Die Vernunftehe

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Die Vernunftehe
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Die Vernunftehe

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2017

Copyright Cartland Promotions 1985

Gestaltung M-Y Books

www.m-ybooks.co.uk

1 ~ 1825.

Der Erzbischof von Axminster saß auf einem harten Stuhl mit hoher Rückenlehne und blickte durch die riesigen Fenster hinaus in den Park.

Der Garten um das Haus herum war zwar verwildert, jedoch von außerordentlicher Schönheit.

Der Rasen mit den vielen gelben Narzissen wirkte wie ein weicher Teppich unter den hohen Eichenbäumen.

Silbern funkelte die Sonne auf dem kleinen See, den die Zisterzienser angelegt hatten, als sie diese Abtei oberhalb des Flusses erbauten.

Der Bischof, ein gutaussehender Mann mit scharfen, klaren Gesichtszügen, dachte zurück an die Zeit im Mittelalter, als die Vernham Abtei, wo er sich zur Zeit befand, Macht ausübte zum Guten des ganzen Landes.

Als Henry VIII die Auflösung der Klöster durchgesetzt hatte, wurde Vernham Abbey dem Besitz von Sir Richard Verne hinzugefügt, der bereits beträchtliche Ländereien besaß.

Der Bischof, Hochwürden Lorimer Verne, konnte seine Vorfahren zurückverfolgen bis zu der Zeit, als die Vernes nicht nur eine wichtige Rolle am Hofe spielten, sondern auch für die Gerechtigkeit bekannt waren, mit der sie ihre Ländereien regierten.

Der Bischof stieß einen Seufzer aus und hörte im gleichen Augenblick ein Geräusch in der Halle. Erwartungsvoll wandte er sein Gesicht der Tür zu.

Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Stimmen nahe vor der Tür zu hören waren. Und schon erschien in der Tür die Gestalt eines jungen Mannes.

„Alvaric!“

Der Bischof hatte eine tiefe Stimme. Jetzt erhob er sich von seinem Stuhl.

„Hallo, Onkel Lorimer“, rief der Neuankömmling aus. „Dachte ich mir doch, daß du hier zu finden bist. Es ist sehr lieb von dir, hier auf mich zu warten.“

„Es ist mir eine Freude, dich daheim willkommen zu heißen, Alvaric. Ich habe lange auf deine Rückkehr gewartet.“

Der jüngere Mann lachte und sein Lachen schien den ganzen Raum ein wenig aufzuhellen, der durch seine Holztäfelung und die kleinen Fenster immer ein wenig düster wirkte.

„Es hat über sechs Monate gedauert, bis dein Brief mich erreichte“, sagte er. „Er ist schließlich über zweihundert Meilen durch die Lande getragen worden, bis ich ihn erhielt.“

„Ich dachte mir schon, daß die Verzögerung deines Kommens damit zusammenhängt“, sagte der Bischof. „Komm’ her, mein Junge, ich möchte dich genau betrachten.“

Sein Neffe gehorchte und setzte sich auf einen anderen eichenen Stuhl, dessen Rückenlehne mit einem Monogramm und einem Wappen verziert war.

Der Bischof betrachtete seinen Neffen kritisch, schien jedoch mit dem, was er sah, sehr zufrieden zu sein.

Alvaric war zweiunddreißig Jahre alt. Er war nicht nur ein besonders gutaussehender Mann, was schon immer der Fall gewesen war, sondern er strahlte außergewöhnliche Stärke und Vitalität aus.

Er besaß eine vollkommene Figur, hatte nicht ein Gramm Fett zuviel, seine Augen strahlten und seine Haut war sonnengebräunt.

Der junge Mann schien zu warten, was sein Onkel ihm mitzuteilen hatte, und nach einer ganzen Weile begann der Bischof zu sprechen. Seine Stimme klang, als wolle er sich entschuldigen.

„Als es soweit war, daß du erben solltest, blieb mir nichts anderes übrig, als dich zu bitten, so schnell wie möglich zurückzukehren.“

„Nun, ich habe mein Bestes getan!“

„Das weiß ich. Aber es schien so lange zu dauern. Und jetzt, da du endlich hier bist, wünschte ich, daß ich bessere Nachrichten für dich hätte.“

Alvaric, der jetzt der 11. Baron war, zog seine dunklen Brauen in die Höhe.

