Atemlos aus Lauter Liebe

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Atemlos aus Lauter Liebe
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Atemlos aus Lauter Liebe

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2018

Copyright Cartland Promotions 1976

Gestaltung M-Y Books

www.m-ybooks.co.uk

1 ~ 1817

Prunellas erster Gedanke beim Aufwachen galt ihrer Schwester Nanette. Normalerweise sprach sie um diese Zeit ein Gebet. An diesem Morgen schien aber das Problem, das sie beim Einschlafen bewegt hatte, bereits auf sie zu warten.

Was soll ich nur tun? fragte sie sich.

Im Grunde hatte sie doch alles Menschenmögliche getan.

Sie hatte es für eine gute Idee gehalten, daß die hübsche und gescheite Nanette mit siebzehn bei Hofe vorgestellt wurde.

Viele Mädchen aus der Gesellschaft erlebten in diesem Alter ihr Debüt.

Da die Trauerzeit um ihren Vater im März endete, kam ein Brief von Lady Camworth, Nanettes Patin, wie gerufen. Darin schlug sie vor, ihre Patentochter Ende April der Königin im Buckingham Palast vorzustellen.

Es blieb also noch genügend Zeit, um Nanette mit der eleganten Garderobe zu versorgen, die für eine Londoner Saison unerläßlich war, und die Schwester in die gesellschaftlichen Regeln einzuführen.

Prunella hatte Lady Camworths freundliche Einladung akzeptiert und Nanette in Begleitung ihrer Zofe und eines erfahrenen Couriers nach London geschickt.

»Ich weiß wirklich nicht, weshalb du mich nicht selbst begleitest«, wandte Nanette ein.

Dieser Gedanke war Prunella bisher nicht gekommen. Ihr war klar, daß Lady Camworth sicherlich keinen Wert darauf legen würde, gleich zwei Mädchen unter ihre Fittiche zu nehmen. Prunella selbst hatte ihre Chance schon vor einigen Jahren versäumt.

»Ich bin viel zu alt«, erwiderte sie mit einem Lachen, das den Ernst ihrer Worte überspielen sollte.

»Unsinn! Du bist doch nicht zu alt«, protestierte Nanette.

Sie war nicht noch einmal auf dieses Thema zurückgekommen. Nanette dachte nicht gern daran, wie trübsinnig und langweilig das Leben ihrer älteren Schwester während der vergangenen drei Jahre verlaufen sein mußte.

Prunella sorgte sich aber weniger um sich, als um Nanette.

Das Mädchen kam in der zweiten Juniwoche nach Hause, nachdem der Prinzregent Carlton House verlassen hatte, um nach Brighton House zu fahren. Die Saison näherte sich bereits dem Ende.

»Du mußt mir alles erzählen, Liebes«, bat Prunella an ihrem ersten gemeinsamen Abend.

So lebhaft und heiter Nanette auch plauderte, Prunella kannte sie gut genug, um zu wissen, daß sie ihr etwas verheimlichte. Worum es sich dabei handelte, erfuhr Prunella, noch ehe Nanette mit der Sprache herausrückte.

Lady Camworth schrieb nämlich in einem Brief:

»Ich muß wohl nicht betonen, daß Nanette ein großer Erfolg war. Jeder war entzückt von ihrem Aussehen, von ihrer eleganten Garderobe deren Auswahl ich mir hoch anrechne, ihrer liebenswürdigen Art und den exzellenten Manieren.

Natürlich hat die Tatsache, daß sie eine Erbin ist, ihr den Weg geebnet und ihr Einladungen verschafft, die sie sonst vielleicht nicht erhalten hätte. Aber eine junge, vermögende Frau ist auch gewissen Schwierigkeiten ausgesetzt. Eine davon heißt im Vertrauen gesagt Pascoe Lowes.

Er ist der Sohn Lord Lowestofts und wurde seit seiner Kindheit von einer überaus nachgiebigen Mutter verwöhnt Dazu kommt, daß er für den Seelenfrieden eines jungen Mädchens bei weitem zu gut aussieht. Als er anfing, sich an Nanettes Fersen zu heften, bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich habe mich nach Kräften bemüht, Nanette begreiflich zu machen, daß Lowes allgemein als Mitgiftjäger verschrien ist und nicht als ernstzunehmender Bewerber angesehen werden kann. Natürlich hoffe ich, daß er sie vergißt, wenn sie erst wieder aufs Land zurückgekehrt ist. Ich halte es aber für meine Pflicht, dich zu warnen, da er sie mit Aufmerksamkeiten förmlich überschüttet hat. Ich fürchte nun, daß sie deswegen zwei durchaus passenden Herren die kalte Schulter gezeigt hat. Beide hätten ihr, dessen bin ich sicher, mit ein bißchen Entgegenkommen ihrerseits einen Antrag gemacht.

