Liebe In Monte Carlo

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Liebe In Monte Carlo
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Erstes Kapitel ~ 1904

„Tem ... pera! Tem ... pera!“

Die erregte Stimme schallte durch das kleine Haus. Tempera ließ das Kleid fallen, das sie gerade nähte, und lief zur Treppe. Unten stand ihre Stiefmutter. Sie trug einen federbesetzten Hut, ein grünes Kleid unter einem kurzen Pelzmantel und sah darin aus wie ein Paradiesvogel.

Sie blickte die Treppe hinauf und rief völlig außer Atem: „Oh, Tempera, ich habe es geschafft! Ich habe es geschafft! Komm schnell nach unten, ich muß es dir erzählen!“

Tempera lief die Treppe hinunter und folgte ihrer Stiefmutter in das kleine Vorderzimmer. Lady Rothley zog ihren Mantel aus und warf ihn auf einen Sessel.

Dabei preßte sie ihre Hände gegeneinander und sagte strahlend: „Er hat mich gefragt! Er hat mich tatsächlich gebeten, nach Südfrankreich zu fahren und auf sein Château zu kommen.“

Tempera rief entzückt: „Oh, Alaine, wie aufregend! Der Herzog ist nun doch deinem Charme erlegen!“

„Ich hatte da meine Zweifel“, erwiderte Lady Rothley ganz offen.

Sie setzte ihren Samthut ab und betrachtete sich im Spiegel über dem Kaminsims. Ein sehr schönes Gesicht unter rötlich goldenem Haar blickte sie an.

„Erzähl mir, was der Herzog gesagt hat“, bat Tempera, die hinter ihr stand. „Und wann wirst du abreisen?“

„Freitag“, gab Lady Rothley zur Antwort.

„Schon Freitag?“ rief Tempera überrascht. „Aber, Alaine, dann haben wir ja nur noch drei Tage Zeit, um alles vorzubereiten.“

„Von mir aus könnten es auch nur drei Minuten sein“, versetzte Lady Rothley. „Er hat mich eingeladen, und so werde ich auf sein Château bei Nizza fahren! Alles andere ist unwichtig.“

„Nun ... du hast sicher recht“, stimmte Tempera etwas zögernd zu. „Aber du brauchst Kleider.“

Lady Rothley beendete die eingehende Betrachtung ihres Spiegelbildes und wandte sich um: „Natürlich brauche ich Kleider, und außerdem brauche ich auch Geld, um sie zu kaufen.“

Sie sah den Ausdruck im Gesicht ihrer Stieftochter und fuhr fort: „Du weißt ja, daß die Sachen, die ich im letzten Sommer trug, nichts mehr taugen. Und in Südfrankreich kann es zu dieser Jahreszeit schon ziemlich warm sein. Schließlich haben wir ja März. Da kann es sogar schon heiß werden.“

„Das ist mir klar, Alaine“, stimmte ihr Tempera zu, „aber du weißt auch, daß es immer schwieriger wird, größere Geldbeträge aufzutreiben.“

„Ja, das stimmt. Haben wir denn nichts mehr, was wir verkaufen könnten?“

„Nur noch die eine Zeichnung, die wir für den Notfall aufbewahren wollten.“

„Dann verkaufe sie!“ rief Lady Rothley. „Dies hier ist eben ein Notfall. Ich bin mir sicher - ja, völlig sicher -, daß der Herzog sehr in mich verliebt ist.“

Da Tempera schwieg, fuhr Lady Rothley nach kurzer Pause fort: „Er sagte mir heute, ich sei der reinste Tizian. Wer war übrigens Tizian?“

Tempera lachte. Ihr besorgter Blick verschwand.

„Alaine, du mußt doch wissen, wer Tizian war! Und der Herzog hat völlig recht. Du siehst genauso aus wie seine ,Venus mit dem Lautenspieler' oder vielleicht auch wie die ,Venus mit dem Spiegel'.”

„Ist das ein Kompliment?” fragte Lady Rothley unsicher.

„Ein großes Kompliment!” beruhigte Tempera sie.

Sie liebte das Lächeln, das jetzt auf dem Gesicht ihrer Stiefmutter erschien.

Es war die Wahrheit, und der Herzog hatte damit völlig recht. Ihre Stiefmutter sah genauso aus wie die Modelle Tizians auf den beiden erwähnten Bildern. Denn Lady Rothley hatte dasselbe goldfarbene Haar, dasselbe runde Gesicht, die warmen Lippen, die großen fragenden Augen und dieselbe üppige Figur, nur hatte sie ihre Taille stark zusammengeschnürt, wodurch die vollen Kurven ihres Busens und ihrer Hüften betont wurden.