Dann fragte er plötzlich, und es schien eher eine Frage der Höflichkeit als der Neugierde zu sein: „Wie ist mein Cousin gestorben?“

„Er starb zur gleichen Zeit wie dein Onkel. Beide kamen bei einem Unfall mit der Kutsche ums Leben.“

Lord Vernham erwiderte nichts. Er schien darauf zu warten, daß der Bischof mit seinem Bericht fortfuhr.

„Warum solltest du nicht die ganze Wahrheit erfahren. Dein Cousin Gervaise war betrunken, wie schon so unzählige Male davor und aus irgendeinem unerklärlichen Grunde entschieden dein Onkel und sein Sohn sich, spät in der Nacht hierher zu fahren.“

Nach einer kleinen Pause fuhr der Bischof fort: „Mein Bruder hat in all den Jahren so wenig Interesse an seinen Besitztümern gezeigt, daß ich mir nur vorstellen kann, daß er überprüfen wollte, ob nicht doch noch etwas übrig war, das er hätte verkaufen können.“

„Verkaufen?“

„Wie ich bereits sagte, Alvaric, ich wünschte, ich hätte bessere Nachrichten für dich. Aber ich bin der Meinung, es ist besser, du erfährst die Wahrheit von mir, ehe die Anwälte sie dir mitteilen.“

„Eigentlich hatte ich schon vor neun Jahren, als ich England verließ, den Eindruck, daß mein Onkel dazu neigte, alles zu verspielen, was er an beweglichem Vermögen besaß.“

„So ist es auch gewesen“, erwiderte der Bischof. „Und Gervaise hat nichts unternommen, um ihn daran zu hindern. Er hat im Gegenteil fast ebenso viel verschleudert wie sein Vater.“

„Er hat auch gespielt?“

„Nicht nur das. Auch die Frauen und der Wein waren sein Verhängnis. Bekanntlich kosten all diese Dinge viel Geld.“

„Du willst mir also damit zu verstehen geben, daß ich nichts weiter als die Güter geerbt habe, an die keiner herankommen konnte. Außerdem die Abtei, die so wie sie im Augenblick dasteht, bald zusammenbrechen wird, und ich befürchte, noch einen Berg Schulden dazu.“

„Ein ganzes Gebirge davon“, sagte der Bischof.

Lord Vernham erhob sich, ging auf eine der Fensternischen zu, um ein Fenster zu öffnen. Dabei bemerkte er, daß der Rahmen bereits angebrochen war.

Aus dem weit geöffneten Fenster betrachtete er, was von dem herrlichen Garten, den sein Großvater vor langen Jahren angelegt hatte, übriggeblieben war. Er konnte den See sehen, in dem er seinen ersten Fisch gefangen hatte. Dahinter befand sich der große Park, in dem er als Junge das Reiten gelernt hatte.

Vernham Abbey war voll von Erinnerungen für ihn. Wie oft hatte er sich nach der Schönheit dieser Landschaft gesehnt, während er auf dem Kontinent gelebt hatte.

Niemals hatte er auch nur einen Augenblick daran gedacht, daß er diesen Besitz erben würde.

Sein Onkel, der 10. Lord Vernham, hatte einen Sohn, der ständig im Begriff stand, sich zu verheiraten.

Als sein Vater drei Jahre nach dem Tod der Mutter in der Schlacht bei Waterloo getötet worden war, hatte er sich entschlossen, England zu verlassen, da weder Geld noch sonst irgendetwas ihn in der Heimat hielt.

Es gab niemanden, der seine Abreise bedauerte, mit Ausnahme seines Onkels Lorimer, zu dem er eine tiefe Zuneigung empfand. Mit der der Jugend eigenen Abenteuerlust war er aufgebrochen, und es hatte nichts gegeben, was seine Reiselust und seinen Tatendrang hätte einschränken können.

Es hatte ihn wie ein Donnerschlag getroffen, als er den Brief seines Onkels erhalten hatte, der von der langen Reise völlig verschmutzt und zerknittert war.

Er konnte es einfach nicht glauben, daß er nun durch den unerwarteten Tod zweier Menschen zum Oberhaupt einer großen Familie geworden war.

Sein Großvater hatte drei Söhne gehabt: der Älteste, sein Onkel John, wurde zum Oberhaupt der Familie erzogen, das er nach dem Tode seines Vaters werden würde.

Der zweite Sohn, Alvarics Vater, ging in die Armee; und der dritte, Lorimer Verne, wurde Priester.

All dies war eine Jahrhunderte alte Tradition der Familie und trug dazu bei, das Vermögen zu vergrößern und den Titel am Leben zu erhalten.