Du mußt mir verzeihen, liebste Prunella, daß ich diese Situation nicht schon zu Beginn verhindert habe. Aber ich wußte wirklich nicht, wie ich die beiden, nachdem sie sich kennengelernt hatten, voneinander hätte fernhalten sollen. Ich hoffe nun sehr, du bringst das Mädchen zur Vernunft. Sie darf ihre Zeit nicht an einen Pascoe Lowes verschwenden.«

Prunella las den Brief mehrmals durch, sagte aber vorerst noch nichts. Klugerweise wartete sie, bis Nanette sich ihr anvertraute. Das geschah ziemlich bald. Denn Nanette blieb gar nichts anderes übrig, als ein Mietwagen aus London eintraf, der ein riesiges Blumengebinde und einen Brief für sie brachte.

Nanette war außer sich vor Entzücken über diese extravagante Geste.

»Kannst du dir vorstellen, daß einem ein Mann von so weit her Blumen schickt?« rief sie begeistert.

»Dein Verehrer muß sehr reich sein«, bemerkte Prunella.

Daraufhin erzählte Nanette die ganze Geschichte.

»Die Patin meinte, Pascoe sei ein Glücksjäger«, erzählte Nanette, »aber das stimmt nicht. Er hat ganz offen zugegeben, kein Geld zu haben. Ich bin ganz sicher, daß er mich auch lieben würde, wenn ich keinen Penny besäße.«

»Liebling, du bist sehr reich«, wandte Prunella ein. »Ich halte es für einen Fehler, in deiner Lage einen Mann ohne Vermögen zu heiraten.«

»Er kann mein Geld ausgeben«, erwiderte Nanette sorglos.

»Wenn er ein Ehrenmann ist, dürfte ihm das kaum behagen.«

Prunella redete mit Engelszungen auf ihre jüngere Schwester ein, bis sie merkte, daß Nanette ihr gar nicht zuhörte, sondern mit leuchtenden Augen den großen Blumenstrauß bewunderte. Dabei faßte sie mit der Hand nach dem Brief in der Schärpe ihres Kleides.

Eine Woche später schon quartierte sich der Ehrenwerte Pascoe Lowes in einem kaum fünf Meilen entfernten Haus ein. Prunella wunderte sich, daß er Leute in der Gegend kannte. Doch dann fiel ihr ein, daß Lowes Mutter ja die ältere Tochter des verstorbenen Earl of Winslow war.

Sie hatte seinem Namen nicht viel Bedeutung zugemessen. Jetzt erinnerte sie sich, daß Lady Anne einen Lord Lowestoft geheiratet hatte, dessen Familienname Lowes lautete.

Im Geiste hörte sie wieder den Earl, der ein guter Freund ihres Vaters gewesen war, sagen, wie unerträglich langweilig er seinen Schwiegersohn fand. Als Folge davon waren Lord und Lady Lowestoft selten zu Besuch in Winslow Hall gewesen.

Während ihrer Kinderzeit mußte das aber häufiger der Fall gewesen sein. Später hörte sie, daß Lord Lowestoft durch eine schwere Krankheit ans Bett gefesselt war. Der Earl pflegte kaum noch Leute einzuladen, nur ihr Vater schien sein einziger Gast zu sein.

Seit Prunella wußte, daß sich Nanette für seinen Enkelsohn interessierte, tat es ihr leid, daß er nicht mehr lebte. Der alte Earl, ein aufbrausender und furchterregender Mann, hätte solch unpassendes Benehmen bestimmt nicht befürwortet. Nichts konnte schlimmer sein, als den Ruf eines Glücksjägers zu tragen.

Es dauerte nicht lange, bis Pascoe Lowes den Schwestern einen Besuch abstattete. Prunella erkannte auf den ersten Blick, daß es schwierig sein würde, Nanette davon zu überzeugen, daß sie es lediglich mit einem zwar gutaussehenden aber etwas übertrieben eleganten, jungen Mann zu tun hatte.

