Die fälsche Braut

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Die fälsche Braut
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Die fälsche Braut

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2021

Copyright Cartland Promotions 1985

Gestaltung M-Y Books

www.m-ybooks.co.uk

I

Die Queen erhob sich und reichte dem Prinzgemahl die Hand.

Sir Rupert unterdrückte ein Gähnen.

Es war ein langweiliger Abend gewesen - wie immer im Buckingham-Palast. Er fragte sich, was jemand an diesen sich endlos hinziehenden Empfängen finden konnte, und dachte, daß Ihre Majestät vielleicht der einzige Mensch war, der diese Orgie an Steifheit und Förmlichkeit wirklich genoß.

Die Königin lächelte gnädig, während sie sich anschickte, durch das Spalier der Gäste langsam und würdevoll den Thronsaal zu verlassen.

Ein Knistern von Seide, Satin, Taft und Tüll erfüllte die Luft, als die Damen in einem tiefen Hofknicks niedersanken. Orden und Ehrenzeichen blitzten im Schein zahlreicher Kerzen, als die Häupter der Herren sich respektvoll verneigten.

Nun wird es bald vorüber sein, dachte Sir Rupert und verspürte plötzlich das unwiderstehliche Verlangen, den überhitzten Raum mit seiner pompösen Gespreiztheit und der gezwungen fröhlichen Atmosphäre zu verlassen.

Aber Ihre Majestät schien keine Eile zu haben.

Sie hielt eine Weile bei Lord John Russell, dem Premierminister, dann lächelte sie Lord Grey, dem Kriegsminister huldvoll zu und wechselte mit ihm einige Worte. Der Prinzgemahl, ganz Ernst und Würde, nutzte die Zeit zu einer Bemerkung an Mr. Grenville, die dieser ohne Zweifel in seinem berühmten Tagebuch verewigen würde.

Endlich setzte sich der königliche Zug wieder in Bewegung. Sir Rupert war schon im Begriff, den Kopf zu neigen, als er zu seiner Überraschung feststellte, daß die Königin die Absicht hatte, ihn anzureden.

Er blickte auf sie nieder, und wieder stellte er mit Erstaunen fest, welch eine Aura von Würde und Autorität die kleine Person ausstrahlte. Es war unmöglich, sich dem zu entziehen und von ihr nicht beeindruckt zu sein.

An diesem Abend lächelte sie heiter, ihre Augen strahlten, und es war offensichtlich, daß sie den Empfang rundherum genossen hatte. Dabei gab es andere Gelegenheiten, bei denen dieser Mund einen harten, eigensinnigen Zug annahm und die Augen vor Zorn und Verachtung funkelten.

»Es ist nett, Sie hier zu sehen, Sir Rupert«, sagte die Königin mit ihrer klaren, wohlklingenden Stimme, die seltsamerweise einen Ton tiefer klang, als man es bei einer so zierlichen Person erwartete.

»Danke, Ma'am«, murmelte Sir Rupert.

»Aber beim nächsten Mal«, fuhr die Königin fort, »würden wir uns freuen, an Ihrer Seite - Ihre Gemahlin begrüßen ... zu können.«

Eine Erwiderung hierauf blieb Sir Rupert schuldig.

Seine Verblüffung war zu groß. Einen Augenblick lang glaubte er, nicht richtig gehört zu haben. Dann - noch bevor er sich durch ein Neigen seines Kopfes für die fragwürdige Ehre, die ihm zuteil geworden war, zu bedanken vermochte - war Ihre Majestät bereits weitergegangen. Die Woge der zu Boden sinkenden Damen und sich verneigenden Herren bewegte sich weiter auf die doppelflügelige Eichentür zu.

Sir Rupert stand wie erstarrt.

Einen Moment lang hatte er tatsächlich das Gefühl, als wäre sein Hirn gelähmt, als wäre er außerstande, die Tragweite des Gesagten auch nur annähernd zu begreifen.

Dann öffneten die rotlivrierten, goldbetreßten Lakaien die Flügel der großen Saaltür, und der königliche Zug mit den diensttuenden Würdenträgern, Kammerherren und Hofdamen verschwand aus Sir Ruperts Blickfeld. Lautes Stimmengewirr brandete auf, und der Schock, der ihn befallen hatte, begann zu weichen.