Diese S-Kurve war dem Einfluß und der Erfindung eines Amerikaners, Charles Dana Gibson, zu verdanken. Lady Rothley trug nämlich ein Korsett, das so geschnitten war, daß ihr Oberkörper kaum noch zur unteren Anatomie einer Frau zu gehören schien. Und so modellierte sie ihren Körper mit großem Geschick und war tatsächlich eine beeindruckend schöne Frau. Es überraschte Tempera daher nicht, daß der Herzog von Chevingham sie äußerst anziehend fand.

Als er ihre Stiefmutter zu den ersten Partys einlud, hatten sie dem keine besondere Bedeutung beigemessen. Denn die Partys in Chevingham House waren berühmt dafür, daß sich dort alle schönen Frauen versammelten.

Aber nach ein oder zwei Einladungen zu Bällen und Empfängen wurde Lady Rothley auch zu den intimeren Dinner-Partys gebeten. Und um diese Aufforderung beneidete sie wohl jeder Angehörige der oberen Gesellschaftsschicht.

Tempera und ihre Stiefmutter waren darüber sehr zufrieden, denn sie hielten die Abendgesellschaften für eine gute Gelegenheit, einen neuen Ehegatten für Lady Rothley zu finden. Dabei hatten sie ihre Erwartungen allerdings nie so hoch geschraubt, um auch den Herzog mit einzubeziehen. Aber die Einladung nach Südfrankreich schien doch dafür zu sprechen, daß er ein tieferes Interesse an ihr hatte.

„Ich muß Kleider haben - schöne Kleider!“ sagte Lady Rothley entschlossen.

Tempera bestätigte das, ohne zu zögern: „Natürlich, Alaine. Ich werde jetzt die Dürer-Zeichnung zu Papas Freund in der National Gallery bringen. Er hat sie schon immer bewundert, und wenn er sie nicht selbst kauft, wird er mich bestimmt an jemanden vermitteln, der sie erwerben will.“

„Während du das tust“, überlegte Lady Rothley, „wäre es wohl ganz gut, wenn ich sofort zu Lucille ginge und sie fragte, was sie bis zu meiner Abreise noch fertig bekommen kann.“

Tempera zögerte nur kurz, bevor sie zustimmte. Sie wußte, daß Madame Lucilles fließende Teegewänder und ihre herrlich modellierten Abendkleider ihrer Stiefmutter besser standen als alles, was andere Schneider anfertigen konnten. Allerdings war Lucille auch sehr teuer.

Aber da die Zeit drängte, ging Tempera jetzt schnell nach oben in ihr Zimmer, um Hut und Mantel zu holen.

Dann betrat sie das Arbeitszimmer ihres Vaters und nahm das einzige Bild, das dort noch verblieben war, von der Wand. Eine Reihe von hellen Rechtecken auf der Tapete zeigte nur zu deutlich, daß alles andere schon verkauft worden war.

Tempera sagte sich oft, sie hätte eigentlich vorhersehen müssen, daß ihnen nach dem Tod ihres Vaters kein Geld verblieb. Im Gegensatz zu ihrer Stiefmutter hatte sie noch genug gesunden Menschenverstand, um zu übersehen, wie wenig er in Wahrheit besessen hatte. Lady Rothley hingegen hatte stets in einer Phantasiewelt gelebt, in die etwas so Irdisches wie Geld niemals eingedrungen war.

Weil Sir Francis Rothley immer mit wichtigen Leuten verkehrte und ständig in große Häuser eingeladen wurde, die weltberühmte Kostbarkeiten enthielten, schien ihr der eigene Geldmangel nicht viel zu bedeuten. Jedenfalls nicht bis zu seinem Tod, einem Zeitpunkt, als sein kleines Einkommen als Treuhänder und Berater verschiedener Galerien versiegte.

Tempera hatte damals eine Liste ihrer Vermögenswerte angefertigt und ihre Stiefmutter zu der Einsicht gezwungen, daß es sehr schwierig sein würde, allein von ihrem Besitz zu leben.

„Wie können wir es denn schaffen?“ hatte Lady Rothley ratlos gefragt.

Niemals in ihrem ganzen behüteten Dasein hatte sie den Tatsachen ins Auge sehen müssen. Alaine Rothley war auf dem Lande aufgewachsen, als Tochter eines gebildeten, aber einfachen Landedelmannes. Sie hatte sich mit zwanzig Jahren mit einem Mann verlobt, der schon ein Jahr später in Indien ums Leben kam. Durch diese Tragödie war sie so unglücklich geworden, daß zunächst kein anderer Mann in ihrem Leben eine Rolle spielte. Dies änderte sich erst, als sie vierundzwanzig wurde und nach London zu einer Tante zog. Dort hatte sie zufällig Sir Francis Rothley auf einer Dinner-Party kennengelernt.

