrücken pflegt.«

»Gibt es denn keine anderen Angehörigen, an die Sie sich wenden könnten?«

»Nun ja ... da wären noch Papas Cousinen ... die würden mich vielleicht aufnehmen, aber inzwischen hat Onkel Harvey entdeckt, wie nützlich ich ihm bin.«

»Wie das?«

»Ich schreibe die Reinschrift des Buches, an dem er arbeitet ... und genau das ist es auch, was ihn immer wieder so aufregt.«

»Aus welchem Grund?«

»Seine Handschrift läßt sich nur mühsam entziffern, und zudem ist die Schreibweise einiger Wörter auf Urdu oder Hindi sehr kompliziert. Unterläuft mir ein Fehler, dann bekommt Onkel Harvey einen Wutanfall.«

Der Mann kniff die Lippen zusammen.

»Weil Sie ihm nützlich sind, hat er Sie nach Indien mitgenommen«, sagte er nach kurzem Überlegen.

»So ist es. Ich verspüre nicht den geringsten Wunsch, mit ihm irgendwohin zu fahren, aber er wollte nicht erlauben, daß ich zu Hause bleibe, obwohl ich ihn inständig darum bat.«

Schweigen trat ein.

Schließlich fragte der Mann: »Wie lautet Ihr Vorname?«

»Sita.«

Er zog erstaunt die Brauen hoch.

»Ein indischer Name. Sicher wissen Sie, daß Sie nach einer Göttin benannt wurden, die stolz, rein und tapfer war.«

»Nun, dann war es wohl ein Irrtum, mich nach ihr zu benennen, da es nichts gibt, worauf ich stolz sein könnte . . . und da ich feige bin, wie ich bereits sagte.«

»Trotz allem sollten Sie versuchen, Ihrem Namen Ehre zu machen. Aber Sie haben mir noch nicht verraten, weshalb man Ihnen diesen Namen gab.«

»Ich wurde in Indien geboren, mein Vater war bei der Bengalischen Leichten Brigade.«

»Dann werden Sie sich bei der Ankunft in Indien wie zu Hause fühlen.«

»Das glaube ich nicht!«

»Doch, es ist die Wahrheit. Sie werden sehen. Warten Sie, bis Sie Hyderabad erreichen.«

»Woher wissen Sie, daß mein Onkel nach Hyderabad will?«

Anstatt ihre Frage zu beantworten, sagte er: »Sie haben mir noch nicht versprochen, zu vergessen, daß Sie mich in Southampton gesehen haben. Auch dürfen Sie nicht verraten, daß wir uns schon einmal begegnet sind, wenn wir uns wiedersehen.«

Erstaunt sah sie ihn an.

»Wir werden uns wiedersehen?«

»Das will ich doch hoffen. Und wenn wir uns wiedersehen, Sita, dann sollen Sie glücklich lächeln und aussehen wie die Göttin, deren Namen Sie tragen.«

»Das ist . . . ganz ausgeschlossen.«

»Sie werden sehen, daß Sie sich irren. Aber inzwischen müssen Sie mir noch ein anderes Versprechen geben.«

Das klang so ernst, daß sie ein wenig widerstrebend fragte: »Was denn?«

»Daß Sie unter keinen Umständen wieder etwas so Törichtes und Böses versuchen wie heute.«

»Warum sollte es böse sein? Ich wurde nicht gefragt, als ich in die Welt gesetzt wurde, also geht es auch niemanden etwas an, wenn ich mich entschließe, diese Welt zu verlassen.«

»Ich kann mir nicht denken, daß Ihr Vater, wäre er noch am Leben, diese Meinung teilen würde.«

»Papa wohl nicht... aber vielleicht würde Mama Verständnis für mich aufbringen.«

»Keiner der beiden würde gutheißen, daß Sie, die in Indien geboren wurden und den Namen einer der ranghöchsten Göttinnen tragen, den Versuch unternommen haben, Ihrem Karma zu entfliehen.«

Sita richtete sich auf und sah ihn aufmerksam an.