Prunella war noch nie in London gewesen. Sie wußte daher nicht, wie die Beaus und Dandys dort tatsächlich aussahen. Der junge Mann, der auf sie zukam, gehörte offenkundig zu beiden Kategorien. Seine phantastische Erscheinung beeindruckte sie so sehr, daß sie sich wie ein nach Luft schnappender Goldfisch vorkam.

»Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Broughton«, schmeichelte er Prunella. »Ihre Schwester hat mir ihre tugendvolle Schönheit in so leuchtenden Farben beschrieben, daß es mir schwerfiel, an die Existenz eines solchen Musterbildes zu glauben. Wie ich nun sehe, hat sie keineswegs übertrieben.«

Er zieht wirklich alle Register seines Charmes, dachte Prunella.

Gleichzeitig wirkte Pascoe sehr bezaubernd und sprach mit solcher Ernsthaftigkeit, daß sie sein Kompliment, ohne es zu wollen, mit einem Lächeln quittierte.

Ganz offensichtlich aber hörte er ihr während seines Besuches gar nicht zu. Er beobachtete stattdessen Nanette. Seine Blicke, die auf ihr ruhten, waren so feurig und bedeutungsvoll, daß sie wohl jedem Mädchen den Kopf verdreht hätten, ganz besonders einem so unerfahrenen wie Nanette.

Nach Beendigung des Besuches, den Pascoe Lowes klugerweise nur kurz gestaltete, war Prunella mehr als beunruhigt.

Der junge Mann entsprach in keiner Beziehung den Vorstellungen, die sie sich von ihrem zukünftigen Schwager gemacht hatte. Und sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß er Nanette sehr unglücklich machen würde.

Wie sollte ein Mädchen, das auf dem Lande aufgewachsen war, einen Ehemann ertragen, der Stunden damit zubrachte, seine Krawatte so schwierig und kunstvoll zu schlingen, daß ihn die anderen Dandys darum beneideten.

Die Spitzen seines Hemdkragens erreichten genau die vorgeschriebenen Stellen unter seinem Kinn. Die Haare waren zu einer Windstoßfrisur gebürstet, die der Prinzregent in Mode gebracht hatte.

Seine feinen Lederstiefel verdankten ihren Glanz, wenn man Nanette Glauben schenken konnte, dem Champagner.

Letzteres ärgerte Prunella besonders. Der junge Mann hatte kein Geld und war zudem offenbar im Begriff, einen Berg von Schulden anzuhäufen!

 

Er verließ das Haus, nachdem er Prunella mit weiteren extravaganten Komplimenten bedacht und Nanettes Hand länger als notwendig gehalten hatte. Der Eindruck, den er hinterließ, würde sich nicht so leicht auslöschen lassen.

Nanette blickte den ganzen Abend mit verklärten Augen in die Welt. Was immer Prunella auch gegen Pascoe sagen würde, es stieße nur auf taube Ohren.

Was soll ich nur tun? dachte sie, als sie am Abend zu Bett ging. Eine Frage, die sie sich während der ganzen Woche immer wieder stellte.

Die Tür zu Prunellas Schlafzimmer ging auf. Charity, schon seit Kindertagen ihre Dienerin, kam herein und ging zum Fenster. Charity war im Waisenhaus aufgewachsen und kam mittlerweile langsam in die Jahre. Trotz ihres Alters bewegte sie sich noch genauso geräuschlos wie zu der Zeit, als sie ihren Dienst im Haus angetreten hatte. Im Laufe der Jahre war sie vom Haus- zum Kindermädchen und schließlich, nach Nanettes Geburt, zur Kinderfrau avanciert.

Inzwischen war Charity Zofe und Haushälterin zugleich. Als Sir Frederick starb, ernannte sie sich außerdem selbst zur Anstandsdame für Prunella und Nanette.

Prunella hatte mit dem Gedanken gespielt, eine ältere Dame zu bitten, bei ihnen zu wohnen. Doch erstens kannte sie keine geeignete Person und zweitens wußte sie, daß sie Einschränkungen ihrer Freiheit nicht ertragen konnte.

Wir führen ein ruhiges Leben, hatte sie sich gesagt. Außerdem dürfte es kaum etwas geben, was in der Grafschaft nicht bereits über uns geredet wurde.

Ihre Augen nahmen einen harten Ausdruck an, die Lippen zuckten vor Bitterkeit. Sie bemühte sich, ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben, welche unweigerlich zu Nanette führte.