Er war von ihrer Schönheit so hingerissen, daß er - seit einem Jahr verwitwet - allen guten Vorsätzen zum Trotz Alaine um ihre Hand gebeten hatte. Sie nahm seinen Heiratsantrag sofort an, und zwar nicht nur, weil sie damit ihrem damaligen langweiligen Leben zu entkommen hoffte, sondern auch, weil sie Sir Francis auf ihre eigene Weise liebte.

Alaine war tieferer Gefühle völlig unfähig, und trotz ihres Aussehens war sie auch keine leidenschaftliche Frau. Sie war eher gutmütig, charmant und in mancherlei Hinsicht äußerst dumm. Sie wünschte sich, daß jeder sie liebe. Deshalb äußerte sie auch nie eine eigene Meinung und widersprach nie. Sie wollte vor allen Dingen heiter durch das Leben segeln. Daß Männer sie für schön hielten, war alles, was sie für den Augenblick und für die Zukunft begehrte.

Es wäre jedoch jedem Menschen und vor allem Tempera unmöglich gewesen, ihre Stiefmutter nicht zu lieben. Obgleich Tempera so viel jünger war als Lady Rothley, war ihr klar, daß Alaine noch wie ein Kind war, um das sie sich kümmern mußte, eine Debütantin, die sich im Leben nicht allein zurecht fand.

Und doch war es Alaine selbst, die eine Lösung für ihre Probleme entdeckte. Sie sah wie abwesend auf die Zahlen, mit denen ihr Tempera klarmachen wollte, wie wenig Geld ihnen blieb, nachdem die Beerdigungskosten und die Schulden ihres Raters beglichen waren.

„Wir müssen eben heiraten“, erklärte sie entschlossen.

Ihre Stieftochter starrte sie voller Überraschung an.

„Heiraten?“ rief sie aus.

Irgendwie schien es ihr Unrecht, über ein solches Thema zu sprechen, da doch ihr Vater gerade erst gestorben war.

„Es gibt keine andere Lösung“, erklärte Lady Rothley und breitete ihre Hände aus. „Wir beide brauchen Ehemänner, die für uns sorgen. Außerdem, warum sollten wir auch den Wunsch haben, allein zu leben?“

Tempera fand später, dies sei die einzig vernünftige Idee gewesen, die ihre Stiefmutter jemals gehabt hätte. Aber sie sah natürlich auch gleich die Schwierigkeiten voraus, die auf sie zukommen würden.

 

„Wenn es zum Beispiel darauf ankommt, daß wir gut gekleidet sind“, überlegte sie laut, „werden wir nicht genug Geld für uns beide haben.“

Die beiden Frauen sahen sich an.

Dann erklärte Tempera: „Du mußt zuerst heiraten, Alaine. Dann kannst du mir vielleicht später etwas helfen.“

„Natürlich werde ich dir helfen, Liebste“, erwiderte Lady Rothley. „Und du hast völlig recht. Da ich die Ältere bin, muß ich zuerst einen Ehemann finden, und zwar schnellstens.“

Sie lächelte selbstzufrieden: „Das dürfte nicht sehr schwierig sein.“

„Nein, natürlich nicht“, stimmte ihr Tempera zu.

Dabei war ihr allerdings klar, daß eine gutaussehende Witwe ohne Geld zwar alle möglichen Männer anziehen würde, jedoch nur wenige bereit wären, sie auch zu heiraten.

Tempera hatte bisher am gesellschaftlichen Leben noch nicht teilgenommen. Das wäre auch ganz ungewöhnlich gewesen, da sie noch nicht offiziell in die Gesellschaft eingeführt worden war. Aber sie hatte einige wichtige und vornehme Herren kennengelernt, die den Rat ihres Vaters in Kunstfragen suchten und ihn gelegentlich zu Hause besucht hatten.

Während der Krankheit ihrer Mutter und nach ihrem Tode hatte ihr Vater mit Tempera häufiger über diese Besucher gesprochen und ihr erklärt, wer sie eigentlich waren. Dabei ging es natürlich in erster Linie um ihre wertvollen Bilder. Aber manchmal gab er Tempera in seiner unnachahmlichen geistreichen Art auch einen kleinen Einblick in ihr Leben und in ihre Interessen.

