Das himmlische Banquet

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Das himmlische Banquet
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Table of Contents

Erklärung

Ein Strohhalm

Der gute Vater stärkt das Rückgrat seiner Tochter

Gaumenfreuden bei Familie Bienen

Die Jahrhundertfrauen

Das Ziel verleiht die Kraft

Etappensieg mit Verbündeten

Exotinnen des Geistes

Das Handwerk

Prüfungszeit

Zeit zum Feiern

Ordination Doktor Bienen

Dämmerung in Europa

Man hatte sich alles anders vorgestellt

Gefährlicher Fehler

In der Sackgasse

Die Reise führt nach innen

Die Sonne geht im Osten auf

Das Wissen vom Leben

Wiedergeburt

Das Banquet

Danksagung

Die Autorin

Hinweis

Impressum

Die Personen und die Handlung des vorliegenden Werkes sowie die darin vorkommenden Namen und Dialoge sind erfunden und Ausdruck der künstlerischen Freiheit der Autorin. Der historische Hintergrund entspricht nicht wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern der dichterischen Notwendigkeit. Jede Ähnlichkeit mit realen Begebenheiten, Personen, Namen und Orten wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.

Ein Strohhalm

Die zarte, hellhäutige Mädchenhand, durch die die feinen Adern bläulich schimmerten, lag in seinen dunklen, kräftigen Fingern, denen keine Regung ihres Körpers verborgen blieb. Der Ventilator an der Decke zerteilte surrend die Hitze des indischen Nachmittags, an dem sich Valentina in der Ayurveda-Praxis von Dr. Kalyan Lukas eingefunden hatte.

Sie saßen sich gegenüber an dem wuchtigen schwarzen Holztisch, auf dem sie ihren linken Arm gestützt hielt und von dem der helle Spitzenrand ihres cremefarbenen Baumwollkleides bis zum knöchernen Ellenbogen zurückgeschoben war. Mit ruhiger Aufmerksamkeit, durchdrungen vom jahrtausendealten medizinischen Wissen seiner Vorväter, tastete Dr. Kalyan ihren Puls, der Anlass zur Sorge gab.

„Herr Doktor, wie lange wird es noch dauern?“ Zitternd, müde, mit wenig Hoffnung war die Frage hervorgebracht, mit der Valentina trauernd in die klugen Augen ihres Kollegen sank.

„Mindestens ein ganzes Jahr!“, konstatierte Kalyan und erhob sich vom Schreibtisch, um aus dem Glasschrank dahinter die passenden Kräutertabletten zu nehmen, nicht ohne zuvor Valentinas erschrockenen Blick aufgefangen zu haben.

„Beobachten Sie die Natur und Sie werden von ihr Geduld lernen!“, sagte Kalyan mit ruhiger Stimme, aus der kaum Basstöne mitschwangen. Er schob drei schmale Packungen über den Tisch zu Valentina. Ein Lächeln huschte über ihr mageres Antlitz. Sie hatte verstanden. Aufmerksam nahm sie Kalyans kleine, drahtige Gestalt wahr, die den lichtdurchfluteten Raum füllte und ihr Sicherheit anbot. Mit seinen 50 Jahren war er erstaunlich jung geblieben. Der weiße Arztkittel ließ seinen dunklen Kopf mit den kurzen Haarwellen hervorstechen, offensichtliche Falten hatte er keine.

„Lassen Sie die Schlafmittel weg und nehmen Sie drei Mal pro Tag von diesen Kräutertabletten!“ Das war ein Befehl, dem sich Valentina nicht widersetzen mochte, zu sehr hatte ihr Kalyans durchdringender Blick und seine Hände versprochen, dass sie gesund werden konnte. Sie nahm die Medizin und setzte ihren weitkrempigen Strohhut auf die blonden Locken. Sie waren alles, was ihr an Lebendigkeit geblieben war.