Als Charity die Vorhänge zurückzog, strömten die Sonnenstrahlen durchs Fenster. Dann drehte sie sich zum Bett herum. Prunella wußte, bevor sie den Mund öffnete, daß Charity etwas mitzuteilen hatte.

»Was ist los, Charity?« fragte Prunella, die instinktiv fühlte, daß es sich um nichts Gutes handeln konnte.

»Heute morgen ist wieder ein Brief für Miss Nanette eingetroffen. Anscheinend hat sie hellseherische Fähigkeiten und wußte, daß er kommen würde. Sie war schon unten an der Eingangstür, ehe Bates dort anlangte.«

»War sie bereits angezogen?« wollte Prunella wissen.

»Nein, sie trug ihren Morgenmantel. Ich sagte ihr, sie solle sich schämen, in solch einem Aufzug die Treppe hinunterzugehen. Eine Lady würde so etwas niemals tun.«

»Was hat sie geantwortet?«

»Ich hätte genauso gut gegen eine Wand reden können. Sie preßte den Brief gegen ihre Brust und lief an mir vorbei in ihr Schlafzimmer. Ich hörte nur noch, wie sie von innen den Schlüssel herumdrehte.«

Prunella seufzte tief.

»O Charity, was sollen wir nur mit ihr machen?«

»Ich habe keine Ahnung, was wir tun können, Miss Prunella. Nicht auszudenken, was Ihr Vater zu diesem Vorfall gesagt hätte. Miss Nanette im Nachtgewand auf dem Weg zur Eingangstür, ohne sich um die Anwesenheit männlicher Diener zu kümmern!«

Charity war zutiefst schockiert, ein Gefühl, das Prunella teilte.

Nicht, daß der alte Bates wirklich zählte. Er war schon fast so lange bei ihnen wie Charity. Und der einzige weitere Diener, den sie im Augenblick hatten, war Bates’ Enkelsohn. Er war ein bißchen einfältig und würde kaum bemerken, wie jemand angezogen war.

Es ging Prunella aber ums Prinzip. Sie hielt es für ihre Pflicht, Nanette zu schelten und ihr das Versprechen abzunehmen, daß so etwas nicht wieder geschehen würde.

Charity ging zur Tür und brachte ein Tablett, auf dem eine Kanne feinsten chinesischen Tees, ein Teller mit einer dünnen Scheibe Brot und Butter stand.

Nachdem sie es auf dem Tisch neben dem Bett abgestellt hatte, sagte sie geheimnisvoll: »Mrs. Goodwin hat heute morgen überraschende Neuigkeiten mitgebracht.«

Prunella schenkte sich Tee ein und erwartete, nur belanglosen Dienerklatsch zu hören.

Mrs. Goodwin war eine der Frauen vom Gut, die beim Putzen halfen. Sie verbrachte aber mehr Zeit mit Schwatzen als damit, die Korridore sauber zu halten.

»Sie erzählte, daß Mr. Gerald gestern abend zurückgekommen ist.«

Prunella stellte die Teekanne hin.

»Mr. Gerald?« wiederholte sie erstaunt.

»Ich sollte wohl eher sagen »Seine Lordschaft«, doch irgendwie will mir das nicht über die Lippen.«

Prunellas Augen wurden plötzlich ganz groß.

»Sie meinen doch nicht etwa . . .«

»Doch, Miss Prunella. Der neue Earl of Winslow ist wieder zu Hause, wenn man Mrs. Goodwin Glauben schenken kann. Nach vierzehn Jahren!«

»Das kann nicht wahr sein. Ich dachte schon, er würde niemals kommen.«

»Nun, er ist da«, stellte Charity lakonisch fest. »Wenn Sie mich fragen, wahrscheinlich nur um nachzuschauen, was er verkaufen kann.«

»O nein!«

Prunella flüsterte zwar, doch die Worte schienen tief aus ihrem Inneren zu kommen.

Während Charity vor den Kleiderschrank trat, sprach Prunella wie zu sich selbst.

»Der Earl ist ein Verwandter Pascoe Lowes und . . .«

Ihre Stimme erstarb. Aber Charity schien zu wissen, worauf sie hinauswollte.

»Falls Sie denken, er könnte Ihnen helfen, diesen jungen Dandy daran zu hindern, Miss Nanette nachzulaufen, dürften Sie sich irren. Er ist nämlich genauso schlimm, wenn nicht sogar schlimmer als sein Neffe.«

Es war auch müßig, sich näher darüber auszulassen. Prunella hatte schon ihr ganzes Leben lang über das indiskrete und extravagante Benehmen Geralds, des einzigen Sohnes des Earls, reden hören.