Tempera war sehr intelligent und hatte ein gutes Gedächtnis. Sie erinnerte sich an alles, was ihr Vater ihr über diese Persönlichkeiten erzählt hatte, und genauso an seine Schilderungen über das Leben der großen Meister der Malerei aus den vergangenen Jahrhunderten.

Die Interessen ihrer Stiefmutter hingegen beschränkten sich ausschließlich auf das gesellschaftliche Leben der Gegenwart. Und so wußte sie stets, welcher neuen Schönheit der König im Augenblick gerade nachstellte, welcher Mann sein Herz der schönen Herzogin von Rutland zu Füßen gelegt hatte, oder wer gerade der Liebhaber der lieblichen Lady Curzon war, die überall nur in den Farben Rosa, Weiß und Gold erschien. Für Tempera war diese Welt des Glanzes und des Luxus faszinierend, jedoch erschien sie ihr genauso unwirklich wie die Glaskugeln, in denen es eine Schneelandschaft zu bewundern gab.

Und weil sie praktisch denken konnte, übernahm sie es, ihre schöne Stiefmutter zu lenken und ihre Auftritte wie bei einer Bühnenschauspielerin zu inszenieren. Sie war es auch, die dafür sorgte, daß Alaine Rothley zur rechten Zeit am rechten Ort war und damit die richtigen Einladungen bekam, die für sie so wichtig waren.

Bei den Pferderennen in Ascot, zur Eröffnung der Royal Academy, kurz überall, wo sich die Feinen und Mächtigen ein Stelldichein gaben, konnte man daher Lady Rothley bewundern. Immer sah sie erstaunlich reizvoll aus, stets ein Lächeln auf den vollen Lippen, und ihre blauen Augen, die auf die meisten Männer unwiderstehlich wirkten, strahlten.

Weitaus strenger als jede ehrgeizige Mutter sortierte Tempera die Männer aus, die Lady Rothley zwar beständig wie einer Vision nachliefen, dabei aber ganz andere Absichten hatten als Lady Rothley und Tempera selbst.

„Abend habe ich einen äußerst charmanten Mann kennengelernt“, hatte Lady Rothley erst vor zwei Tagen erklärt. „Er ist nicht von meiner Seite gewichen. Und als er mir zum Abschied die Hand küßte, hat mein Herz richtig geflattert - wirklich, Tempera!“

„Wie hieß er?“

„Lord Lemsford. Hast du je von ihm gehört?“

„Ich weiß es nicht. Ich werde mal im Adelskalender nachschlagen.“

Sie stellte das Frühstückstablett neben ihre Stiefmutter. Lady Rothley setzte sich schnell auf, um sich den Kaffee einzuschenken und nachzusehen, was in der zugedeckten Schüssel lag.

„Oh, Tempera, nur ein Ei?“ rief sie vorwurfsvoll.

„Du weißt doch, Alaine, daß ich deine Kleider schon um mehrere Zentimeter ausgelassen habe“, antwortete Tempera.

„Aber ich habe doch Hunger“, beklagte sich Lady Rothley. „Ich habe immer Hunger.“

„Du ißt viel zu viel von diesen üppigen Mahlzeiten, wenn du ausgehst“, erwiderte Tempera fest. „Zu Hause mußt du etwas Diät leben, außerdem sparen wir dabei.“

Lady Rothley schwieg. Sie verschlang ihr Ei und beschloß, die beiden Scheiben Toast, die Tempera ihr zugestanden hatte, dick mit Butter und einigen Teelöffeln Marmelade zu bestreichen. Sie aß sehr gern. Aber gleichzeitig wollte sie auch ihre schmale Taille behalten, denn diese Taille war einer ihrer wesentlichen Anziehungspunkte.

Aber es fiel ihr schwer, wirklich sehr schwer, wo doch alles so vorzüglich schmeckte, und das Essen auf den Partys so außerordentlich gut war. Kein Gastgeber zur Zeit König Edwards konnte hinter anderen zurückstehen, wenn es um großzügige Gastlichkeit ging.

Es dauerte einige Minuten, bis Tempera aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters zurückkam. Dort verwahrte sie nämlich die Nachschlagewerke. Die meisten betrafen allerdings die Künste. Aber ihr Vater hatte auch ein Adelsregister besessen, denn es war wichtig, daß Tempera die Briefe, die sie für ihn an vornehme Edelmänner schrieb, richtig adressierte.

Als sie das Schlafzimmer ihrer Stiefmutter erneut betrat, sah Lady Rothley sie erwartungsvoll an.

„Nun?“ fragte sie.

„Lord Lemsford ist neununddreißig“, zitierte Tempera, „besitzt ein Haus in London und eines in Somerset, gehört den besten Clubs an und ...“ sie machte eine effektvolle Pause, „hat eine Frau und fünf Kinder.“

Lady Rothley war empört.