»Warum glauben Sie, daß es mein Karma sei, dieses jämmerliche Leben mit Onkel Harvey noch länger zu erdulden? Wären meine Eltern nicht beim Segeln ertrunken, dann wäre ich jetzt bei ihnen . . . und wenn ich sterbe, werde ich wieder bei ihnen sein.«

»Das weiß man nicht«, sagte ihr Gegenüber ruhig. »Sicher ist nur, daß man wiedergeboren wird, wenn man seinen Körper, der sehr kostbar ist, wegwirft. Sie würden also wiedergeboren und müßten alle Mühsal und Pein, die Sie jetzt erdulden, von neuem, vielleicht noch schlimmer, durchleben.«

»Was meinen Sie damit? Sprechen Sie von der Reinkarnation, der ewigen Wiedergeburt?«

Der Mann nickte ernst.

»Sie werden feststellen, daß dieses Wissen in Indien Allgemeingut ist, eine Wahrheit, die so greifbar scheint, daß Sie sich wundern werden, je daran gezweifelt zu haben.«

»Das glaube ich nicht!«

»Jede Wette, daß Sie mir eines Tages recht geben werden.«

»Ich besitze nichts, das ich verwetten könnte«, sagte Sita. »Onkel Harvey gibt mir kein Geld.«

Bei diesen Worten dachte sie daran, wie sie ihn fast auf Knien angefleht hatte, ihr ein wenig von ihrem eigenen Geld zu geben, damit sie sich für die Indienreise einkleiden konnte.

»Onkel Harvey, in Indien ist es sehr heiß«, hatte sie vorgebracht, »und ich habe nichts anzuziehen. In den Sachen, die ich habe, werde ich es nicht aushalten.«

»Das bißchen Geld, das dein kurzsichtiger Vater dir nach seinem Tod hinterließ, soll als Sicherung deiner Zukunft dienen«, lautete die Antwort ihres Onkels. »Ich werde nicht ewig leben und habe auch nicht die Absicht, dir etwas von meinem sauer verdienten Geld zu vermachen.«

Er musterte sie verächtlich.

»Du wirst auf eigenen Füßen stehen müssen, falls sich niemand findet, der dich heiratet... was ich für sehr wahrscheinlich halte. Was ich auf der Bank für dich angelegt habe, wird dich zumindest vor dem Hungertod bewahren.«

Das alles hatte Sita schon oft zu hören bekommen, doch es schmerzte sie jedes Mal aufs neue, daß ihr Onkel von ihrem Vater mit so großer Geringschätzung sprach, als habe dieser es absichtlich versäumt, ein Vermögen anzuhäufen.

Ihr Vater hatte kurz nach seiner Heirat seinen Abschied von der Armee genommen, weil er sich ein Leben als Offizier nicht mehr leisten konnte, und war nach England zurückgekehrt, um das kleine Landgut, das ihrer Mutter gehörte, zu bewirtschaften.

Daß sich seine Bemühungen als Fehlschlag erwiesen hatten, war nicht seine Schuld.

Es fehlte ihm an Startkapital und an Erfahrung, und der seit Jahren brachgelegene Boden hatte keine Erträge geliefert.

Dennoch waren sie in dem kleinen Gutshaus unweit des Dörfchens, in dem man ihrem Vater achtungsvoll als Gutsherr begegnete, sehr glücklich gewesen. Da Raymond Arran seine Frau über alles liebte, dachte er nur selten an sein Regiment und die Freunde, die er in Indien zurückgelassen hatte.

Trotz der ständigen Geldknappheit hatte er es verstanden, sein Leben zu genießen. Er hatte an den örtlichen Querfeldeinrennen teilgenommen und günstig erworbene Pferde zugeritten, mit denen er und seine Frau dann an den Jagden im Winter teilnahmen. Gelegentlich fuhren sie nach London und leisteten sich für zwei Wochen ein großzügiges und ausgelassenes Leben, so als drückten sie keinerlei Geldsorgen. Nach ihrer Rückkehr versuchten sie stets durch Sparsamkeit ihre Ausgaben wieder hereinzubringen.