Valentina wusste wohl, dass sie sich hier in Kerala im südindischen Paradies befand, während in Europa der Große Krieg tobte. Doch konnte sie die Oase nur erkennen, aber nicht als solche fühlen. Was sie spürte, war vielmehr Angst, die sich zur Panik steigerte, wenn die Wellen des Ozeans heranrollten. Der Anblick des hellen Strandes, der sich bis ans Ende der Welt zu ziehen schien, bedrückte sie. Sein bleicher Sand umfing warm ihre Füße und ließ sie durch seine heitere Gelassenheit ihr eigenes düsteres Innere noch schmerzhafter spüren. Die Menschen waren freundlich und wussten gar nicht, dass sie Valentina ihren Irrtum zeigten, der darin bestand, dass sie die Wirklichkeit gegen sich selbst richtete. Sie wollte nicht mit ihnen sprechen; mit schwindenden Kräften verließ sie auch die Neugierde, die sie in früheren Zeiten angetrieben hatte. Nur in dem von hohen Palmen umsäumten Anwesen von Dr. Kalyan, in dessen grünem Garten die üppigsten Pflanzen und Heilkräuter gediehen, fasste sie unmerklich Vertrauen und versuchte, das unbekannte Terrain als Zuhause zu betrachten.

Nur mit einem weißen Lendenschurz bedeckt lag Valentina auf dem schwarzen Holztisch, dem man seine jahrzehntelange Nutzung ansah. Er war von einer schmalen Rinne begrenzt, die das Massageöl auffing. Er wirkte so gediehen wie die dunkel gemaserten Wände, die den nach Rosen duftenden Raum wie das Innere eines Baumes umschlossen. Valentinas Augen lagen tief in ihren Höhlen und verfolgten jeden der eleganten Handgriffe der Frau mit straff geknotetem Haar, die im senffarbenen Sari aussah, als hätte sie einen Termin beim Photographen. In konzentrierter Stille schwenkte sie das schlichte Gefäß aus Messing über die in Falten gelegte Stirn Valentinas; aus dem Behältnis rann beständig ein dünner Sesamöl-Strahl, der glänzende Spuren auf der müden Haut zeichnete – hin und her wie ein Pendel, das sich noch nicht im Klaren darüber war, wann es zur Ruhe kommen wollte. Valentinas Atem ging tiefer, bis der angstvolle Widerstand in ihrem Brustbein zu bröckeln begann. Mit wohligem Erstaunen begrüßte sie die lang vermisste Schläfrigkeit, die sich ihren Weg durch ausgemergelte Glieder bahnte und die trüben Augen schloss.

Die Pfeile der Gedanken nicht mehr spüren müssen, die Vergangenheit in jeder ihrer Ausprägung verblassen und die Zukunft sterben lassen, das wäre ihr jetzt am liebsten gewesen. Doch es ist die Natur des Geistes, die unaufhörlich nach Farben, Formen, Tönen, Gerüchen, Empfindungen und Ideen verlangt: Indien! „In diese exotische Ferne musste ich reisen, um Heilung zu finden.“ Das waren Valentinas gedachten Worte, bevor sie in die furchtbare Erinnerung tauchte, die sie nach Wien, in ihre Heimatstadt schleuderte.