Der Lärm im Saal schien Orkanstärke anzunehmen, die Versammlung gab die Zurückhaltung auf, deren sie sich drei lange Stunden über befleißigt hatte. Sir Rupert wußte plötzlich, daß er gehen mußte, wenn er es vermeiden wollte, von den Umstehenden mit Fragen bedrängt werden.

Es würde eine Sache von Sekunden sein, bevor sich jemand auf ihn stürzte und wissen wollte, was die Queen mit ihrer Bemerkung wohl gemeint hatte.

War er etwa schon verlobt?

Hatte er Heiratspläne?

Durfte man erfahren, wer die Erwählte war?

Solche und ähnliche Fragen würde man ihm stellen, und er verspürte nicht den geringsten Wunsch, darauf zu antworten.

Abrupt wandte sich Sir Rupert zum Gehen, und der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ einige bereits eilfertig Näherkommende erschreckt stehen bleiben.

Mit schnellen Schritten verließ er den Thronsaal, durchquerte den grünen Salon, in dem die Erfrischungen gereicht wurden, und stieg die von Leibgardisten bewachte, mit einem roten Läufer ausgelegte Treppe hinunter.

Sein Name wurde gerufen, eine Hand berührte seinen Arm, einer seiner Freunde versuchte ihn zurückzuhalten, doch Sir Rupert reagierte auf nichts. In ihm war nur das Bestreben, diesem Gebäude zu entfliehen und endlich die kühle Nachtluft zu atmen, nach der er sich schon seit Stunden gesehnt hatte, die seit wenigen Minuten jedoch eine lebenswichtige Bedeutung für ihn erlangt hatte.

Draußen vor dem Palast schickte er seine Kutsche nach Hause und schritt an der berittenen Ehrengarde vorbei durch das Tor des Palasthofes.

Er hatte keinen Blick für die vor dem Tor wartende Menschenmenge, die seit Stunden geduldig ausharrte, um der Abfahrt der königlichen Gäste zuzuschauen.

Geistesabwesend bog er in die Mall ein.it seiner Hofkleidung mit Kniehosen, Seidenstrümpfen, und purpurbesetztem Umhang bot der hochgewachsene, schwarzhaarige Mann einen imponierenden Eindruck. Doch war es nicht nur seine Kleidung, die die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zog. Es war der zynische Ausdruck auf seinem scharfgeschnittenen Gesicht, die Kälte in den durchdringend blickenden Augen, die Verachtung und Anmaßung, die seine ganze Erscheinung ausstrahlte.

Kein Wunder, daß zwei junge Frauen, die auf der Mall seinen Weg kreuzten, sich gegenseitig anstießen und die eine zur anderen sagte: »Mit so einem Mannsbild möchte ich mal ins Bett steigen! Das ist wenigstens ein Kerl! Im Moment allerdings werd' ich 'nen weiten Bogen um ihn machen., Sieht verdammt danach aus, als sei Seiner Lordschaft 'ne Laus über die Leber gekrochen. Selbst den Teufel könnte ich mir nicht erschreckender vorstellen.«

Sie hatte nicht ganz unrecht mit ihrer Bemerkung, denn Sir Rupert war noch nie so wütend gewesen.

Diejenigen im Thronsaal, die in seiner Nähe gestanden hatten, mochten sich fragen, was die Königin mit ihren Worten hatte sagen wollen, er fragte sich das nicht.

Er wußte es.

Ihre Majestät hatte ihm soeben eine Warnung und gleichzeitig einen Befehl zukommen lassen.

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel war das geschehen. Er hatte nie damit gerechnet, war der Meinung gewesen, sich aufs Beste gegen eine derartige Überraschung abgesichert zu haben.

Doch er hatte sich geirrt. Es war ja auch absurd gewesen, zu glauben, daß sich niemand für sein Privatleben interessierte.

Er hätte wissen müssen, daß die Spione und Spitzel des Hofes überall waren. Es gab wenige Dinge im Leben der Londoner Gesellschaft, über die die Königin nicht Bescheid wußte.

Er hatte sich wie ein Dummkopf benommen, hatte sich für clever gehalten und sich eingebildet, er könnte alle an der Nase herumführen und niemand würde ihm auf die Schliche kommen.

Narr, der er war, zu glauben, seine Liebesaffäre mit Clementine würde unbemerkt bleiben und dem Hof nicht zu Ohren kommen.

Er fragte sich, wie lange die Königin wohl schon davon wußte. Zwei Monate, drei oder gar sechs?