Das kleine Gutshaus war von Heiterkeit und Liebe erfüllt gewesen, doch erst als Sita das in einem Londoner Vorort gelegene gruftartige Haus ihres Onkels kennenlernte, wußte sie, was sie verloren hatte.

Allmählich gelangte Sita zu der Auffassung, ihr Onkel behandele alle Menschen wie Verbrecher, weil er in Indien jahrelang das Richteramt ausgeübt hatte. Seine Haltung ihr gegenüber ließ sich beim besten Willen nicht anders erklären.

Darüber hinaus war er ein Frauenhasser, der in seiner Nähe kein weibliches Wesen dulden wollte.

Erst als er entdeckte, daß er sich Sitas Intelligenz zunutze machen konnte, ließ er sich dazu herab, bei Tisch zuweilen das Wort an sie zu richten. Schließlich verlangte er, daß sie für ihn arbeitete, doch jeder Fehler, der ihr unterlief, brachte ihn zur Raserei. Erst hatte er sie nur angebrüllt, dann heftig geschüttelt und am Ende geschlagen.

Da ihre Eltern nicht ein einziges Mal die Hand gegen sie erhoben hatten, konnte Sita es zunächst kaum fassen. Allmählich wurde ihr klar, daß seine Wut sich nicht allein gegen sie richtete, sondern gegen sein eigenes Schicksal. Er war wütend und frustriert, weil sein Alter ihn daran hinderte, ein Leben zu führen wie in Indien, wo er ein hohes Ansehen genossen hatte.

Weil er zwanzig Jahre lang in Indien gelebt hatte, besaß er in England nur wenige Freunde, und die, die er hatte, fanden ihn furchtbar langweilig.

So kam es nicht von ungefähr, daß Sir Harvey Arran, der sich einsam und ausgestoßen fühlte, Haß auf sein Leben entwickelte und diesen Haß an einem wehrlosen Opfer abreagierte. Und dieses Opfer war Sita, die unter seinem Zorn verging wie eine Blume ohne Sonne.

Als der Brief eintraf, in dem Sir Harvey gebeten wurde, nach Hyderabad, dem Ort seines früheren Wirkens, zu kommen und den Nizam in einer sehr komplizierten rechtlichen Angelegenheit zu beraten, war er hocherfreut.

»Ich wußte ja, daß man ohne mich nicht auskommt«, sagte er. »Ich wußte, daß man mich wieder brauchen wird. In der gesamten Provinz gibt es niemanden, der über meinen Verstand oder meine juristischen Kenntnisse verfügt.«

Zwei Tage lang wirkte er verjüngt und beinahe menschlich. Er wählte die Bücher aus, die er mitzunehmen gedachte, und seine Diener machten sich daran, die Tropenkleidung hervorzuholen, die seit seiner Rückkehr sorgsam verstaut gewesen war.

Irgendwann fragte Sita voller Nervosität: »Soll ich hierbleiben, Onkel Harvey . . . während du in Indien bist?«

Ihr Onkel starrte sie an, als fiele ihm erst jetzt ihre Existenz wieder ein.

»Natürlich . . . wohin solltest du wohl gehen?«

Dann dachte er daran, daß sie ihm bei seinem Buch half und seit einem Jahr seine Korrespondenz erledigte. Es war nützlicher und einfacher, Sita mitzunehmen, als mit einer Fremden von vorne zu beginnen.

»Nein, du kommst mit! So kannst du dir weiterhin etwas verdienen und mich für die Unkosten entschädigen, die du mir Tag für Tag bescherst«, knurrte er also.

Da sie gehofft hatte, wenigstens für eine Zeitlang seiner ständigen Nörgelei und seinen Schlägen zu entgehen, wurde sie von Verzweiflung erfaßt.

Zwar hatte sie zuweilen den Wunsch verspürt, Indien kennenzulernen, da ihr Vater dieses Land in glühenden Farben geschildert hatte. Ihre Eltern hatten sich dort kennengelernt, als ihre Mutter einen Onkel besuchte, der Gouverneur der Nordwestprovinz war. Doch Sita wußte, daß jede Reise mit ihrem Onkel einer Reise in die Hölle gleichkäme, und da sie einen optimistischen Augenblick lang gehofft hatte, sie würde allein in England bleiben dürfen, traf die Enttäuschung sie wie ein körperlicher Schmerz.