„Jeder verheiratete Mann sollte ein Brandzeichen auf der Stirn tragen oder eine Kette um sein Handgelenk“, sagte sie übellaunig.

Tempera lachte.

„Macht nichts, Alaine. Vielleicht kann er seine Frau dazu bringen, dich zu einer gepflegten Party einzuladen, wo du einige geeignete Junggesellen triffst.“

„Aber er war so besonders charmant“, schmollte Lady Rothley. „Vielleicht hätte es mir auffallen sollen, daß mit ihm etwas nicht stimmte?“

„Wie bei dem Mann, den du letzte Woche getroffen hast und über den wir dann erfahren haben, daß er praktisch bankrott war“, entgegnete Tempera. „Ich hatte gleich einen Verdacht, als ich merkte, daß er nur zu einem unbedeutenden Club gehörte.“

Als Tempera später mit einem Pferdebus zur National Gallery am Trafalgar Square fuhr, versuchte sie, möglichst nicht daran zu denken, daß sie nun das letzte Stück der Erinnerung an ihren Vater für Kleiderkäufe opfern würde. Sie hatte die Dürer-Zeichnung bis zuletzt aufgehoben, weil sie diese besonders liebte, jedoch auch, um etwas für Notzeiten in Reserve zu haben. Falls zum Beispiel ihre Stiefmutter oder sie selbst erkrankte, oder das Dach repariert werden müßte, oder - was noch schlimmer gewesen wäre - ihre Dienerin Agnes in den Ruhestand treten wollte. Sie hätten nie wieder eine so billige Arbeitskraft wie Agnes finden können. Das war Tempera völlig klar. Agnes hatte ihre Mutter versorgt, bis diese starb. Tempera liebte die alte Frau deshalb besonders und konnte sich das kleine Haus in der Curzon Street ohne sie gar nicht mehr vorstellen. Aber Agnes war schon siebenundsiebzig. Es war also vorauszusehen, daß sie nicht mehr lange imstande sein würde, die Zimmer reinzuhalten und ihnen ihre bescheidenen Mahlzeiten zuzubereiten.

Tempera kochte selbst, wenn es um etwas Besonderes ging. Aber meistens hatte sie so viel für ihre Stiefmutter zu tun, daß sie sich kaum noch um andere Dinge kümmern konnte.

Als die Trauerzeit vorüber war, hatten sie zunächst einmal neue Kleider für Lady Rothley gekauft. Aber ihre entzückenden Hüte fertigte Tempera selbst an. Es war auf diese Weise viel billiger, als wenn sie eine Hutmacherin damit beauftragt hätten. Auch bügelte, stopfte und reinigte Tempera die Kleidung. Und sie verstand es, mit einigen geschickt angebrachten Bändern, Blumen oder Rüschen ein altes Kleid wieder so herzurichten, als sei es völlig neu.

Als Tempera nach Haus kam, war es schon nach sechs Uhr. Die Läden waren bereits geschlossen. Sie wunderte sich deshalb auch nicht, ihre Stiefmutter zu Hause vorzufinden. Wie eine ruhende Venus lag sie mit geschlossenen Augen auf dem Sofa im Wohnzimmer.

Während Tempera ins Zimmer trat, hob sie den Kopf und fragte schnell: „Wieviel hast du denn für die Dürer-Zeichnung bekommen?“

„Fünfundsiebzig Pfund!“

Lady Rothley seufzte erleichtert und setzte sich auf.

„Fünfundsiebzig Pfund! Das ist ja wunderbar!“

„Wir müssen dieses Geld aber nicht ganz ausgeben, wirklich nicht, Alaine“, warf Tempera vorsichtig ein. Als sie den Gesichtsausdruck ihrer Stiefmutter sah, fügte sie schnell hinzu: „Auf dem Rückweg habe ich mir überlegt, daß wir fünfundzwanzig Pfund für Notfälle zurücklegen sollten. Den Rest kannst du bekommen.“

„Nun, fünfzig Pfund sind besser als gar nichts!“ räumte Lady Rothley widerwillig ein.

„Ich kann die Hüte, die du im letzten Sommer getragen hast, so herrichten, daß niemand sie wiedererkennt“, schlug Tempera vor. „Und wenn wir etwas weiße Spitze an das Kleid nähen, das du in Ascot getragen hast, sieht es ganz anders aus. Die Farbe steht dir nämlich sehr gut.“

Tempera merkte, daß ihre Stiefmutter ihr gar nicht zuhörte. Das schien ihr völlig ungewöhnlich, wenn es um Kleider ging.