Nein, sechs Monate konnte sie noch nicht davon wissen, denn im Januar erst hatte das Gespräch mit Lord John Russell stattgefunden, in dem der Premierminister ihm erklärt hatte, man werde ihm das Amt des Außenministers antragen, sobald Lord Palmerston von seinem Posten zurückgetreten sei.

Sir Rupert Wroth war überwältigt gewesen von dieser Nachricht.

Schon seit Jahren arbeitete er auf dieses Ziel hin, aber nicht einmal im Traum hatte er eine so rasche Verwirklichung seiner hochfliegenden Pläne für möglich gehalten. Nicht einmal nach den phänomenalen politischen Erfolgen, auf die er trotz seiner Jugend zweifellos zurückblicken konnte.

Von dem Augenblick an, da er Mitglied des Parlaments geworden war, hatte er im Licht des öffentlichen Interesses gestanden - zunächst als Hinterbänkler und später als Unterstaatssekretär.

Er war siebenundzwanzig gewesen, als man ihn mit dem Auftrag in die Kolonien schickte, dort die Regierung Ihrer Majestät zu vertreten.

Der Außenminister war über Nacht erkrankt, und außer Sir Rupert Wroth hatte es niemanden gegeben, der dessen Platz hätte einnehmen können.

Eine einmalige Chance für den jungen Politiker, seine Fähigkeiten demonstrativ unter Beweis zu stellen.

Und Sir Rupert hatte diese Chance genutzt, hatte das Vertrauen, das seine Freunde in ihn setzten, voll und ganz gerechtfertigt.

Die Reise war ein triumphaler Erfolg gewesen - so triumphal, daß Ihre Majestät ihn nach seiner Rückkehr in den Ritterstand erhoben hatte.

Von da an galt er als der vielversprechendste junge Politiker im Unterhaus.

Das diplomatische Geschick, das er bei seiner Mission bewiesen hatte, wurde nicht vergessen! Im Gegenteil, der Premierminister betraute ihn immer wieder mit schwierigen Sonderaufträgen, die Sir Rupert alle mit Bravour ausführte.

Und dann - das Jahr 1850 hatte sich gerade mit den gewohnten internationalen Zwischenfällen, einer Kriegsdrohung und Dutzenden von diplomatischen Krisen eingeführt - schickte Lord John Russell nach ihm und setzte ihn von einem entscheidenden Plan in Kenntnis: Er sei entschlossen, eröffnete der Premierminister dem fassungslos lauschenden Unterstaatssekretär, Lord Palmerston seines Amtes zu entheben. Die Königin, die schon seit längerer Zeit nicht gut auf den Außenminister zu sprechen sei und seine Amtsführung wiederholt kritisiert habe, müsse endlich zufriedengestellt werden.

 

»Ich habe Lord Palmerston des Öfteren deutlich gemacht, daß ich das Mißbehagen der Königin an seinem Verhalten teile«, sagte der Premier. »Aber der Mann stört sich nicht daran.«

Er fuhr fort, von den Schwierigkeiten in der Außenpolitik zu sprechen, von der angespannten Lage in Europa, der heiklen Position, in der die britische Regierung sich befand.

Sir Rupert hörte aufmerksam zu. Seine Hoffnung wuchs, er glaubte das angestrebte Ziel in greifbarer Nähe.

Doch seine Hoffnung, Lord Palmerston würde zurücktreten, sollte einen schweren Rückschlag erleiden.

Die geplante Absetzung Lord Palmerstons schlug fehl. Schuld daran waren einmal die verschärften Angriffe der Opposition gegen die Außenpolitik der Regierung und zum anderen die Rechtfertigung derselben durch den Angegriffenen selbst. Lord Palmerston verteidigte seine Politik nämlich derart überzeugend, daß er großes Lob in der Öffentlichkeit erntete. Seine Popularität nahm zu, das Echo auf seine Reden im Parlament war so positiv, daß an seiner Stellung nicht mehr zu rütteln war.

Sir Rupert mußte sich also auf eine längere Wartezeit einrichten, was er auch mit der ihm eigenen Geduld und Gelassenheit tat.

Er wartete - und versuchte sich die Wartezeit damit zu verkürzen, daß er sich mit den Damen amüsierte - oder genauer gesagt, daß er ihnen gestattete, sich mit ihm zu amüsieren.