Es war ein Schmerz, der mit jedem Tag heftiger wurde, denn auch seine Schläge fielen heftiger aus, weil ihn die bevorstehende Reise in Nervosität versetzte und er bei jedem ihrer Fehler bei der Korrespondenz oder beim Abschreiben seines Buches in Raserei verfiel.

Während der Reise wurde es noch schlimmer.

Ihr Onkel hatte sie in einer der billigsten Kabinen der Ersten Klasse untergebracht, wie sie feststellen mußte, als sie an Bord gingen. Die Kabine, die nicht größer war als ein Einbauschrank und für den Diener oder die Zofe eines Erste-Klasse-Passagiers gedacht war, lag innen und hatte kein Fenster. Beim Betreten hatte Sita unweigerlich das Gefühl, eine Gruft zu betreten.

Die Beleuchtung war höchst unzulänglich, da Sita aber keinesfalls in der Kabine ihres Onkels arbeiten wollte war sie gezwungen, bei diesem elenden Licht zu schreiben, das ihr Augenschmerzen bereitete. Mochte sie auch bis spät in die Nacht arbeiten, nie war ihr Onkel am nächsten morgen mit dem erledigten Pensum zufrieden.

»Weißt du, was du mich auf dieser Reise kostest?« herrschte er sie an. »Wenn wir nach Indien kommen, muß das Manuskript fertig sein. Wenn nicht, so wirst du es bereuen!«

»Onkel Harvey ... ich kann nicht mehr«, gab Sita kläglich zurück.

Er hatte sie ins Gesicht geschlagen, so fest, daß sie beinahe umfiel. Dann hatte er sie angebrüllt: »Wenn du nicht arbeiten willst, dann werde ich dich prügeln, bis du dich eines Besseren besinnst! Ich habe dich aus einem einzigen Grund mitgenommen, aber ebensogut könnte ich dich über Bord werfen, so wenig nützlich bist du mir!«

Diese Worte hatten Sita auf die zynische Idee gebracht, wie sie ihrem Onkel weiteren Ärger ersparen konnte.

Die ganze Nacht überlegte sie hin und her, doch als Sir Harvey sich am nächsten Tag noch unnachgiebiger und gewalttätiger zeigte als sonst, hatte für sie festgestanden, daß sie dieses Leben nicht länger ertragen wollte.

 

Vom Oberdeck aus hatte sie gesehen, daß sich die Passagiere, die im Freien schliefen, in eine Decke hüllten oder ihr formloses Gewand überzogen. Sie hatte sofort gewußt, daß dies für sie die ideale Verkleidung war, um sich eine geeignete Stelle zu suchen, von wo aus sie ins Wasser springen konnte.

Es war unwahrscheinlich, daß man mitten in der Nacht das Kielwasser beobachten würde. Wer auf der Brücke Dienst tat, der würde gewiß nach vorne, zum Bug hinschauen.

Sie durchdachte ihren Plan in allen Einzelheiten, um dann, den Blick ungeduldig auf die Zeiger der Uhr gerichtet, dazusitzen und zu warten, bis sie sicher sein konnte, daß an Bord alles schlief.

Dann hatte sie sich in die Baumwolldecke von ihrem Bett gehüllt. In ihren flachen Pantoffeln bewegte sie sich lautlos vom Oberdeck nach unten, ohne daß sie jemandem begegnete. Ungesehen erreichte sie das Heck.Und jetzt fragte sie sich, wieso auf einem Schiff voller friedlich schlafender Menschen ausgerechnet dieser Mann hatte wach sein müssen . . .

Da ihre Gedanken mehr ihm als der eigenen Person galten, fragte sie nach einer kleinen Pause: »Wer sind Sie? Sie mögen mich für unverschämt halten, aber ich glaube nicht, daß Sie Inder sind.«

Als er lächelte, sah es aus, als zwinkere er ihr zu.