Sie fragte deshalb schnell: „Was gibt es? Du hast sicher noch etwas, was du mir noch nicht erzählt hast.“

Lady Rothley blickte unbehaglich vor sich hin: „Der Herzog erwartet, daß ich eine Zofe mitbringe.“

Tempera schwieg und setzte sich in einen Sessel.

Dann fragte sie zögernd: „Hat er das wirklich gesagt?“

„Natürlich. Er hat wörtlich gesagt: Wenn Sie und Ihr Mädchen Freitagmorgen um zehn Uhr am Viktoria-Bahnhof sind, wird Colonel Anstruther Sie dort abholen.“

„Ist das der Mann, der seine Besitzungen verwaltet?“

„Ja. Er ist sehr charmant. Ich habe ihn mehrere Male in Chevingham House getroffen. Er ist natürlich ein Gentleman. Ich glaube, der Herzog verläßt sich in allem auf ihn.“

Aber den wichtigsten Punkt hatten sie noch nicht angesprochen, und das wußten sie beide. Nach einem bedeutungsvollen Schweigen fragte Tempera schließlich: „Ist es wirklich unbedingt nötig, daß du eine Zofe mitnimmst?“

„Wie sollte ich denn ohne sie auskommen? Du weißt doch, daß ich nun einmal nicht allein fertig werde. Alle anderen eingeladenen Damen werden natürlich ihre Zofe mitbringen.“

„Nun, das wird nicht leicht sein“, erwiderte Tempera. „Einmal abgesehen von den Kosten muß ich sie auch noch einweisen, und es bleibt uns nur sehr wenig Zeit.“

„Du wirst bestimmt ein geeignetes Mädchen bei der Stellenvermittlung in Mount Street finden“, meinte Lady Rothley zuversichtlich.

„Zum Beispiel könntest du doch sagen, daß deine Zofe krank ist oder zu alt“, schlug Tempera vor. „Vielleicht findet Colonel Anstruther auch ein französisches Mädchen für dich.“

„Nur keine Französin“, rief Lady Rothley. „Du weißt, wie schlecht mein Französisch ist. Ich könnte ihr nie verständlich machen, was ich will. Außerdem wäre es mir sehr peinlich, wenn ich mit meinem Gepäck ankomme und sich niemand darum kümmert.“

„Nun gut. Aber das bedeutet ein Kleid weniger. Ist dir das klar?“

Lady Rothley schmollte: „Das geht wirklich nicht. Ich brauche alle Kleider, die ich bestellt habe. Bestimmt wird Dottie Barnard auch kommen. Ich habe dir ja schon erzählt, daß sie jeden Abend ein neues Kleid trägt. Und dazu Juwelen, die alle Kronleuchter überstrahlen.“

„Aber Sir William, ihr Ehemann, ist einer der reichsten Männer Englands“, wandte Tempera kühl ein.

„Deshalb ist er ja auch so eng mit dem König und diesen Rothschilds befreundet“, sagte Lady Rothley. „Ach, Tempera, wenn wir doch nur etwas Geld hätten.“

„Wenn du den Herzog heiratest, wirst du alles haben, wonach dir der Sinn steht, und noch vieles mehr.“

„Dann lehne ich es ganz entschieden ab, wie eine Bettlerin nach Südfrankreich zu fahren. Weiß der Himmel, mir liegt nichts daran, irgend so ein fades, hochnäsiges Mädchen mitzunehmen, das sich beklagt, wenn sie meine Kleider flicken muß.“

Lady Rothley warf sich verärgert in die Sofakissen zurück.

„Die Schwierigkeit ist ja, Tempera, daß ich eigentlich so viele neue Sachen brauche. Und wenn du nicht gewesen wärst, könnte ich meine alten Kleider heute schon gar nicht mehr tragen.“

 

„Ich weiß. Wir müssen eben versuchen, ein verständnisvolles Mädchen zu finden, das mit der Nadel umgehen kann.“

„Sie wird bestimmt quengeln und sich beschweren“, jammerte Lady Rothley. „Wie dieses giftige Weibsbild kurz vor dem Tod deines Vaters. ,Wirklich, M’lady, Ihre Unterwäsche sieht aus wie ein Puzzle', sagte sie immer. Wie unsympathisch sie mir doch war.“

Tempera lachte.