Seine Liebesabenteuer waren seit langem zum Tagesgespräch in London und zum Gegenstand mannigfacher Spekulationen geworden. Sich ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt mit Lady Clementine Talmadge abzugeben, war - wie sich jetzt herausstellte - ein verhängnisvoller Fehler gewesen.

Lady Clementine war eine bekannte Schönheit und stand als solche im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Außerdem besaß sie den Ruf, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, was ihr die Mißbilligung der puritanischen und leicht zu schockierenden jungen Königin eintrug.

Lady Clementine hatte den Sommer auf dem Land verbracht, und Sir Rupert war es schleierhaft, wie das, was im ländlich-abgelegenen Norden zwischen ihr und ihm geschah, so rasch nach London oder Windsor gelangen konnte. Offensichtlich hatte er - vielleicht zum ersten Mal im Leben - sowohl seine Feinde als auch seine Freunde unterschätzt ...

Während er nun Richtung St. James's Street ging, spürte er, daß sein Zorn langsam verebbte und nüchternen Überlegungen Platz machte. Er war sich bewußt, daß die Äußerung der Königin sich längst bei sämtlichen auf dem Empfang anwesenden Gästen herumgesprochen hatte.

Eine Tatsache, die einen Rattenschwanz von Mutmaßungen, Spekulationen und Gerüchten nach sich ziehen mußte. Man würde über eine heimliche Verlobung oder gar Heirat tuscheln. Das Rätselraten um die Auserwählte begann, das Forschen nach den Gründen für die vermeintliche Heimlichtuerei. Je weniger die Leute wußten, um so mehr würde ihre Phantasie ins Kraut schießen und sich von dem entfernen, was die Königin ihm klar und unmißverständlich zu verstehen gegeben hatte.

Ihre Majestät wünschte, daß er auf der Stelle Ordnung in sein Privatleben brachte. Andernfalls war der Traum, als Nachfolger Lord Palmerston das Amt des Außenministers zu übernehmen, ausgeträumt. Er war also gezwungen, seine Affäre mit Lady Clementine zu vergessen - und bereits bei seinem nächsten Besuch bei Hof in Begleitung einer Braut zu erscheinen, die von der Gesellschaft akzeptiert wurde, die würdig war, die Gemahlin des zukünftigen Außenministers Ihrer Majestät zu werden.

Die Unverschämtheit eines solchen Ansinnens nahm ihm regelrecht den Atem. Und doch konnte er nicht umhin, tief in seinem Inneren die selbstverständliche Direktheit zu bewundern, mit der die Königin stets auf ihr Ziel zusteuerte. Tatsächlich gab es selten irgendwelche Zweifel über das, was ihre Majestät von den Leuten erwartete, die sie auf eine so lapidare und unverblümte Art und Weise ansprach.

Oft genug war er in schallendes Lachen ausgebrochen, wenn er davon hörte, daß sie wieder einmal mit wenigen Worten und nur mit der Kraft ihres Willens einen ihrer Gegner in die Schranken verwiesen oder seine Pläne durchkreuzt hatte. Jetzt allerdings, da er selbst das Objekt des königlichen Durchsetzungsvermögens geworden war, fand er das Ganze keineswegs mehr ergötzlich.

Sir Rupert verhielt den Schritt. Er schaute auf, um festzustellen, wo er sich befand. Er stand vor dem Eingang von White's und hatte bereits den Fuß auf die erste Stufe der Treppe gesetzt, als gedämpftes Gelächter an sein Ohr drang. Er hatte keine Ahnung, worüber die Clubmitglieder sich amüsierten, vermochte jedoch nicht auszuschließen, daß er selbst der Anlaß zu ihrer wiehernden Heiterkeit war.

Hastig zog er seine Uhr aus der Tasche. Es war kurz vor zehn. Zu früh, um schon zu Bett zu gehen.

Ganz plötzlich wußte er, was er zu tun hatte. Er mußte zu Clementine und sie von dem Vorgefallenen unterrichten. Unausdenkbar, wenn sie von jemand anderem über seine Begegnung mit der Königin erfuhr!