Der gute Vater stärkt das Rückgrat seiner Tochter

Oberst Rudolph Bienen war sehr zufrieden an diesem klaren kalten Novembernachmittag. Er hatte sich eine seiner seltenen Mußestunden genehmigt und sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, ohne die penibel gepflegte Uniform abzulegen. Warum sollte er auch? Die kaiserlich-königliche Arbeitskleidung war das einzige Gewand, in dem er sich sicher und damit wohlfühlte. Ganz nebenbei ließ sie seine Gestalt vorteilhaft zur Geltung kommen, da sie das überschüssige Bauchfett eines Mittfünfzigers kaschierte. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte er darin auch sein einziges Kind gezeugt; doch damals stand er noch im Banne seiner schönen Frau. Für Lily hätte er sich mit Vergnügen duelliert, so hübsch, so schüchtern und so gut erzogen, wie sie war. Noch dazu stammte sie aus dem Wiener Beamtenadel, eine für ihn karrierefördernde Draufgabe, die das Mädchen noch attraktiver erscheinen ließ. Dass sie auch intelligent und kultiviert war, wertete Rudolf als belanglos. Wenn er nicht so unsterblich verliebt gewesen wäre, hätten ihn diese Eigenschaften sogar gestört, denn er sah sie als unvereinbar mit femininer Sittsamkeit und Jungfräulichkeit an. Rudolph hatte es bedauert, nie einem ernst zu nehmenden Nebenbuhler begegnet zu sein. Dem hätte er es so richtig zeigen können! Er hob eine alte Pistole mit versilbertem Griff von der Wand, auf der verstreut Gewehre, Säbel, Dolche und anderes kriegerisches Kleingerät aus den letzten Jahrhunderten hingen. Mit dem großen Schnupftuch aus seiner Hosentasche polierte er die Waffe, die er mit einer ruckartigen Drehung zum Schreibtisch hin schussgerecht ansetzte, um auf das Hochzeitsfoto zu zielen: Lily trug das dreireihige Collier, das hochkarätige Brautgeschenk ihrer Schwiegermutter. Als der Lauf auf das Porträt von Kaiserin Sissy mit den offenen, bodenlangen Haaren schwenkte und seine jähzornigen Augen ihr Herz anvisierten, pochte es verhalten an der Tür, die die mit Büchern dicht tapezierte Seitenwand unterbrach. Valentina trat geräuschlos ein, steuerte auf den Kartentisch zu, das Herzstück von Oberst Bienens Arbeitszimmer, und griff nach einem der Zinnsoldaten, die die im Siebenjährigen Krieg so erfolgreiche schiefe Schlachtordnung von Friedrich II. nachstellten.

 

Valentina drückte das Spielzeug an ihre flache Brust und drängte sich in den abgenutzten Lesesessel aus dunklem Leder, von dem ihre dünnen Beinchen aus den hellen Rüschen ihres blauen Kleides ragten und den Boden nur knapp berührten. Wenn ihr Vater gut gelaunt war – was selten vorkam –, wollte sie immer in seiner Nähe sein und ihn zumindest beobachten dürfen. Auf eine andere Art gab er sich kaum mit ihr ab.

„Ah! Fertig mit den Hausaufgaben!“ Die Begrüßung kam – wie fast alles, was Rudolph sprach – wie ein Befehl an seine Soldaten, die er als seine Ziehsöhne betrachtete. Valentina war die Einzige, die es vermochte, im barschen Ton ihres Vaters eine zaghafte Schwingung zu erkennen, die ihr wohlwollend entgegenkam. Das untrügliche Zeichen dafür war, dass er ihr in die Augen sah und sich über den Backenbart strich, den er grau und eitel nach der Fasson des Kaisers trug. Er trat vor seine Tochter und streckte ihr die Pistole entgegen: „Ist das nicht ein Prachtstück? Nimm sie in die Hand!“ Valentina richtete sich im Sessel auf und verschränkte die Hände auf dem Rücken, ohne den Zinnsoldaten loszulassen, den sie sich in die Haut drückte. Trotzig sah sie ihrem Vater in die Augen, über denen sich die buschigen Brauen einander bedrohlich näherten. „Und ich habe gedacht, aus dir hätte ein schneidiger Bub werden können!“ Valentinas grüne Augen standen unter Wasser.

Gaumenfreuden bei Familie Bienen

Am nächsten Tag, als die Pendeluhr wie immer pünktlich um zwölf das Mittagessen ankündigte, saß man bei Bienens am langen, adrett gedeckten Tisch des Esszimmers, das mit Perserteppichen ausgelegt war. Auf schlichtem weißem Batist lagen in exakten Abständen die goldumrandeten Teller mit dem silbernen Besteck. Die filigran geschliffenen Gläser aus dem renommierten Hause Lobmeyer hatte Lily erst kürzlich angeschafft, denn die alten, von ihrer Mutter geerbten waren trüb geworden. Rudolph hatte ihr deshalb wieder einmal Geldverschwendung vorgeworfen. Die beiden Tischenden waren vom Ehepaar besetzt, Valentina saß zwischen den beiden, auf der Seite, die zur massiven Eichentür zeigte. Sie bückte sich stumm über ihren Teller und stocherte in Petersilienkartoffeln, Karotten und Erbsen. Das Ticken der Pendeluhr begleitete das Schweigen, wobei Valentina drei Mal auf das Ziffernblatt blickte, in der Hoffnung, die Mahlzeit wäre bald vorüber. Während Rudolph routiniert seine Forelle filetierte, wischte sich Lily den Mund mit der Serviette, auf der sie einen roten Abdruck hinterließ. Sie nahm einen kräftigen Schluck vom Riesling und bohrte ihren Blick in Valentina.