„Nun, sie blieb ja nicht lange. Und später haben wir alle deine Sachen, die sie nicht flicken wollte, gebündelt ganz hinten in einer Kommode gefunden.“

„Um Himmels willen, bring mir bloß nicht so eine Person hierher!“ flehte Lady Rothley. „Da war noch eine andere, die ebenso schrecklich war. Wie hieß sie doch nur?“

„Du meinst sicher die Arnold.“

„Richtig die Arnold! Immer, wenn ich sie brauchte, wollte sie gerade Tee trinken. Ihr Tee war ihr heilig. Sie hat es immer abgelehnt, zu mir zu kommen, bevor sie ihn in Ruhe getrunken hatte.“

Tempera lachte wieder.

„Ich sehe schon, ich muß ein Mädchen finden, das sich aus Tee nichts macht.“

„Das wird dir kaum gelingen“, zweifelte Lady Rothley. „Tee ist sozusagen die Medizin der Dienstboten. Aber als ich das deinem Vater einmal sagte, meinte er trocken, es sei wohl eher der Gin.“

„Vermutlich dachte Papa daran, wieviel Gin die Dienstboten im 18. Jahrhundert getrunken haben“, entgegnete Tempera. „In den großen Häusern trinken sie natürlich auch heute noch große Mengen Bier.“

„Meinetwegen können sie Champagner trinken, solange sie nur da sind, um mich zu bedienen. Der Gedanke an diese Zofe bedrückt mich doch sehr.“

Tempera schwieg. Sie nahm ihren einfachen Hut ab, den sie auf ihrem Weg zur National Gallery getragen hatte, und glättete ihr rotblondes Haar. Tempera war schlank und anmutig, aber sie sah völlig anders aus als die eleganten Frauen, mit denen ihre Stiefmutter verkehrte. Und um diesen Unterschied scheinbar noch zu betonen, trug sie das Haar nicht in Wellen über die Stirn gelegt, sondern zu einem Knoten nach hinten zurückgekämmt. Nur wenn sie sehr beschäftigt war, hingen ihr einige Löckchen ins Gesicht und milderten so den strengen Stil ihrer Frisur, der an Madonnen früher italienischer Meister erinnerte.

Tempera beachtete auch heute ihr Spiegelbild kaum. Sie strich einige Locken zur Seite und dachte an ihre Stiefmutter. Wie konnte sie wohl eine Zofe finden, die ihr gefiel? Nur Tempera selbst wußte, in welch schlechtem Zustand ein großer Teil der Wäsche ihrer Stiefmutter war. Immer wieder mußte sie zum Beispiel ihre Strümpfe stopfen. Dabei hätte sie diese viel lieber fortgeworfen, wie es jede andere modebewußte Frau tat.

Lady Rothley mußte ähnliche Gedanken gehabt haben, denn plötzlich sagte sie mit einem kleinen Seufzer: „Oh, Tempera, wenn du doch nur mit mir kommen könntest.“

„Das würde ich eigentlich sehr gern tun. Ich würde viel dafür geben, Südfrankreich kennenzulernen. Papa hat es mir oft beschrieben. Einmal ist er sogar in Lord Salisburys Villa in Beaulieu gewesen und hat auch die Villa Victoria besucht, die Miss Alice Rothschild gehört. Er sagte, sie sei voller Kunstschätze gewesen. Das Haus mußt du unbedingt sehen, Alaine.”

„Ich bin nicht an Kunstschätzen interessiert, sondern nur am Herzog. Hoffentlich fällt mir immer das Richtige ein, wenn ich mit ihm rede.“

„Der Herzog ist sehr an Gemälden interessiert“, sagte Tempera. „Er hat eine großartige Sammlung in Chevingham House. Die hast du bestimmt schon gesehen. Und auf seinem Landsitz hat er einige phantastische alte Meister. Papa hat oft von der Chevingham-Sammlung erzählt.“

„Wenn der Herzog nun davon erzählt, was soll ich ihm denn darauf antworten?“ fragte Lady Rothley verdrossen. „Du weißt doch, daß ich mir die Namen dieser ermüdenden Maler nie merken kann. Raffael und Rubens bekomme ich immer durcheinander. Und was noch schlimmer ist: Für mich sehen sie alle gleich aus.“

„Dann sagst du am besten gar nichts“, schlug Tempera vor. „Als Papa noch seine Vorlesungen vor Studenten hielt, erklärte er ihnen immer, sie sollten vor allem zuschauen und zuhören. Daran solltest du dich auch halten, Alaine: nur schauen und zuhören.“

Tempera lächelte und fügte mit weicher Stimme hinzu: „Wenn du das tust, wirst du so schön sein, daß es bestimmt nicht nötig ist, auch noch irgendetwas zu sagen.“

„Aber manchmal kann man nicht einfach schweigen“, wandte Lady Rothley ein. „Wenn man mir zum Beispiel sagt: ,Sie lieben sicher den Stil von Petronello oder Pepiana oder Popocatepetl oder sonst so einen ausländischen Namen', dann fehlst du mir, um mir zu erklären, wer das eigentlich ist.“

Sie schwieg einen Augenblick. Plötzlich blickte sie ganz munter: „Tempera! Warum kommst du eigentlich nicht mit?“

„Was meinst du damit?“ wollte Tempera wissen.