„Was ist denn mit dem Land geschehen, das wir in London besaßen?“ fragte Lord Vernham. „Wenn ich mich recht erinnere, gehörte uns Vernham Square in Bloomsbury sowie einige Straßen.“

„Es ist deinem Onkel gelungen, dieses Erbe von Gervaise auch zu verkaufen“, erwiderte der Bischof.

„Aber war das denn legal?“

„Nun, eigentlich nicht. Aber niemand hat sich bemüßigt gefühlt, Einspruch zu erheben. Und ich bin auch der Überzeugung, daß alle beide, dein Onkel und Gervaise, ins Gefängnis hätten gehen müssen, wenn sie nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt eine erhebliche Summe aufgebracht hätten.“

„Was hältst du davon, mir zu sagen, was noch übriggeblieben ist?“

Lord Vernham verließ die Fensternische und setzte sich wieder auf den großen eichenen Stuhl, gegenüber von seinem Onkel.

„Ich befürchte, daß das, was ich dir zu sagen habe, ein großer Schock für dich sein wird“, begann der Bischof zögernd. „Ich weiß nicht, ob du dich noch an einen Mann namens Theobald Muir erinnern kannst, dessen Besitz im Süden an den der Vernhams angrenzte.“

„Muir?“ sagte Lord Vernham gedankenvoll. „Der Name ist mir irgendwie bekannt. War er ein Freund der Familie?“

„Dein Großvater hat es vom ersten Augenblick abgelehnt, diesen Mann zu akzeptieren, der das Gut einer Familie gekauft hatte, die bereits seit Jahrhunderten dort ansässig war.“

„Ich nehme an, Großvater hat einen Emporkömmling in ihm gesehen“, warf Lord Vernham schmunzelnd ein.

„Da hast du ganz recht“, antwortete der Bischof. „Mein Vater konnte sehr starrköpfig sein, was Neuankömmlinge betraf. Er konnte Theobald Muir vom ersten Augenblick an nicht leiden.“

„Und was geschah dann?“

„Sobald dein Onkel sein Erbe angetreten hatte, befreundeten sich die beiden Männer. Muir ist außergewöhnlich reich, und ich glaube, daß dein Onkel sich sofort von ihm Geld lieh, als sie sich ein wenig befreundet hatten.“

 

Der Bischof machte eine kleine Pause und es schien, als fiele es ihm schwer, über diese Dinge mit seinem Neffen zu sprechen.

Nach einigen Augenblicken fuhr er dann fort: „Ob Muir schon gleich zu Beginn einen Zweck mit seiner Großzügigkeit verfolgte, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber eines ist sicher: nachdem einige Jahre vergangen waren, gab es einen wichtigen Grund für ihn, deinem Onkel jeden gewünschten Betrag zu leihen und ihm abzukaufen, was immer dieser in bare Münze umwandeln wollte.“

Entsetzt sah Lord Vernham den Bischof an.

„Die Bilder!“ rief er aus.

„Sie gehören jetzt alle Theobald Muir.“

Lord Vernham sprang erregt auf.

„Verdammt, Onkel Lorimer! Verzeih’ mir meine Ausdrucksweise, aber das ist zuviel! Es sind doch Familienbilder, die nicht einem von uns gehören, sondern der ganzen Familie. Und die meisten von ihnen waren Porträts.“

„Vielleicht sollten wir Muir sogar dankbar dafür sein, daß er diese Sammlung zusammenhält“, warf der Bischof ein, jedoch klang es wenig überzeugend.

„Was hat er sonst noch von uns?“

„Das Silber.“

Lord Vernham bekam schmale Lippen.

Auch das Silber war ein Teil der Geschichte der Familie Vernham. Einiges stammte noch aus dem Besitz der Zisterzienser Mönche. Es waren Geschenke von Henry VIII. und anderen Königen darunter, unter anderem ein persönliches Hochzeitsgeschenk von König Georg II an den Ururgroßvater von Alvaric.

Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie der Weihnachtstisch mit all diesen kostbaren Stücken geschmückt wurde und wie sehr er sich als Kind an diesem Anblick gefreut hatte.

Lord Vernham schritt durch den Raum, als wolle er sich von seinen Gefühlen und Erinnerungen befreien.