„Hör doch endlich auf, wie ein Huhn im Teller zu picken!“

Rudolph blickte irritiert auf, während Valentina noch weiter zusammensank und ein winziges Stück Forelle in den Mund schob.

„Und bitte nicht mit so einem Gesicht!“, herrschte sie Lily an. „Dein Schlankheitswahn ist ja unerträglich!“ Lily, die in den 15 Jahren ihrer Ehe, die sie fast alle in der Döblinger Villa ihrer Schwiegereltern verbracht hatte, jeden Tag ein bisschen wütender und dicklicher geworden war, konnte jeden Moment explodieren, auch wenn sie es gelernt hatte, sich zu beherrschen; zumindest ihrem Gatten gegenüber. Jetzt warf sie gereizt die Serviette auf den Tisch, stellte sich hinter Valentina und packte sie hart an den zarten Schultern. „Ich werde dir zeigen, wie du am schnellsten abnehmen kannst!“ Lily riss ihr schmächtiges Kind hoch, drückte es an die Sessellehne und öffnete sein Kleid, um ruckartig das Korsett enger zu schnüren. Valentinas Herz blutete, und ihr Hirn war so gedemütigt, dass sie an Gegenwehr nicht einmal denken konnte.

Rudolph beobachtete die ihm merkwürdig anmutende Erziehungsmaßnahme seiner Frau, ohne dabei seinen Kopf zu heben. Als Valentina sich eine Hand vor den Mund und die andere an den Bauch hielt, tat sie ihm fast ein bisschen leid. Doch schon als die Gezüchtigte auf die Tür zustürzte, freute er sich auf seinen Kaffee und seine Zigarre, die er in seinem Arbeitszimmer einzunehmen pflegte.

Valentina hatte es gerade noch zur Toilette geschafft, wo sie sich übergeben musste. Dann kauerte sie in der Sitzbadewanne, umgeben von zartrosa und weiß gekachelten Wänden, die nur einmal durch ein winziges Fenster unterbrochen wurden und durch die das Novemberlicht dürftig drang. Valentina fröstelte im warmen Wasser, mit dem sie sich wusch, indem der große Schwamm immer wieder auf derselben Stelle oberhalb des Magens kreiste. Ihr Blick blieb starr auf die Tür gerichtet, bis sie aus der Wanne stieg. Ohne sich abzutrocknen, sah sie ihr Gesicht im Spiegel, das ihr unbekannt war, nahm die Zahnbürste vom Regal und striegelte ihr Haar. Als leise Klaviermusik aus dem Wohnzimmer heraufdrang, erkannte Valentina ihr Tun und wunderte sich, dass sie überhaupt im Badezimmer war.

Der Salon der Bienen unterschied sich von den übrigen Zimmern der Villa durch eine gewisse Beschwingtheit, die vom Garten durch das große Fenster hereinzukommen schien und vom schwarzen Flügel, auf dem Lily täglich Klavier spielte, verbreitet wurde. Die dicken Teppiche trugen das großzügig verteilte Mobiliar, durchwegs aus Palisanderholz gefertigt, wie der zierliche Teetisch etwa, der von plüschigen Fauteuils umstellt war. Aus allen Ecken wuchsen hohe Vasen mit Grünpflanzen, der üppige Kristallluster versprach jederzeit genügend Helligkeit. Nur das sperrige, in düsteren Schattierungen gehaltene Doppelporträt von Lilys Großeltern, das über dem Instrument hing, vertrug sich schlecht mit der angedeuteten Heiterkeit des Raumes. Am Flügel saß Paulina Mayrhoff und begleitete Händels Arie Lascia, ch´io pianga, die ihre um zwei Jahrzehnte ältere Schwester Lily mit einem gewissen Talent zum Besten gab. Paulina hörte ihrem eigenen Spiel zu, ohne Lily besonders zu beachten. „Ergreifender als mit dieser Arie ist wohl niemals getrauert worden“, dachte sie und ließ die eleganten Hände geschmeidig über die Tasten gleiten, bis sie entschlossen zum Schlussakkord ansetzen.