Die Talmadges weilten im Augenblick auf dem Land, wo sie sich bereits den ganzen Sommer über aufhielten. Ungeduldig wandte Sir Rupert der Eingangstür des Clubs den Rücken. Er hatte London satt, und würde ebenfalls aufs Land fahren. Mit schnellen Schritten überquerte er den Piccadilly und ging zum Berkeley Square hinunter. Unterwegs wurde er mehrmals von Bettlern angesprochen; und Frauen, die dem ältesten Gewerbe der Welt nachgingen, versuchten seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Aber er hörte und sah nichts. In seinem Hirn arbeitete es. Mit dem glasklaren, präzis arbeitenden Intellekt, den alle kannten, die mit ihm im Unterhaus zu tun hatten, entwarf er seine Pläne.

Es stand für ihn fest, daß er vorsichtig sein mußte nach dem, was an diesem Abend im Palast geschehen war. Wenn er bei der Kontaktaufnahme mit Clementine auch nur den kleinsten Fehler machte, spielte er denen in die Hände, die mit einem solchen Schritt rechneten und nichts Eiligeres zu tun haben würden, als es der Königin zu melden.

Zum Glück hatte er sich nur äußerst selten im Haus der Talmadges sehen gelassen. Er und Lady Clementine trafen sich heimlich und - wie sie bisher geglaubt hatten - völlig unerkannt in London oder in den Wäldern rings um Wroth. Doch wie sich jetzt herausgestellt hatte, waren sie viel zu sorglos und leichtsinnig vorgegangen. Und vor allem - in der Zukunft konnten sie nicht umsichtig und vorsichtig genug sein.

Sir Rupert entschied, daß er zunächst nach Wroth fahren würde. Damit konnte er nichts falsch machen, auch dann nicht, wenn man berücksichtigte, daß der Besitz der Talmadges an den seinen angrenzte. Dort angekommen, mußte er versuchen, ein unauffälliges Treffen mit Clementine zu arrangieren.

Wenn er London noch in dieser Nacht verließ, würde er zum Frühstück auf Wroth sein. Dann konnte man weitersehen.

Er betrat sein Haus am Berkeley Square, reichte dem Butler Umhang und Hut und begann mit ruhiger und beherrschter Stimme seine Anweisungen zu geben.

»Von einem alten Freund der Familie, der ebenfalls auf dem Empfang war, hörte ich, daß es meiner Großmutter gar nicht gut geht«, fügte er dann hinzu. »Ich nehme an, sie wird verboten haben, mich von ihrem schlechten Gesundheitszustand zu unterrichten. Sie glaubt bestimmt, meine Aufgaben im Parlament ließen mir keine Zeit zu einem Krankenbesuch. Aber ich werde natürlich unverzüglich nach Wroth aufbrechen.«

»Sehr wohl, Sir Ruprecht«, erwiderte der Butler. »Darf ich der Hoffnung Ausdruck verleihen, daß es sich bei der Nachricht um einen falschen Alarm handelt und Sie Ihre Ladyschaft bei bester Gesundheit antreffen werden.«

»Gebe Gott, daß Sie recht haben«, sagte Sir Rupert und ging in die Bibliothek.

Die Ausrede dürfte einigermaßen brauchbar sein, dachte er auf dem Weg dorthin.

Sie war die einzige Möglichkeit, den lästigen Fragen fürs Erste einmal den Mund zu stopfen, denn gewiß würden morgen früh alle sein Stadthaus stürmen und wissen wollen, wohin er gefahren sei.

Sir Rupert ging auf einen Tisch zu, der zwischen zwei Fenstern stand und auf dem eine Reihe von Flaschen aufgebaut waren. Geistesabwesend goß er sich ein Glas Wein ein. Er hatte das Gefühl, etwas trinken zu müssen, doch als er das Glas an die Lippen setzte, stellte er fest, daß er eigentlich gar nicht durstig war. Seine Probleme nahmen ihn zu stark in Anspruch.

Immer wieder kreisten seine Gedanken um die Frage, wie er jetzt auf die Schnelle ein passendes Mädchen finden sollte, das er heiraten konnte. Und wo sollte er sie finden? Er kannte viele schöne Frauen, aber nicht eine einzige befand sich darunter, die im heiratsfähigen Alter war und sich vor allein für eine Heirat eignete.

Er seufzte und setzte das Weinglas nieder.

Vielleicht wußte Clementine Rat.

Vielleicht konnte sie ihm behilflich sein, eine Frau zu finden. Denn so albern würde sie ja wohl nicht sein, ihm eine Eifersuchtsszene zu machen und von ihm zu verlangen, die Weisung oder - noch genauer - den Befehl der Königin in den Wind zu schlagen. Nein, das konnte er sich eigentlich nicht vorstellen.