Dann sagte er: „Es ist wohl überflüssig, dich zu fragen, was mit all den Wandbehängen und Teppichen geschehen ist. Sie waren alle so einzigartig und gehörten zur Abbey, daß es mir schwerfällt zu glauben, daß sie nicht länger an den Wänden hängen sollen.“

„Ich glaube, sie sind in guten Händen“, murmelte der Bischof.

„Aber sie gehören diesem Muir! Gibt es denn gar keinen Weg, dessen Eigentumsrechte anzufechten?“

Langsam erwiderte der Bischof: „Kein Gericht wird einer solchen Klage entsprechen. Es sei denn, die Schulden würden beglichen werden, für die all diese Dinge als Sicherheit übergeben wurden.“

„Wie hoch sind diese Schulden?“ fragte Alvaric.

Der Bischof zögerte einen Augenblick, bevor er antwortete: „So ungefähr 50 000 Pfund!“

„Das ist unglaublich!“ rief Lord Vernham aus.

Als er jedoch das Gesicht seines Onkels sah, wußte er, daß dieser die Wahrheit gesprochen hatte.

Er stieß einen tiefen Seufzer aus.

„Das ist also das Ende“, sagte er. „Das Ende der Abbey, das Ende der Güter und schließlich auch das Ende der Familie!“

Er ging eilig auf das Fenster zu, als müsse er dringend frische Luft haben.

Dann sagte er: „Du hast ja eine gewisse Vorstellung davon, was ich besitze. Es reicht gerade aus, um mir ein Leben in gewissem Wohlstand und Komfort zu ermöglichen und meine Reisen zu finanzieren. Aber es ist nicht einmal genug, um dieses Haus auch nur ein Jahr zu führen, geschweige denn für längere Zeit.“

Er schwieg einen Augenblick, um dann fortzufahren: „Aber in den Farmen steckt doch noch einiges Geld!“

„Sie sind fast alle leer und verlassen“, erwiderte der Bischof. „Dein Onkel hat niemals irgendwelche Reparaturen durchführen lassen. Und als die Pächter nach und nach starben, konnte niemand, auch kein Agent, Nachfolger finden. Viele der Farmhäuser haben keine Dächer mehr. Und es sind außergewöhnlich gute Farmer nötig, um das Land wieder wirklich fruchtbar zu machen.“

„Ich kann mich noch daran erinnern, daß die Leute sich erzählten, dies sei das fruchtbarste Stückchen Erde im ganzen Land.“

„So war es auch - zu Zeiten deines Großvaters.“

Lord Vernham wandte sich vom Fenster ab.

„Onkel Lorimer“, sagte er, „gib mir einen Rat, was ich tun soll.“

„Komm’ her und setz’ dich, Alvaric“, erwiderte dieser. „Es gibt eine Möglichkeit. Aber es fällt mir sehr schwer, zu dir davon zu sprechen.“

„Warum?“ fragte Lord Vernham erstaunt.

„Wie ich schon sagte, verfolgte Muir einen bestimmten Zweck, als er deinem Onkel immer wieder Geld zur Verfügung stellte und alles tat, damit Gervaise im Luxus leben konnte.“

„Er ist entweder ein übertriebener Menschenfreund oder ein Idiot!“ rief Lord Vernham aus.

„Das könnte man wirklich annehmen. Aber da gibt es noch etwas“, antwortete der Bischof langsam.

„Und was ist das?“

„Theobald Muir hat eine Tochter!“

Der Bischof sagte es ganz leise. Aber Lord Vernham sprang auf, als hätte ihn eine Tarantel gestochen.

„Eine Tochter?“ rief er aus.

„Sie war mit Gervaise verlobt, bevor dieser starb.“

„Ich verstehe!“ sagte Lord Vernham langsam. „Das ist es also, was Muir will. Seine Tochter eine Lady Vernham. Ein hoher Preis für einen Titel.“

„Es scheint wirklich wie eine Sucht bei ihm zu sein“, erwiderte der Bischof. „Ähnlich wie das Spiel für deinen Onkel. Es ist das Ziel seines Lebens und ich bin sicher, er wird alles tun, um dieses Ziel zu erreichen.“

Lord Vernham schwieg eine lange Weile. Als er dann seinen Onkel ansah, konnte dieser die unausgesprochene Frage in den dunklen Augen seines Neffen lesen.

„Ich habe Muir gestern getroffen“, sagte der Bischof ruhig. „Er ließ mich wissen, daß er alles, was einst deinem Onkel gehörte, dir als Hochzeitsgeschenk zurückgeben würde, wenn du dich entschließen würdest, seine Tochter zu heiraten.“

Hörbar sog Lord Vernham die Luft ein.