Als Gerald noch daheim lebte, hatten die Leute auf dem Gut, im Dorf und in der Grafschaft über kaum etwas anderes gesprochen als über seine wilden Feste, seine verrückten Freunde und die schönen, verführerischen Frauen, die ihn umschwärmten.

Im Jahre 1803, während des Waffenstillstandes zwischen Frankreich und England, erreichten die Dinge ihren Höhepunkt.

Prunella war damals erst sieben und konnte die Situation noch nicht überblicken. Später wurde ihr die Geschichte so oft erzählt, daß sie sie auswendig kannte. Obwohl sie inzwischen einige Variationen davon gehört hatte, fiel es ihr genau wie beim ersten Mal schwer zu glauben, daß sie der Wahrheit entsprachen. Bei dem selbstherrlichen alten Earl mußte alles nach seinen Wünschen gehen. Sein Sohn war offenbar aus dem gleichen Holz geschnitzt.

Beide waren starrköpfig, selbstgerecht und anmaßend. Der Earl verlangte von seinem Sohn, einen Schlußstrich unter seine Affären zu ziehen und nicht mehr so viel Geld zu verschwenden. Er solle endlich heiraten. und eine Familie gründen.

Gerald aber antwortete, daß er nichts dergleichen zu tun gedenke.

»Sie waren wie zwei Kampfhähne«, erzählte einer der alten Gefolgsleute Prunella. »Keiner wollte nachgeben. Widerstand konnte Seine Lordschaft nicht ertragen; dann verlor er regelrecht die Beherrschung.«

Prunella hatte selbst so manchen Tobsuchtsanfall des alten Earl erlebt. Er gab dann kein besonders erfreuliches Bild ab. Jetzt erfuhr sie, daß Mr. Gerald ebenfalls ein solch ungezügeltes Temperament besaß.

Die beiden standen also einander in nichts nach. Am Ende drohte der Earl, begleitet von vielen Beleidigungen, seinen Sohn zu enterben.

Gerald teilte seinem Vater mit, was er mit seinem Geld anfangen könnte.

»Nichts als schöne Worte«, höhnte der Earl. »Ohne Geld wirst du bald im Schuldenturm landen und mich um Hilfe bitten.«

»Lieber würde ich sterben«, erwiderte Gerald. »Du kannst dein verdammtes Geld, deine unerbetenen Ratschläge und deine ständigen Besserwissereien für dich behalten. Und was mein Erbe und dieses Gut betrifft, das dir so viel bedeutet, kann es soweit es mich betrifft, getrost verrotten. Ich würde keinen Finger rühren, um das Haus vor dem Einstürzen zu bewahren.«

Er hätte nichts Schlimmeres sagen können, um seinen Vater mehr aufzubringen. Doch ehe dem Earl eine passende Antwort einfiel, war Gerald bereits gegangen.

Als nächstes wurde bekannt, daß Mr. Gerald England verlassen hatte, nicht ohne die hübsche, junge Frau eines Nachbarn mitzunehmen. Ihr um viele Jahre älterer Ehemann drohte, Gerald wie einen tollwütigen Hund niederzuschießen.

Von diesem Augenblick an herrschte Schweigen.

Einen Monat später flammte erneut der Krieg mit Frankreich auf. Man wußte nur, daß Gerald England verlassen hatte. Falls er sich nach Paris gewandt hatte, was wahrscheinlich war, war die Dame, die ihn begleitet hatte, jedenfalls nicht zurückgekehrt.

Nur wenigen Menschen war die Flucht aus den Gefängnissen geglückt, in die Napoleon alle britischen Besucher gesperrt hatte. Gerald befand sich aber nicht darunter.

Nach fünf Jahren sprach sich herum, daß die Dame, die er mitgenommen hatte, im Fernen Osten an Cholera gestorben war. Keiner wußte danach, ob Gerald ebenfalls ein Opfer dieser Krankheit geworden war. Prunella erinnerte sich, was der Earl ihrem Vater vor vier Jahren erzählt hatte. Er habe einen Brief von einem Freund erhalten, in dem stand, daß Gerald in Indien gesehen worden sei.

Von einer Heimkehr konnte nicht die Rede sein. Sie wäre auch sehr schwierig gewesen, falls er nicht auf einem Truppentransporter gefahren wäre. Obwohl das britische Königreich die Meere beherrschte, war es eine lange und gefährliche Reise von Indien nach England. Die einzigen Schiffe, die diese Fahrten unternahmen, waren solche, die Truppen nach Indien brachten oder sie nach Hause holten.