Clementine war eine vernünftige Frau. Sie wußte so gut wie er, was für ihn auf dem Spiel stand: der Posten des Außenministers mit noch nicht ganz dreiunddreißig Jahren. Eine beinahe einmalige Karriere. Suchte man eine Parallele, fand man nur den Fall des jungen Pitt, der mit dreiundzwanzig zum Finanzminister aufgestiegen war.

Gedankenverloren füllte Sir Rupert noch einmal das Glas, leerte es in einem Zug und wandte sich zum Gehen. Dabei fiel sein Blick auf einen Stapel von Einladungen, die auf dem Kaminsims unter dem großen Chippendalespiegel lagen. Die zuoberst liegende Karte erregte seine Aufmerksamkeit.

»Earl und Komteß von Cardon«, las er halblaut. »Am 6. Juli, drei Uhr nachmittags, auf Rowanfield Manor, Rowan.«

Einige Augenblicke lang starrte Sir Rupert auf die weiße Karte.

Dann murmelte er: »Morgen um drei - und Clementine ist ganz sicher auch dort.«

Ja, es bestand kein Zweifel. Lady Clementine Talmadge würde der Einladung genauso Folge leisten wie alle anderen Honoratioren der Grafschaft, und es würde ein Leichtes sein, sich mit ihr in aller Öffentlichkeit und wie zufällig zu treffen.

Sir Rupert drehte sich noch einmal zum Kamin um, dann verließ er mit der Einladung in der Hand die Bibliothek.

In der Auffahrt von Rowanfield Manor drängten sich Wagen jeder Größe, Bauart und Ausführung. Und die Pferde, von denen sie gezogen wurden, übertrafen sich gegenseitig an Schönheit und Rasse. Unruhig schüttelten sie die kunstvoll gekämmten Mähnen; und das auf Hochglanz polierte, mit Silberknöpfen und -schnallen verzierte Zaumzeug klirrte leise, wenn sie sich in Bewegung setzten und zu dem Säulenvorbau des roten Backsteingebäudes vorzogen, wo zahlreiche livrierte Lakaien mit gepuderten Perücken die Gäste in Empfang nahmen.

Isabel Gray starrte aus dem lehmbespritzten Fenster der Hackney-Kutsche, die sie am Bahnhof gemietet hatte. Sie seufzte leise beim Anblick der anderen Fahrzeuge und lehnte sich mit einem Ausdruck der Bestürzung auf dem schönen Gesicht in das Polster der alten, nach Staub und Moder riechenden Mietkutsche zurück.

Sie hatte vergessen, daß dies der Tag der Gartenparty war. Aber warum auch sollte sie daran gedacht haben! Sie hatte nie den Wunsch verspürt, daran teilzunehmen. Nun war sie sich darüber im Klaren, daß sie keinen ungeeigneteren Zeitpunkt für ihre Rückkehr nach Rowanfield Manor hätte wählen können als diesen.

Am Abend würden alle müde und gereizt sein. Ihre Rückkehr, unangemeldet und unerwartet, wäre an keinem Tag auf Begeisterung gestoßen, aber am heutigen Tag kam sie einer Katastrophe gleich.

Einem Impuls nachgebend streckte sie die Hand aus und öffnete das kleine Schiebefenster zwischen sich und dem Kutscher.

»Cabby!« rief Sie. »Cabby, setzen Sie mich bitte an der Hintertür ab!«

Der Kutscher legte die Hand mit den gichtgekrümmten Fingern ans Ohr.

»Die Hintertür haben Sie gesagt? Geht in Ordnung, Miss.«

Isabel ließ sich auf den Sitz zurücksinken. Ihr Blick fiel auf ein elegantes Gefährt mit gelben und schwarzen Rädern, das an ihnen vorbeifuhr. Es wurde von einem jungen Gentleman mit einem mächtigen, wohlgekrausten Backenbart gelenkt, der als einer der begehrtesten Junggesellen der Grafschaft galt.

 

»Tut mir leid, aber ich mußte zurückkommen! Ich hatte einfach keine andere Wahl!«

Sie stieß diese Worte wild und voller Trotz hervor, und als genügte schon der Klang ihrer Stimme, um ihr das nötige Selbstvertrauen wiederzugeben, hob sich ihr Kinn, und Bestürzung und Niedergeschlagenheit wichen dem eher zu ihr passenden Ausdruck des Trotzes. Dennoch fröstelte sie leicht, und tief in ihrem Inneren blieb das Gefühl der Angst.