„Soweit ich informiert bin“, fuhr der Bischof fort, „besitzt seine Tochter Jarita bereits jetzt schon ein beträchtliches Vermögen von ungefähr 300 000 Pfund. Und nach dem Tode ihres Vaters wird sie dessen gesamten Besitz erben.“

„Schlägst du mir diese Lösung allen Ernstes vor?“ fragte Lord Vernham.

„Ich sage dir nur, wozu Muir bereit wäre. Und ich halte ihn für einen Mann, der sein Wort auch einhält.“

„Aber dieses Mädchen - kann sie denn ihre Gefühle so schnell von einem Mann auf den anderen übertragen?“

„Ich bezweifle, daß sie in dieser Angelegenheit überhaupt ein Wort zu sagen hat“, erwiderte der Bischof trocken. „Und ich glaube, daß jedes Mädchen, das Gervaise heiraten sollte, es als sehr angenehm empfinden würde, nun stattdessen dich zu bekommen.“

Wieder schritt Lord Vernham erregt durch den Raum.

Es lagen nur einige wenige Läufer auf dem Holzfußboden, so daß seine Schritte zu dröhnen schienen.

„Das ist zuviel verlangt! Das ist für jeden Mann einfach zuviel!“ rief er aus. „Ich bin frei, Onkel Lorimer. Ich war immer mein eigener Herr. Um ehrlich zu sein, so sehr ich unsere Familie liebe und achte, und ich weiß, was sie für jeden von uns bedeutet, habe ich doch nicht das Verlangen, für die Familie geopfert zu werden.“

„Das kann ich wohl verstehen“, antwortete der Bischof und seine Stimme war voller Zuneigung. „Aber es gibt noch etwas, Alvaric, und das ist die Pflicht. Wie immer du auch empfinden magst, du bist jetzt Lord Vernham und als dieser das Oberhaupt der Familie.“

„Was noch von ihr übrig ist.“

„Schließlich gibt es noch immer über fünfzig Vernes, die von sich behaupten können, in direkter Linie mit uns verwandt zu sein. Und hunderte, die durch Heirat und Verschwägerung mit der Familie verbunden sind.“

„Und du glaubst, daß dieser Ort hier ihnen wirklich etwas bedeutet?“

„Es bedeutet ihnen genauso viel wie dir und mir“, sagte der Bischof. „Dies hier ist das Zentrum der ganzen großen Familie. Es hat sicher immer auch schlechte und schwache Vernes gegeben und solche, die ihr Erbe verschludert haben und den Namen befleckt haben. Aber der größte Teil hat sich ein Leben lang bemüht, die Ehre der Familie zu erhalten und zu vergrößern, damit auch noch unsere Nachkommen stolz auf diesen Namen sein können.“

Der Bischof hatte mit bewegter Stimme gesprochen. Sein Neffe antwortete nach kurzer Pause: „Jetzt weiß ich, wozu du mich überzeugen willst.“

„Wenn du es dir genau überlegst, wirst du sicher auch zu der Überzeugung kommen, daß die Abbey eine Heirat wert ist.“

„Allein der Gedanke daran erfüllt mich mit Entsetzen!“ rief Lord Vernham aus. „Nicht nur, daß es eine der ,arrangierten Ehen‘ sein wird. Ich weiß sehr wohl, daß solche Heiraten unter den adligen Familien seit Jahrhunderten üblich waren. Und im Osten sieht kein Mädchen seinen Ehemann vor der Hochzeit.“

Er seufzte, bevor er hinzufügte: „Aber dieses Mädchen, die Tochter von Theobald Muir, war mit meinem Cousin verlobt!“

„Gervaise hätte auch die Tochter des Teufels geheiratet, solange sie nur vermögend war“, bemerkte der Bischof trocken.

Lord Vernham mußte lachen.

„Das ist es, was ich an dir liebe, Onkel Lorimer!“ sagte er. „Du sprichst aus, was du denkst. Andere in deiner Position haben zwar die gleichen Gedanken, würden aber bemüht sein, sie möglichst hochgeschraubt zu äußern.“

Der Bischof zwinkerte mit den Augen.

„Ich spreche im Augenblick nicht als Bischof zu dir, Alvaric, sondern als ein Verne. Ich scheue mich nicht, dir zu sagen, daß Gervaise mir zuwider war. Und wenn es nicht zu unchristlich wäre, würde ich sogar behaupten, daß es besser für die restliche Welt ist, daß Gervaise sie verlassen hat.“

„War er denn so schlimm?“ fragte Lord Vernham und zog erstaunt die Brauen in die Höhe.