Lily machte sich am mit Rosen geschmückten Teetisch zu schaffen, reichte ihrer Schwester eine Tasse und goss sich selbst den Cognac ein, einen doppelten. Wenn die Schwestern einmal die Woche in Muße zusammenkamen, verstanden sie sich; war das Spiel vorbei, fand Lily Paulinas Gegenwart anstrengend. Und das nicht, weil sie eleganter, schöner und schlanker war.

„Wenn du um diese Zeit schon Cognac trinkst, drängt sich mir nur eine Frage auf: Wie geht es meinem Schwager?“, erkundigte sich Paulina.

„Rudolph wird dem Kaiser immer ähnlicher“, erwiderte Lily und fand das schlagfertig. Sie fingerte eine Zigarette aus dem Silberetui und rauchte sie hastig an, während sich Paulina im grünen Plüschsessel niederließ, Lily herausfordernd musternd.

„Habt ihr noch ein gemeinsames Schlafzimmer, oder zieht er das Feldbett in seinem Arbeitszimmer vor – in voller Montur?“

Lily zuckte die Schultern und blies den Rauch ruckweise aus: „Ich habe schon längst verstanden, dass meine Ehe zu Ende ist. Ich mache niemanden dafür verantwortlich, schon gar nicht mich!“ Lily war überrascht, dass ihr dieser Satz gerade eingefallen war. Er fühlte sich richtig an und beruhigte sie.

„Ah ja, und wie ich sehe, tröstest du dich mit Lord Byron, dem egoistischsten aller zartbesaiteten Schönlinge!“, setzte Paulina nach, die den Gedichtband vom Teetisch nahm und darin blätterte. Sie war sich ihrer verbalen Unverschämtheiten wohl bewusst, die ihr kein Vergnügen bereiteten, aber gesagt werden mussten, damit ihre Schwester nicht das letzte Wort bekam. Als sie beide noch Kinder waren, war sie viel zu oft von Lily bevormundet worden. In ihrer Beziehung zueinander waren die beiden Geschwister nie erwachsen geworden.

Valentina hatte den ganzen Vormittag genau zugehört und konzentriert mitgeschrieben. Ob Deutsch, Englisch, Französisch, Geschichte, Naturgeschichte, Geographie oder Religion. Sie ging gerne ins Lyzeum und kam sich deswegen etwas merkwürdig vor, da keine ihrer Mitschülerinnen gerne lernte. Englisch war ihr Lieblingsfach, unterrichtet von einer in die Jahre gekommenen Lehrerin aus Brighton, die mit einem Wiener verheiratet war und Valentina für hochbegabt hielt. Sie borgte ihr auch Bücher aus ihren privaten Regalen und lobte sie regelmäßig ob ihrer klaren Aussprache. Einzig mit der Arithmetik mühte sich Valentina ab, und das Schönschreiben langweilte sie.

Das Lyzeum lag in der Nähe vom Graben in der Innenstadt, beherbergt von einem imposanten Bau, der von außen mehr versprach, als er im Inneren halten konnte. Die Klassenzimmer waren kahl gekalkt und muffig, die hölzernen Sitzbänke verließen die Mädchen nach fünf Stunden mit schmerzendem Rücken. Dennoch waren die Gründerinnen des Lyzeums stolz auf diese noch recht junge Institution – denn um die höhere Mädchenbildung war es lange schlecht bestellt. Valentina gab sie die Gelegenheit, fünfmal wöchentlich die elterliche Villa zu verlassen und mit der Tram in ein Stückchen Zukunft zu fahren, für die sie damals große Hoffnungen hegte.