Ein Jahr bevor Prunellas Vater starb, erlitt der Earl einen Schlaganfall.

Nach einem seiner Temperamentsausbrüche sank er bewußtlos zu Boden. Er siechte noch zwei oder drei Monate dahin und starb schließlich, ohne jemanden wiederzuerkennen.

Es war teilweise dem schmerzlichen Verlust seines alten Freundes zuzuschreiben, daß der ohnehin nur noch schwache Lebenswille ihres Vaters erloschen war.

Prunella hatte ihn Tag und Nacht gepflegt. Er verabscheute es, fremde Leute um sich zu haben, und klammerte sich so fest an sie, daß sie ihn in seinen letzten Lebenstagen nicht allein lassen durfte.

Hielt sie sich tagsüber nicht in seinem Schlafzimmer auf, rief er nach ihr. Auch nachts schickte er manchmal zwei- oder dreimal nach ihr nur um sie zu sehen.

Gleichzeitig wurde er so nörgelig und schwierig, wie es nur ein Invalide sein kann. Als er schließlich starb, war die erschöpfte Prunella einem Zusammenbruch nahe.

Nachdem Charity sie ins Bett gesteckt hatte, schlief sie achtundvierzig Stunden durch.

»Ich muß aufstehen«, befahl sie sich mit schwacher Stimme nach diesen zwei Tagen.

»Sie bleiben, wo Sie sind, Miss Prunella«, bestimmte Charity mit fester Stimme.

»Aber . . .«

»Miss Nanette und ich schaffen es allein. Schlafen Sie weiter, Miss Prunella. Ich wecke Sie, wenn wir Sie brauchen.«

Prunella fühlte sich zu schwach und müde, um zu widersprechen. Später wurde ihr klar, daß Charitys Behandlung sie vor einem Zusammenbruch bewahrt hatte.

Zuerst vermochte sie kaum zu glauben, daß sie nun frei war, ihr eigenes Leben zu führen, ohne ihren Vater nach ihr rufen zu hören, ohne jede Minute des Tages an seine Bequemlichkeiten zu denken. Aber es gab ihrer Meinung nach viele Dinge, die nur sie tun konnte. Während sie aufstand und sich ankleidete, fragte sie sich, ob der neue Earl sich wohl wie sein Vater benehmen würde.

Nach seiner langen Abwesenheit würde er sicher den Wunsch haben, sich für die Vergangenheit zu entschädigen und seine Stellung als Oberhaupt der Familie einzunehmen.

Der verstorbene Earl hatte äußerlich und charaktermäßig etwas von einem Patriarchen aus dem Alten Testament gehabt. An seinen Sohn konnte Prunella sich kaum erinnern. Sie nahm jedoch an, daß er der langen Reihe der Winslows folgen würde, die Winslow Hall zu einem bedeutenden Ort, nicht nur für die Familie, sondern auch für die nähere und weitere Umgebung gemacht hatten.

Sie knöpfte gerade ihr Kleid zu, als sie sich plötzlich an etwas erinnerte, was Charity gesagt hatte.

» . . . nur um nachzuschauen, was er verkaufen kann.«

Die Worte schienen im Raum widerzuhallen. Wenn dem so war, stand dem neuen Earl of Winslow ein sehr unangenehmer Schock bevor.

Zwei Stunden später stieg Prunella in die zwar altmodische, aber gut gefederte Kutsche, die von zwei schönen Pferden gezogen wurde, und machte sich auf den Weg nach Winslow Hall.

Dawson, der alte Kutscher, zeigte keine Anzeichen von Überraschung, als sie ihm ihr Ziel nannte. Insgeheim fragte sie sich, ob er wohl von der Rückkehr des jungen Earls wußte.

 

Neuigkeiten über ihn pflegten sich wie ein Buschfeuer auszubreiten. Was Mrs. Goodwin wußte, mußte eigentlich inzwischen allseits bekannt sein.

Prunella stieß einen Seufzer aus.

Das bevorstehende Gespräch würde gewiß nicht einfach werden. Sie wünschte, jemand hätte sie begleitet, um ihr notfalls beizustehen.

Nanette konnte man dazu nicht gebrauchen, schon gar nicht, nachdem sie heute morgen einen Brief von Pascoe erhalten hatte. Außerdem war es besser, wenn das, was sie dem Earl sagen wollte, ihrer Schwester nicht zu Ohren kam.