„Noch viel schlimmer!“ erwiderte der Bischof. „Es gibt eine Menge Leute, die dir von dem schlechten Benehmen deines Cousins berichten können, so daß ich es jetzt nicht weiter ausführen muß. Und ich möchte betonen, daß ich nicht nur erstaunt bin, daß irgendein Vater den Wunsch haben konnte, seine Tochter mit einem Mann wie Gervaise zu verheiraten.“

„Womit wir wieder bei Theobald Muir wären!“

„Genau!“

„Ich nehme an, du erwartest von mir, daß ich ihn aufsuche?“

„Du hast nur die Alternative, deine Hände in Unschuld zu waschen und dahin zurückzukehren, woher du gerade gekommen bist. Sicher wirst du in der Wildnis Afrikas die Abbey vergessen können. Und diese wird dann nach und nach zerfallen, bis sie dem Erdboden gleich ist.“

Die Worte des Bischofs klangen in keiner Weise dramatisch, wodurch sie jedoch noch überzeugender wirkten.

Lord Vernham erhob sich wieder und ging an das Fenster, um in den Garten zu schauen.

Die Narzissen erschienen ihm noch leuchtender, als er sie in Erinnerung gehabt hatte.

Er fragte sich, ob wohl noch immer die Forellen im See wären. Ein Gärtner hatte ihm gezeigt, wie sie zu fangen waren, als er noch ein kleiner Junge war. Wie oft hatte er all die Tricks gebrauchen können, wenn er auf seinen langen Reisen am Wasser Rast machte und den Wunsch verspürte, einen Fisch zu essen.

Aber niemals hatte ein Fisch so lecker geschmeckt, wie die Forellen, die er in diesem See gefangen hatte. Und keine noch so exotische Frucht war ihm so delikat erschienen, wie die Pfirsiche, die er als Kind im Küchengarten gestohlen hatte.

Sicher war der Küchengarten jetzt voller Unkraut und die Pferdeställe waren leer. Im Geiste sah er all die Mäuler, die sich begierig jeder Möhre und jedem Apfel entgegenstreckten, den man ihnen brachte.

Er erinnerte sich an die Küchenmädchen, die ihn wegen seiner schmutzigen Schuhe auszankten, aber immer ein Stück Kuchen oder eine andere Leckerei für ihn bereit hatten.

Später dann schnitten sie ihm dicke Scheiben vom Schinken ab, die er mit auf die Jagd nahm.

Wie hatte er es geliebt, über das Land zu reiten und den Wind in seinem Gesicht und seinen Haaren zu spüren.

Überall in der Abbey verbargen sich Erinnerungen an seine Kindheit.

Obwohl seine Eltern ein Haus am anderen Ende der Stadt besaßen, hielt er sich doch größtenteils bei den Großeltern auf.

Er hörte noch heute, wie seine Mutter besorgt sagte: „Ich möchte nicht, daß der Junge euch zur Last fällt.“

Worauf seine Großmutter beteuert hatte: „Alvaric wird niemals eine Last für uns sein. Er ist ein echter Verne. Und erst letzte Nacht hat sein Großvater gesagt, daß er der beste Reiter im ganzen Umkreis ist.“

Er hatte sich immer bemüht, gut mit seinem Cousin Gervaise auszukommen. Dieser hatte ihn jedoch ständig zurückgestoßen.

 

„Du hast immer die besten Pferde! Nur darum bist du der schnellste“, hatte Gervaise ihm eines Tages vorgeworfen.

Als Alvaric dann versuchte, gemeinsam mit ihm zu reiten, hatte er es abgelehnt. Er wollte niemals etwas mit seinem Cousin teilen.

Heute wußte Lord Vernham, daß dies einer der Gründe war, aus dem er nach dem Tode seines Vaters die Heimat verlassen hatte.

Es wäre ihm unmöglich gewesen, mitanzusehen, wie Gervaise die Diener, die Pächter und all die Leute behandelte, die ihr Leben lang auf dem Gut gelebt hatten und für die es das Zuhause bedeutete.

Von Jahr zu Jahr beunruhigte es ihn mehr zu beobachten, wie sein Onkel dem Spiel verfiel und die Abbey vernachlässigte.