Ihre Tante war sehr böse gewesen, als Isabel das letzte Mal nach Hause zurückgekommen war, doch die Tante fürchtete das junge Mädchen nicht. Derjenige, den sie fürchtete, war ihr Onkel.

Es war schrecklich, wenn er mit seiner dröhnenden Stimme zu toben begann, sie anschrie und eine Erklärung für ihr unverständliches Verhalten forderte. Es war schrecklich, wenn er im Tonfall eines Inquisitors seine Fragen stellte, ihre Antworten zerpflückte und ihre Ängste verhöhnte.

Wie oft schon hatte er ihr klargemacht, sie müsse es lernen, auf eigenen Beinen zu stehen und sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Und je einfallsreicher und schlauer sie dabei vorgehe, um so besser sei es.

Mein Gott, wie sie diese Ratschläge haßte, wie sie vor seinen Wutausbrüchen zitterte. Am schlimmsten aber war sein Hohn, sein diabolisches Lachen, wenn er sich über ihre Anstrengungen lustig machte, ihre Unschuld zu bewahren.

Sie erinnerte sich an ihre letzte Rückkehr, als sie gezwungen gewesen war, ihm zu erklären, weshalb sie die Stellung als Gouvernante bei den beiden Kindern eines vierzigjährigen Witwers aufgegeben hatte.

Jede Einzelheit der unsittlichen Belästigungen, denen sie ausgesetzt gewesen war, hatte sie ihrem Onkel schildern müssen. Und wenn sie beschämt und voller Abscheu geschwiegen hatte, weil manches einfach nicht über ihre Lippen kommen wollte, hatte er sie schallend ausgelacht und erklärt, daß sie mal wieder aus einer Mücke einen Elefanten machte und daß die meisten der Dinge, über die sie sich so entsetzte, nur die Ausgeburten ihres eigenen liebeskranken Gemütes wären.

Und dieses Mal würde es noch schlimmer kommen, denn obwohl sie sich vorgenommen hatte, nur das Notwendigste zu erzählen, wußte sie, daß sie ihren Vorsatz nicht würde halten können, wenn es soweit war, daß sie vor ihm stand.

Ihr Onkel war von einer brutalen Rücksichtslosigkeit. Er zwang jedem seinen Willen auf und er hatte eine perverse Freude daran, die Menschen und vor allem sie, Isabel, zu erniedrigen. Er haßte sie von dem Zeitpunkt an, da sie alt genug gewesen war, sich seinen sehr unväterlichen Zärtlichkeiten und Küssen zu entziehen, mit denen er sie jeden Abend vor dem Schlafengehen bedacht hatte. Er haßte sie, seitdem sie an einem regnerischen Samstag Nachmittag schluchzend aus seiner Bibliothek fortgelaufen war. Und er haßte sie, seitdem sie dem Alter entwachsen war, da er sie noch übers Knie legen konnte - woran er stets ein unmenschliches Vergnügen gehabt hatte.

Doch er war ihr Onkel, ihr Vormund und einziger Verwandter. Oft fragte sie sich, ob es nicht besser gewesen sei, die Belästigungen der Männer zu ertragen, in deren Häusern sie eine Anstellung als Gouvernante gefunden hatte, als nach Rowanfield Manor zurückzukehren, um unter dem Dach ihres Onkels beinahe noch Schlimmeres erdulden zu müssen...

Das letzte Mal, als sie von Rowanfield Manor geflüchtet war, hatte sie geschworen, in der nächsten Stellung auszuharren, was immer auch dort auf sie zukommen würde. Aber da war sie wieder - nur drei Monate hatte sie es diesmal ausgehalten.

Es war ihr unmöglich gewesen - absolut unmöglich - mit dem Marquis von Droxburgh noch länger im selben Haus zu leben. Noch immer sah sie die grausamen Augen, mit denen er sie voller Begierde anstarrte. Sie sah seine Hände, die nach ihr griffen, seine Zungenspitze, die lüstern über die dünnen Lippen fuhr. Nie zuvor war sie einem so teuflischen Menschen begegnet, und die drei Monate, die hinter ihr lagen, waren die Hölle gewesen.