»Sita, auch wenn ich neugierig war ... Sie sollten es in Bezug auf mich nicht sein.«

»Warum nicht?«

»Ich habe meine Gründe. Ich warte noch immer auf Ihr Versprechen, nicht von unserer Begegnung zu sprechen.«

»Und wenn ich es Ihnen nicht geben will?« fragte sie mit einer neu erwachten Lebhaftigkeit.

»In diesem Fall«, sagte er langsam, »halte ich es für meine Pflicht, Ihrem Onkel zu sagen, auf welche Weise er seine Nichte beinahe verloren hätte.«

Sita stieß einen leisen Schrei aus.

»Wie können Sie ... an so etwas denken?« Sie zögerte. »Ich glaube, Sie wollen mich wohl aufziehen . . . oder mich erpressen.«

»Das können Sie sich aussuchen, aber meine Bitte meine ich ernst, und ich glaube, Ihre Intuition sagt Ihnen, daß es die Wahrheit ist.«

Sie machte große Augen und flüsterte: »Sie tragen eine Verkleidung?«'

»Ich beantworte keine Fragen.«

»Sie aber haben mir viele Fragen gestellt!«

»Das war etwas anderes. Ich tue meine Pflicht, während Sie versuchen, Ihrer Pflicht zu entfliehen.«

Sie lachte auf und sah plötzlich noch jünger aus, als sie war.

»Na schön! Sie haben gewonnen. Aber angenommen, ich . . . ich kann es nicht ertragen?«

»Sie müssen mir bei allem, was Ihnen heilig ist, versprechen, daß Sie dergleichen nie wieder versuchen, es sei denn, mit meiner Erlaubnis.«

Sita fuhr auf.

»Wie können Sie... etwas so ... Dummes verlangen? Vielleicht sehe ich Sie nie wieder.«

»Ich glaube, wir begegnen uns wieder«, sagte ihr Gegenüber leise. »Ich bin mir dessen sogar sehr sicher.«

»Aber vielleicht muß ich lange warten ... bis ich Sie wiedersehe.«

»Das wäre gar nicht so schlecht, denn dann bliebe Ihnen mehr Zeit zum Nachdenken.«

Sie wich seinem Blick aus. Er wußte, daß sie daran dachte, daß die Lage für sie vielleicht so unerträglich werden würde, daß sie nicht warten oder über ihre Situation nachdenken könne.

Er beugte sich ein wenig vor.

»Du lieber Gott! Ist Ihnen nicht klar, daß die Welt ein großer, wunderschöner Ort ist und daß das, was Sie erleiden, nur ein winziger Teil davon ist?«

Er streckte die Hand nach der ihren aus.

»Soll ich Ihnen mein Wort darauf geben, daß Sie mit der Zeit Ihr Glück finden werden?«

»Warum sollten Sie es mir versprechen? Und woher wollen Sie es wissen?«

»Weil Sie jung und schön sind und weil Sie über eine Persönlichkeit verfügen, die es Ihnen gestattet, sich über alle Ängste zu erheben — wenn Sie nur wollen. Auch wenn Sie mir nicht glauben, so schwöre ich, daß das die Wahrheit ist.«

Seine Worte setzten sie so sehr in Erstaunen, daß sie instinktiv seine Hand fester umfaßte und flüsterte: »Ich... ich möchte Ihnen glauben.«

»Dann ist der Kampf halb gewonnen. Unser Glaube verschafft uns das, was wir uns wünschen, wie durch Zauberhand, weil unser Wille ein Magnet ist, auch wenn wir uns dessen nicht immer sicher sind.«

»Daran glauben Sie?«

»Ich habe es in einer harten Schule lernen müssen, und ich wurde nie enttäuscht.«

Sita schaute ihn interessiert an.

»Sie haben von Wiedergeburt und unserem Karma gesprochen. Heißt das, daß Sie Buddhist sind?«

»Ich glaube an alle Religionen, die gerecht sind und den Menschen helfen, sich weiterzuentwickeln. Der Glaube ist etwas, das aus dem Herzen kommt, und wenn wir ihn haben, dann gibt es nichts mehr, wovor wir uns fürchten müssen.«

»Und Sie glauben ... daß ich das ... in Indien finden werde?«

»Ich weiß es.«

Das sagte er so überzeugend, daß sie eine Reaktion verspürte, die sie sich selbst nicht erklären konnte.