Er beobachtete, wie notwendige Reparaturen nicht ausgeführt wurden. Die Häuser für die alten Pächter waren nicht so ausgestattet wie sie sein sollten. Viele der Hütten standen leer und verfielen langsam.

Aber er wußte sehr wohl, daß es ihm nicht zustand, sich in die Geschäfte seines Onkels einzumischen, und daß sein Name ihm kein Recht an der Abbey gab.

Als er die Heimat dann verlassen hatte, war es ihm jedoch nicht möglich zu vergessen. Die Abbey hatte ihn verfolgt, und er wußte, würde er jetzt wieder fortgehen, sie würde ihn bis zu seinem Tode nicht mehr loslassen.

Und doch gab es etwas in seinem Innern, was sich dagegen auflehnte, an jemandes Schürzenzipfel gebunden zu werden.

Er verspürte keinen Wunsch zu heiraten. In seinem Leben hatte es viele Frauen gegeben, aber früher oder später waren sie ihm alle gleichgültig geworden und er hatte keiner von ihnen hinterher getrauert.

Es erschien ihm untragbar, an eine Frau gebunden zu sein, zumal diese Frau die Tochter des Mannes war, der alles unternommen hatte, die Abbey zu kaufen.

Er wurde krank bei dem Gedanken, daß ein Fremder all die Bilder und Teppiche von den Wänden nehmen würde, daß das Silber und sogar all die persönlichen Kostbarkeiten seiner Großmutter in fremde Hände gelangen würden.

Zweifellos war Theobald Muir in einer sehr günstigen Position für seinen Handel und Lord Vernhams Freiheit war ein vergleichsweise kleiner Preis, den er für den Familienbesitz zu zahlen hätte.

„Nun, einen Trost gibt es bei allem“, sagte er laut, nachdem weder er noch sein Onkel eine ganze Weile gesprochen hatten.

„Was für ein Trost?“ fragte der Bischof.

„Es gibt genug Platz für meine Tiere.“

„Deine Tiere?“ fragt der Bischof überrascht.

„Um genau zu sein, zwei Leoparden, zwei Löwen und eine Anzahl Papageien!“

„Die hast du mitgebracht? “

„Ich konnte sie schlecht alleine zurücklassen. Ich habe sie gezähmt, und es wäre ihr Todesurteil gewesen, sie nach so langen Jahren wieder in die freie Wildbahn auszusetzen.“

„Glaubst du, daß sie hier in England werden leben können?“

„Es ist nichts Neues, Onkel Lorimer, in England ein Gehege zu haben. Schon zu Zeiten von Julius Cäsar kannte man solche Gehege. Ich wünschte, ich hätte noch mehr Tiere mitbringen können. Eigentlich hatte ich noch einen Strauß im Sinn, doch er hätte die Reise wohl nicht überstanden.“

„Und deine Löwen und Leoparden haben keinen Schaden erlitten?“

„Sie waren zwar etwas nervös, als ich sie das letzte Mal sah, aber ansonsten gesund. Sie werden mit der Eisenbahn hierher transportiert werden und das wird noch einige Tage dauern, wie du dir vorstellen kannst.“

Der Bischof lachte.

„Schon als kleiner Junge warst du voller Überraschungen, Alvaric, und jetzt überraschst du mich wieder. Niemals hätte ich mir vorstellen können, daß du Wildkatzen als Haustiere hältst. Ich erinnere mich nur daran, wie du mit deinem Vater begeistert auf die Jagd gingst.“

„Vielleicht liegt es daran, daß ich lange mit Buddhisten zusammengelebt habe. Ich habe keinen Wunsch mehr zu töten“, erwiderte Lord Vernham. „Manchmal mag es zwar unvermeidlich sein, um zum Beispiel die Familie zu erwähnen. Aber es besteht ein großer Unterschied, ob man zum Vergnügen tötet oder um zu überleben.“

„Ich kann nur immer wieder sagen, du überraschst mich!“

„Nicht halb so viel wie du mich überraschst“, antwortete Lord Vernham. „Und jetzt Onkel Lorimer würde ich gerne etwas trinken. Ich muß gestehen, daß ich nach der langen Reise doch sehr durstig bin.“

„Mein lieber Junge, wie nachlässig von mir!“ rief der Bischof aus. „Ich hätte schon viel eher daran denken sollen, aber ich war in der Tat so beschäftigt, mit dem was ich dir zu sagen hatte, daß es mir völlig aus dem Sinn kam.“

Er erhob sich.