Wochenlang hatte sie nicht mehr geschlafen, aus Angst, er könne sie in ihrem Zimmer überfallen. Und tagsüber, während sie sich im Unterrichtsraum aufhielt, hatte sie voller Furcht auf das Geräusch seiner Schritte draußen im Gang gelauscht.

Es war entsetzlich gewesen, und sie hatte von einer Sekunde auf die andere den Entschluß gefaßt, zu gehen. Lieber noch ertrug sie Onkel Herberts Wutausbrüche. Eher noch gestand sie sich ihre Niederlage ein, als im Haus des Marquis einen Nervenzusammenbruch zu erleiden.

Ein anderer Wagen fuhr an ihrem Kutschenfenster vorbei. Diesmal war es ein offener Viktoria.

Isabel erhaschte den flüchtigen Blick auf ein hübsches Gesicht, das von einem mit Rosen geschmückten Hut umrahmt und von einem Sonnenschirm, ebenfalls mit Rosenblüten dekoriert, beschattet wurde. Das Mädchen befand sich in Begleitung eines Gentleman mit Zylinder, der am Rockaufschlag eine Nelke trug.

Das Paar wirkte sehr elegant und romantisch, und nachdem der Wagen aus Isabels Blickfeld entschwunden war, schaute sie unwillkürlich prüfend an sich hinunter. Ihr Kleid war zerknittert und staubig von der Bahnfahrt. Seit dem frühen Morgen war sie bereits unterwegs; und sie wußte, daß Gesicht und Haar mit einer feinen Rußschicht bedeckt waren und sie einen ziemlich derangierten Eindruck machte.

Ungeduldig strich sie ihr Kleid glatt und stellte fest, daß sie wenig tun konnte, um ihr Aussehen zu verbessern.

Das Kleid, das sie trug, war nicht nur in Mitleidenschaft gezogen durch die Reise, es war außerdem auch abgetragen, fadenscheinig und völlig aus der Mode. Es war von einem grellen Blau, das ihr - wie sie wußte - überhaupt nicht zu Gesicht stand. Aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als es zu tragen. Sie konnte sich keine Kleider kaufen und war auf die Garderobe angewiesen, die ihre Kusine Elisabeth ablegte.

Lady Elisabeth Graye jedoch war blond und blauäugig, und ihr standen die himmelblauen und pinkfarbenen Töne vorzüglich.

Zum Glück hatten die beiden Kusinen die gleiche Größe, doch damit endete ihre Ähnlichkeit auch schon! Isabel hatte das flammende rote Haar und die geheimnisvollen grünen Augen ihrer Mutter, die eine viel bewunderte und gefeierte Schönheit gewesen war. Und diese ungewöhnliche Kombination in Verbindung mit einer magnolienweißen Haut war es gewesen, die den jüngeren, mittellosen Bruder des Earl von Cardon so bezaubert hatte, daß er Isabels Mutter, eine Sängerin, noch während seines Studiums in Oxford geheiratet hatte.

Daß die beiden glücklich miteinander geworden waren, hatte den Unwillen und die Entrüstung der Familie nicht mildern können. Und als der jüngere Cardon elf Jahre später mit seiner schönen Frau bei einem Schiffsunglück vor der Küste von Devon ertrank, gab es niemanden in der Familie, der nicht schon immer gewußt hatte, daß es mit den beiden einmal ein böses Ende nehmen würde.

Isabel war nach Rowanfield Manor gebracht worden, um dort zusammen mit ihrer Kusine Elisabeth aufgezogen zu werden. Die beiden Mädchen waren gleichaltrig, und für jedes von ihnen bedeutete die Gesellschaft des anderen eigentlich ein großes Glück. Aber wie Isabel später erfuhr, hatte Lord Cardon seinen jüngeren Bruder bis aufs Blut gehaßt, und alles, was ihn an den anderen erinnerte, bereitete ihm unerträgliche Qualen.

Vielleicht war er eifersüchtig auf dessen unbeschwerte Fröhlichkeit gewesen, vielleicht aber lagen die Ursachen dafür auch tiefer, waren begründet in einem Vorfall, der nur den beiden Brüdern bekannt gewesen war. Isabel sollte den Grund nie genau erfahren. Allerdings erhärtete sich in ihr, je älter sie wurde, immer mehr der Verdacht, daß ihr Onkel von ihrer Mutter einmal zurückgewiesen worden war und daß er sich dafür nun an ihr, Isabel, zu rächen versuchte.