Natürlich hätte sie Charity mitnehmen können. Prunella konnte sich hingegen nicht vorstellen, daß bissige Bemerkungen über »Mr. Geralds« Vergangenheit die Situation in irgendeiner Beziehung erleichtern würden.

Es war schwer vorauszusehen, welche Haltung er an den Tag legen würde.

Die Kutsche fuhr durch das kleine Dorf mit dem schwarzweißen Fachwerk-Gasthof, vorbei an dem kreisrunden Teich, auf dem immer Enten schwammen, und den Häusern, die ein früherer Earl in wohlhabenden Tagen gebaut hatte.

Die Pferde trabten durch das Tor, zu dessen beiden Seiten steinerne Pförtnerhäuschen standen. Sie wurden von zwei Pförtnern bewohnt, die inzwischen so alt und zitterig waren, daß sie ihren Dienst nicht mehr ausüben konnten. Die Torflügel standen daher ständig offen.

Die lange und holperige Einfahrt mußte dringend aufgeschüttet werden. Auch um die alten Eichen rechts und links des Weges hatte sich offenbar seit langem niemand mehr gekümmert, und die Uferbänke des kleinen Sees waren von Iris förmlich überwuchert.

Winslow Hall selbst war ein wunderschönes Gebäude. Es stammte von dem berühmten Architekten Indigo Jones. Leider bedurften die Ziegel einer gründlichen Säuberung. Im obersten Stockwerk war eine ganze Anzahl von Fensterscheiben zerbrochen. Nur die untersten beiden Geschosse befanden sich in gutem Zustand, weil man sie erst kürzlich in Ordnung gebracht hatte.

Die Kutsche hielt vor der offenen Eingangstür.

Dawson, der Kutscher, war zu alt, um herunterzuspringen und Prunella beim Aussteigen zu helfen.

»Soll ich hier auf Sie warten oder hinten im Hof, Miss Prunella?« fragte er.

Prunella zögerte einen Augenblick.

»Ich denke, Sie sollten ums Haus herumfahren und nach den Carters schauen«, entschied sie. »Die unerwartete Rückkehr Seiner Lordschaft dürfte sie ein bißchen aus der Fassung gebracht haben.«

»Wie Sie meinen, Miss Prunella.«

Ohne ein weiteres Wort lief sie die Stufen hinauf ins Haus.

Wie sie erwartet hatte, war die Eingangshalle leer. Obwohl Prunella ein bißchen nervös war, steuerte sie mit resoluten Schritten auf die Bibliothek zu, wo sie den Earl zu finden hoffte. Aber auch dort war er nicht. Genauso wenig wie im angrenzenden großen Salon, dessen Fensterläden noch geschlossen waren. Sogar die Möbel waren noch verhüllt.

Prunella dachte einen Augenblick nach. Dann ging sie die Treppe hinauf, deren kunstvolles schmiedeeisernes Geländer aus dem siebzehnten Jahrhundert stammte. Oben angelangt, wandte sie sich der Gemäldegalerie zu.

Der Gedanke, ihn dort zu finden, schmerzte sie aus bestimmten Gründen.

Prunella hatte sich nicht geirrt. In der Galerie, die die ganze Länge des Hauptgebäudes einnahm, befand sich tatsächlich ein Mann.

Er wandte ihr den Rücken zu. Prunella bemerkte nicht sofort, daß er hochgewachsen und breitschultrig war, sie sah zunächst nur, daß er ein Bild von van Dyck betrachtete.

Sie preßte die Lippen zusammen und ging langsam auf ihn zu. Als er ihre Schritte hörte, drehte er sich um. Gerald, der sechste Earl of Winslow, glich in keiner Weise dem Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte.

Da immer so viel von seinem wilden, zügellosen Benehmen gesprochen worden war, hatte sie einen Dandy in der Art seines Neffen Pascoe erwartet. Diese Beschreibung paßte aber nicht auf den Mann, der ihr mit einem Ausdruck der Überraschung in den dunklen Augen entgegenblickte. Seine nachlässige Kleidung zeigte mehr als alles andere, daß Charity recht gehabt hatte. Er war hier, um etwas zu finden, was sich verkaufen ließ.

Seine Jacke war korrekt geschnitten, saß aber viel zu locker. Die Hosen waren unauffällig. Was seine Lederstiefel betraf, so mußten sie dringend geputzt und poliert werden.