Heute hatten die Mädchen der Klasse 5A eine Stunde früher Schluss, weil der Pfarrer, der sie im katholischen Glauben festigen sollte, zu einer letzten Ölung gerufen war. Für ihre Mitschülerinnen eine unverhoffte Freude, für Valentina jedoch ein Grund, unruhig zu werden, denn die Erinnerung an die erlittene Demütigung vom Wochenende war in der Schule nur vorübergehend verblasst. Valentina packte mit fahrigen Bewegungen ihre Hefte und Bücher in die Tasche und verließ als Letzte das Klassenzimmer. Die anderen Mädchen waren schon aufgeregt schwatzend in Richtung Graben aufgebrochen, wo es die eleganten Vitrinen der Kleidergeschäfte und das verlockende Angebot der Konditoreien zu bestaunen galt. Obwohl sie daran wenig Gefallen fand, beschloss Valentina, es ihnen gleichzutun, und machte sich auf den Weg. Doch weit kam sie nicht. Ihr Blick fiel auf einen kleinen Titel im Schaufenster der Buchhandlung Grabner. „Aus guter Familie – Leidensgeschichte eines jungen Mädchens“, las sie und wusste plötzlich, dass sie Hilfe suchte. Valentina trat mit dem freundlichen Klingeln der Ladentür ein und atmet auf, als sie feststellte, dass sie alleine war. Nur hinter dem abgenutzten Ladentisch ließ der alte Grabner seine Zeitung sinken und blickte aufmunternd über die dünnen Ränder seiner kleinen Brille. Hätte er nicht an zu hohem Bluthochdruck und Atemnot gelitten, wäre er gerne aufgesprungen, um sie zu bedienen. Dieses junge Mädchen konnte Stammkundin werden, das erkannte er sogleich an Valentinas fragenden Augen, die Intelligenz verrieten und jene Kunden auszeichneten, mit denen er es am liebsten zu tun hatte. „Grüß Gott, gnädiges Fräulein. Reicht das Taschengeld für ein gutes Buch?“

„Das Taschengeld reicht nie, aber meine Tante legt immer noch was dazu.“ Valentina sah zu Boden, bis sich der Buchhändler umständlich hinter dem Ladentisch, der seinem dicken Bauch im Wege war, herausgedreht hatte und nun gebückt vor ihr stand. „Womit kann ich dienen?“

„Das Buch von Gabriele Reuter, das Sie in der Auslage haben! Das möchte ich lesen.“ Grabner sah sie nachdenklich an, so, als würde er den Grund für Valentinas literarischen Eifer erfahren wollen. Dabei entging ihm nicht, dass sie traurige Schultern hatte, die leicht nach vorne hingen und ihrer hübschen Erscheinung schadeten.

„Ah, ja. Das hat in Deutschland schon Furore gemacht“, stellte er fest und schlurfte zum Schaufenster, dem er den kartonierten Band entnahm. „Sehr modern, sehr modern! Erzählen sie zuhause nicht, dass sie es von mir haben!“, sagte er augenzwinkernd und drückte Valentina das Buch in die Hand.

„Meine Eltern werden nicht einmal erfahren, dass ich es kenne!“, rief Valentina fröhlich, der die Aufmerksamkeit des alten Mannes guttat. Grabner seufzte schwer und fasste sich mit einer Hand an die Brust.

Vor der Auslage war inzwischen ein elegantes Paar, beide im mittleren Alter, stehen geblieben. Sie trug einen mokkaschwarzen Mantel mit dichtem Pelzbesatz und einen weiten Hut, dessen breite Straußenfedern bei jeder Bewegung wippten. Beide sahen durch die Fensterscheibe, wie ein alter Mann schwankte und nach ihm entgegengestreckten Mädchenhänden griff, denen der schwere Körper entglitt. Der Buchhändler Gottfried Grabner sank auf die schwarzen Dielen.

Valentina starrte auf den bewusstlosen Mann, schloss kurz die Augen, um sich zu konzentrieren. Hörbar ausatmend kniete sie nieder und begann abwechselnd sein Herz zu massieren und eine Mund-zu-Mund-Beatmung durchzuführen, nachdem sie ihr besticktes Batist-Taschentuch über Grabners Gesicht gelegt hatte.

 

„Skandalös!“, entfuhr es der Frau, die ihre Nase so dicht an die Auslagenscheibe hielt, dass ihr Straußenfedernhut nach hinten kippte.