»Und jetzt schicke ich Sie zurück in Ihre Kabine und verspreche Ihnen, daß von nun an alles besser wird. Sie müssen nur glauben und nicht aufhören zu glauben, und Sie müssen versuchen, stolz, schön und tapfer zu sein.«

»Ich ... ich will es versuchen«, erwiderte Sita leise.»Wann werde ich Sie wiedersehen? Und wie kann ich Sie finden . . . nur für alle Fälle?«

»Sie werden mich finden«, gab er zurück. »Auch daran müssen Sie glauben.«

Er stand auf und führte ihre Hand an seine Lippen.

Und ehe sie wußte, wie ihr geschah, hatte er den Raum verlassen, und sie war allein.

Langsam stand sie auf und zog ihr Gewand über den Kopf, so daß ihr Gesicht im Schatten lag. Dann ging sie zur Tür.

Sie brauchte lange, ehe sie eine Treppe fand, die sie aufs nächste Deck führte. Dort entdeckte sie, daß sie es nicht mehr weit zu ihrer eigenen Kabine hatte.

Als sie die Tür öffnete und sah, daß alles genau so war, wie sie es zurückgelassen hatte, wurde sie von dem Gefühl erfaßt, es seien einige Jahre vergangen, seitdem sie diesen Raum verlassen hatte — entschlossen zu sterben, entschlossen, ihrem Leben, das zur Hölle geworden war, ein Ende zu bereiten.

Sie setzte sich auf ihre Koje, völlig erschöpft.

Morgen würde sie wieder ihrem Onkel gegenübertreten müssen, obwohl die Arbeit, die er ihr für diesen Abend aufgetragen hatte, nicht erledigt war.

Aber irgendwie erschien es ihr nicht mehr so bedeutsam. Sie rief sich die Worte des Fremden in Erinnerung. Zugleich fiel ihr ihr Versprechen ein, nie wieder einen Selbstmordversuch zu unternehmen.

»Wie konnte er nur so etwas verlangen? Und wie konnte ich so töricht sein und ihm das Versprechen geben?« murmelte sie vor sich hin.

Dabei dachte sie an seine dunklen Augen, die sie mitfühlend angeschaut, aber auch belustigt angeblitzt hatten.

War er Inder, oder war er Engländer? Sie wußte es nicht. Seine Haut war ihr dunkel erschienen, dunkler jedenfalls als die Haut eines Engländers, und doch hatte seine Sprache und das, was er sagte, sehr Englisch geklungen.

»Warum hat er nicht noch länger mit mir gesprochen?« seufzte sie leise.

Plötzlich spürte sie den Zwang, ihn wiedersehen zu müssen. Ob sie noch einmal aufs Unterdeck gehen sollte, um nachzusehen, ob er dort zu finden war?

Einfach lächerlich! ermahnte sie sich. Er hatte ihr geholfen und war wieder gegangen, und alles war so, wie es zuvor gewesen war.

War es das wirklich?

Sie hatte sich das Leben nehmen wollen, jetzt aber wollte sie, so sonderbar es war, weiterleben. Fast konnte sie ihr Karma und die Wiederbegegnung mit ihm vor sich sehen, so deutlich wie ein Bild. Gingen sie jetzt auch getrennte Wege, so würden sie sich wiedersehen.

War das ganze Leben Teil eines gewaltigen Plans, den ein höheres Wesen, eine Gottheit, entwickelte und leitete?

Sita spürte, wie ihr die Augen zufielen, und als sie von der Wirklichkeit in eine Traumwelt hinüberglitt, hörte sie, wie die tiefe Stimme sagte: »Dies ist Ihr Karma. Sie müssen stolz, schön und tapfer sein, wie die Göttin, nach der Sie benannt wurden.«

Als Sita am nächsten Morgen erwachte, wußte sie sofort, daß sie verschlafen hatte. Gewiß würde ihr Onkel bereits beim Frühstück sitzen und wegen ihrer Verspätung außer sich sein.

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