Die Krawatte hätte Pascoes helles Entsetzen erregt. Sogar für Prunellas Geschmack wirkte sie höchstens bequem, aber keineswegs elegant.

Das Auffällige an ihm war seine braune Haut. Prunella mußte sich erst ins Gedächtnis rufen, daß er ja aus Indien kam und daher sonnengebräunt sein mußte.

Während sie den Earl aufmerksam betrachtete, tat er das gleiche mit ihr. Er überlegte, wer diese Frau wohl sein mochte und ob er sie je zuvor gesehen hatte. Als sie näherkam, wurde ihm klar, daß das nicht möglich war, sie war zu jung, als daß er ihr früher schon einmal hätte begegnet sein können.

Sein erster Eindruck erwies sich demnach als falsch. Er hatte sich durch das einfache graue Kleid und den Schutzhut mit den grauen Bändern täuschen lassen und zuerst geglaubt, eine Frau mittleren Alters vor sich zu haben.

Das ovale, von großen, grauen Augen beherrschte Gesicht war das einer jungen Frau. Ihn wunderte ihr kritischer und offen mißbilligender Blick.

»Darf ich mich erkundigen, ob Sie gekommen sind, um mich zu besuchen?« fragte er, als sie vor ihm stand. »Da mir das sehr unwahrscheinlich vorkommt, gibt es vielleicht einen anderen Grund für Ihre Anwesenheit in Winslow Hall?«

Prunella knickste.

»Ich bin Prunella Broughton, Mylord. Mein verstorbener Vater, Sir Roderick, war ein enger Freund Ihres Vaters.«

»Ich erinnere mich an Sir Roderick«, erwiderte der Earl. »Dann sind Sie sicherlich das hübsche kleine Mädchen, das ihn bei seinen Besuchen manchmal begleitete.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie sich meiner erinnern. Leider muß ich Ihnen etwas sagen, was Sie wissen sollten.«

»Nun, ich traf erst gestern abend hier ein und bin gerade dabei, die Bekanntschaft mit meinen Ahnen zu erneuern. Aber selbstverständlich werde ich Ihnen gern zuhören, Miss Broughton.«

»Wenn Sie einige der Bilder verkaufen wollen, dann bitte nicht dieses«, rief Prunella. »Es ist das Beste von allen. Ihr Vater pflegte dazu immer folgende Geschichte zu erzählen: Als van Dyck das Bild beendet hatte, wollte er in jenem Augenblick sterben, weil er überzeugt war, niemals mehr ein besseres Portrait zu malen.«

Daraufhin entstand ein betroffenes Schweigen.

»Woraus folgern Sie, daß ich beabsichtige, eines dieser Bilder zu verkaufen«, begann der Earl schließlich.

»Ich fürchtete, Sie hätten das im Sinn«, gestand Prunella. »Wenn Sie erlauben, zeige ich Ihnen eine Liste, auf der ich die Gegenstände im Haus aufgeführt habe, die einen guten Preis erzielen, von zukünftigen Generationen aber nicht so vermißt werden wie die Gemälde in der Galerie.«

»Ich verstehe kein Wort, Miss Broughton. Was veranlaßt Sie dazu, sich derart mit meinen privaten Angelegenheiten zu beschäftigen?«

Prunella zog den Atem ein.

»Um das zu erklären, bin ich hier, Mylord.«

Der Earl schaute sich um, als wolle er vorschlagen, sich hinzusetzen. Die Sessel in der Galerie aber trugen Hüllen, die die Polster am Verblassen hindern sollten.

Prunella las seine Gedanken.

»Wir sollten nach unten in die Bibliothek gehen«, schlug sie vor. »Ich habe immer dafür gesorgt, daß der Raum in Ordnung ist.«

»Sie haben dafür gesorgt?« fragte der Earl ungläubig.

»Das muß ich Ihnen auch erklären«, setzte sie leicht errötend hinzu.

»Ich bin sehr gespannt auf Ihre Erklärung.«

In seiner Stimme schwang eine gewisse Härte mit.

Sie gingen schweigend durch die Galerie die Treppe hinunter in die Halle. Dort stießen sie auf einen Mann, von dem Prunella annahm, daß es sich um den Kammerdiener handelte.

»Da sind Sie ja, Mylord«, rief er in einem Ton, den Prunella ein wenig zu vertraulich fand. »Da nichts zu essen im Haus ist, dachte ich mir, ich fahre ins Dorf und kaufe ein.«