„Ich meine, wem sollte da eigentlich etwas auffallen? Niemand hat dich jemals gesehen. Und du bist noch niemals irgendwo gewesen. Für mich wäre es aber ganz toll, wenn du mitkämst, um dich um mich zu kümmern und mir zu helfen.“

Tempera war sehr still. Dann fragte sie: „Meinst du damit, Alaine, daß ich als deine Zofe mitkommen soll?“

„Warum nicht? Ich bin ganz sicher, man wird gut für die Zofen sorgen. Die Arnold hätte bestimmt eine Menge zu sagen gehabt, wenn es anders wäre.“

Als Tempera schwieg, drang Lady Rothley weiter auf sie ein: „Um Himmels willen, Tempera, sieh doch ein, daß das die einzige Lösung ist! Du könntest dich um meine Kleidung kümmern und könntest mir verraten, welches die besten Bilder sind, obgleich ich sowieso nicht verstehe, warum man sich die Wände damit pflastert.“

„Aber wenn nun der Herzog herausfindet, daß ich Papas Tochter bin?“ fragte Tempera langsam. „Würde ihm das nicht ziemlich eigenartig vorkommen?“

„Wie soll er das denn herausbekommen? Du wirst natürlich nicht unter deinem richtigen Namen reisen. Ich glaube auch nicht, daß er überhaupt weiß, daß dein Vater eine Tochter hatte - er hat dich bestimmt nie erwähnt.“

Tempera erhob sich und ging zum Fenster. Sie schaute auf den grauen Himmel und die benachbarten Hinterhöfe.

Es war ein sehr kalter, stürmischer März mit Nordwind, Graupel- und Hagelschauern. Sie fröstelte noch immer, seit ihrer Fahrt mit dem Omnibus vom Trafalgar Square nach Hause. Nur weil sie schnell durch die Curzon Street gegangen war, war ihr etwas wärmer geworden, aber ihre kleine Nase fühlte sich immer noch so an, als gehöre sie eigentlich nicht zu ihr, und ihre Finger waren ganz steif.

In dieser Situation sah Tempera plötzlich das blaue Meer vor sich und Blumen, wie ihr Vater sie ihr immer beschrieben hatte, auch weiße Landhäuser und Meeresbrandung, die gegen die Felsen schlug.

Sie wandte sich um.

„Ich werde mitkommen, Alaine, es wird bestimmt ein aufregendes Abenteuer! Aber wir müssen vorsichtig sein - sehr vorsichtig, damit wir nicht entdeckt werden.“

Als sich die Mietdroschke dem Victoria-Bahnhof näherte, setzte sich Tempera von ihrer Stiefmutter weg auf den schmalen Sitz ihr gegenüber, mit dem Rücken zu den Pferden.

Während sie Alaine betrachtete, fand sie, daß sie mit ihrem Reisekleid gute Arbeit geleistet hatte. Ihre Stiefmutter hatte dieses Kleid zwar schon mehrere Jahre getragen, jedoch war es nun so verändert, daß es bestimmt niemand wiedererkannt hätte. Das tiefe Blau des Rockes war mit seidenen Rüschen, ebenfalls in Blau, verziert. Tempera hatte die Jacke, die Alaine unter dem pelzgefütterten Umhang trug, mit demselben Material gesäumt. Das Pelzfutter war schon alt und stammte aus dem Wintermantel von Sir Francis. Tempera hatte es mit ihren geschickten Fingern in den schweren Plüsch-Reisemantel ihrer Stiefmutter genäht. Und aus den am wenigsten aufgetragenen Stellen hatte sie noch einen großen Kragen genäht, der nun Lady Rothleys liebliches Gesicht umrahmte.

Tempera hatte sich selbst wie das Musterbild einer ehrbaren Zofe ausstaffiert. Sie trug eine Kappe, die mit Bändern unter ihrem Kinn befestigt war und im Übrigen aus einem schwer definierbaren Schwarz bestand. Die Trauerkleidung, die sie seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr hatte ablegen können, kam ihr nun gut zustatten. Temperas schwarzes Kleid, von dem sie jeden Besatz entfernt hatte, wirkte sehr streng. Und der Umhang, den sie trug, sah fast nach einer Beerdigung aus.