„Ich habe etwas Wein mitgebracht. Laß uns in den Speisesaal gehen, wo meine Diener ein kleines kaltes Buffet hergerichtet haben, da ich dachte, daß du sehr hungrig sein würdest.“

„Und ob ich das bin!“ rief Lord Vernham. „Ich bin dir sehr dankbar Onkel Lorimer.“

Sie gingen einen leeren Korridor entlang zum Speisesaal.

Lord Vernham erinnerte sich an den riesigen Tisch, der in kein anderes Haus hineinpassen würde, und an dem früher fünfzig Mönche ihr Mahl eingenommen hatten.

Die riesige offene Feuerstelle war von einem kostbaren, handgearbeiteten Kaminsims aus Marmor umgeben, eine Arbeit aus dem 17. Jahrhundert.

In den jeweiligen Fensternischen standen, aus Glas gearbeitet, die Wappen der Vernes und der Familien, die durch Heirat und Verschwägerung mit ihnen verbunden waren.

Mehr jedoch als alles andere nahmen im Augenblick die Speisen die Aufmerksamkeit des Bischofs und seines Neffen in Anspruch.

„Obwohl du ein Junggeselle bist, Onkel Lorimer“, bemerkte Lord Vernham, „weißt du doch alle Vorzüge eines verheirateten Mannes zu schätzen!“

„Nicht alle, mein Junge, aber einige schon“, erwiderte der Bischof zustimmend. „Ich bin überzeugt davon, daß wir uns sehr viel besser und ruhiger fühlen werden, wenn wir erst einmal gegessen und getrunken haben. Was wir heute morgen erlebt haben, war, gelinde gesagt, sehr anstrengend.“

„Ich bin dir sehr dankbar, Onkel Lorimer, daß du mich persönlich über meine Situation aufgeklärt hast“, sagte Lord Vernham warm. „Du hattest recht, es wäre schrecklich für mich gewesen, all dies von einem Außenstehenden zu erfahren.“

„Das dachte ich mir“, sagte der Bischof.

Wie selbstverständlich nahm er am oberen Ende der Tafel Platz. Für einen kurzen Augenblick verharrte er mit gefalteten Händen im Gebet, um dann genußvoll mit dem zarten Lachs seine Mahlzeit zu beginnen.

„Du mußt mir verzeihen, Alvaric, wenn ich dich daran erinnere, daß heute Freitag ist; ich bin daher gezwungen, Fisch zu essen.“

„Der Lachs ist heute aber auch wirklich ausgezeichnet“, erwiderte Lord Vernham schmunzelnd. „Soll ich den Wein öffnen?“

„Sei bitte so freundlich“, erwiderte der Bischof. „Ich dachte mir, es sei besser, wenn wir uns selbst behelfen. In Gegenwart der Diener ist eine wirkliche Unterhaltung ja nicht möglich.“

„Da stimme ich dir zu“, sagte Lord Vernham. „Und du kannst sicher sein, daß ich es gewohnt bin, mir selbst zu helfen. Es war mir lange Zeit nicht möglich, den Eingeborenen beizubringen, wie sie mich bei Tisch zu bedienen hätten.“

Er mußte schmunzeln bei der Erinnerung daran, wie turbulent es zeitweilig zugegangen war während seines Aufenthaltes in Afrika.

„Ich habe den Eindruck, daß das Leben dort unten dich stark gemacht hat“, bemerkte der Bischof.

„Ja, es war ein hartes Leben, aber ich habe es gerne gelebt“, antwortete Lord Vernham.

Der Bischof hob sein Glas und sagte: „Laß’ mich auf dein Wohl trinken, Alvaric. Ich möchte dir sagen, daß du dich, durch die Entscheidung, die du getroffen hast, nicht nur wie ein Gentleman, sondern auch wie ein echter Verne verhältst.“

Lord Vernham wußte, daß es keine größere Anerkennung gab, die sein Onkel ihm hätte geben können.

Als dieser ihm mit seinem Glas zu toastete, sagte Lord Vernham mit einem Zwinkern in den Augen: „Vielen Dank, Onkel Lorimer, aber ich kann mir nicht helfen. Ich habe den Eindruck, daß du nicht so erfreut wärest, wenn es sich hier um deine Zukunft handeln würde und du die Tochter des Theobald Muir heiraten solltest!“

„Da hast du Recht“, stimmte der Bischof ihm zu. „Aber man kann nie wissen. Vielleicht stellt sich eines Tages heraus, daß sie viel angenehmer ist, als wir es uns vorstellen.“

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