„Von wegen Skandal, hier geht es um ein Menschenleben!“, stieß ihr Mann hervor, riss die Ladentür auf und schob Valentina zur Seite, um sich um die Wiederbelebung des Buchhändlers zu kümmern. Seine Frau war in der Ladentür stehen geblieben und hielt beide behandschuhten Hände entsetzt an ihre Wangen gedrückt. Valentina lehnte mit dem Rücken am Ladentisch und beobachtete jede Bewegung des unbekannten Retters.

„Eugenie, wir brauchen einen Arzt. In der Weihburggasse, gleich nach dem Delikatessengeschäft, dort hat Dr. Reinold seine Praxis!“

„Wie? Weihburggasse?, rief seine Frau mit schriller Stimme, die möglicherweise sogar Grabner in sein Bewusstsein drang. Dann erinnerte sich die Hysterische an das Praxisschild des Doktors, an dem sie fast täglich vorbeiging, und hastete davon.

Des Buchhändlers Gesicht frischte zusehends auf, und durch die schweren Lider starrte er auf seinen Betreuer. Dieser tätschelte ihm die Wangen, griff nach Grabners eiskalten Händen und fand beruhigende Worte. Dem Alten schien es besser zu gehen, auch wenn er noch vor sich hindämmerte. Der Mann blieb neben ihm knien und wandte sich mit einem angedeuteten Lächeln zu Valentina. „Woher weißt du in deinem Alter und noch dazu als Mädchen über Erste Hilfe Bescheid?“

„Mein Onkel ist Arzt, da schnappt man so einiges auf.“

Als Valentina in die Straße zur gelb getünchten Villa einbog, dessen einziges Stockwerk ihre biedermeierlichen Ahnen mit einem schlichten Balkon versehen hatten, war sie beflügelt von dem Gedanken, etwas Außergewöhnliches getan zu haben. „Wie schön, wie erhebend, wie belebend ist es doch, gebraucht zu werden“, sinnierte sie und spulte die Szene mit dem Buchhändler immer wieder ab. „Es ist gut, gelobt zu werden!“, befand ihr Herz, das nach einem Entschluss drängte. „Das ist mein Weg, auf dem ich lernen werde, Leiden zu lindern.“

Aufrecht betrat sie das Kopfsteinpflaster des kurzen Gartenwegs, der zur dunkelgrünen Haustür führte, die in der schönen Jahreszeit üppig von Rosensträuchern eingerahmt war. Lily schnitt die letzten vertrockneten rosa Blüten ab und legte sie in das Weidenkörbchen. Dabei ging sie heftiger vor, als es die Sache verlangt hätte. Valentina schluckte schwer und mühte sich ein „Guten Tag, Mama!“ ab, in der Hoffnung, sich am Unheil vorbeischlängeln zu können.

Doch Lily hatte schon auf sie gewartet. „Wo treibst du dich herum? Du solltest schon längst zu Hause sein. Ich habe mir Sorgen gemacht!“, herrschte sie ihre Tochter an, deren Hals sich verengte und sie sprachlos machte. Mit gesenktem Blick und zittrigem Herz drückte sich das stumme Mädchen an der zornigen Frau vorbei hinauf auf ihr Zimmer. Die Heldin des Nachmittags saß weinend auf ihrem Bett.

Frau Heidling kam mit einem Licht und mit der Rute wieder. „Nein! Nein! Ach bitte, bitte nicht!“, schrie Agathe und schlug wie rasend um sich. Es war ein wilder Kampf zwischen Mutter und Tochter, Agathe riss Mama die Spitzen vom Kleide und trat nach ihr. Aber sie bekam doch ihre Schläge – wie ein ganz kleines Kind. Sie wollte sich totschreien. Mit einer solchen Schmach konnte sie doch nicht mehr leben ...!

Schmach ist das richtige Wort, befand Valentina, deren Wangen glühten, als sie die Zeilen las. Sie lag bäuchlings auf ihrem Bett, auf dem sie keine unnötigen Polster oder Decken duldete. Nur der kleine, schmuddelige Teddybär durfte bleiben. Sie drückte ihn an eine Wange, drehte sich auf den Rücken und lächelte. Es war gut, den großen Schmerz geteilt zu wissen.

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