Handorakel und Kunst der Weltklugheit

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Handorakel und Kunst der Weltklugheit
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Baltasar Gracián





Handorakel und Kunst der Weltklugheit



Aus den in den Werken von Lorenço Gracián erdachten Aphorismen gezogen



Aus dem Spanischen übersetzt und herausgegeben von Hans Ulrich Gumbrecht



Reclam





2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen



Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman



Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen



Made in Germany 2021



RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart



ISBN 978-3-15-961768-8



ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014195-3





www.reclam.de






Inhalt







Zur Lektüre der Übersetzung von Baltasar Graciáns Oráculo Manual y Arte de Prudencia







Handorakel und Kunst der Weltklugheit







Anhang



Baltasar Graciáns Denk-Raum



Zu dieser Ausgabe



Anmerkungen



Literaturhinweise









Zur Lektüre der Übersetzung von Baltasar Graciáns

Oráculo Manual y Arte de Prudencia



1 Der hier zum ersten Mal seit fast zwei Jahrhunderten vollständig ins Deutsche übersetzte Text des

Handorakels

 von Baltasar Gracián erreicht uns nicht nur aus einer fremden Sprache, sondern auch aus einer fernen Zeit. In seinen Lebensjahren zwischen 1601 und 1658 war der seit 1635 dem Jesuitenorden angehörige Autor den spanischen Landsleuten wahrscheinlich weniger durch sechs unter fremden Namen veröffentlichte Bücher bekannt denn als einer der großen Prediger ihrer Zeit und als herausragender Theologe.





2 Unter Graciáns Werken kommt dem 1647 veröffentlichten

Handorakel

 aus insbesondere zwei Gründen eine Sonderstellung zu: Sein adliger Freund Vincencio Juan de Lastanosa (1607–1681) stellt im Vorwort »An den Leser« das Buch als eine Sammlung von besonders bemerkenswerten Stellen aus früher erschienenen Texten Graciáns vor. Ob tatsächlich Lastanosa diese kurze Präsentation verfasste, entzieht sich unserer Kenntnis, während feststeht, dass nur die ersten 100 der insgesamt 300 vorgestellten Aphorismen annähernd dem Status einer solchen »Blütenlese« entsprechen. Sie alle bewegen sich jedoch in einem Anspielungsraum aus Verweisen und klassischen Zitaten, der in dieser Ausgabe so weit als möglich aufgeschlüsselt wird, um den Horizont abzustecken, zu dem der Gesamttext gehört. Das

Handorakel

 vermochte Könige in Graciáns eigener Zeit (wie Philipp IV. von Spanien oder Ludwig XIV. von Frankreich) in seinen Bann zu ziehen und große Philosophen (wie Arthur Schopenhauer oder Friedrich Nietzsche) zu begeistern. So wurde es zu einem Kanon-Text im europäischen Kulturerbe.



3 Den Text des

Handorakels

 erfassen und eine intellektuell produktive Einstellung ihm gegenüber finden ist schwieriger, als es eine Sammlung kurzer Reflexionen über Probleme und Strategien des Verhaltens im Alltagsleben zunächst vermuten lässt. Dies hat weniger mit dem kulturhistorischen Abstand zu tun, den der Leser überbrücken muss, als mit der Komplexität, dem sich stellenweise zur Obsession steigernden Rhythmus im Denken des Autors und mit der zu Auslassungen wie Abkürzungen neigenden Dichte seines Sprachstils.





4 Langsames, aber anhaltendes Lesen über einen längeren Zeitraum – zum Beispiel zwischen fünf und zehn Aphorismen pro Tag – kann zu anhaltender Freude am Text führen. Dazu gehört das wiederholende Nachvollziehen einzelner Sätze und Absätze – vor allem jedoch Geduld beim Entstehen und Entwickeln eigener Formen des Lesens und Verstehens.





5 Obwohl die 300 Aphorismen des

Handorakels

 nicht nach der Linie eines Arguments oder mit dem Vorhaben aneinandergereiht worden sind, eine systematische Weltsicht zu entwerfen, bietet sich kontinuierliche Lektüre vom ersten bis zum letzten Absatz an, ohne notwendig zu sein: denn sie vermag den Denk- und Schreibprozess des Autors als Ereignisverlauf zu vergegenwärtigen.





6 Eine der für Gracián wichtigen Funktionen seines verdichtenden Stils lag in dem Impuls, den Leser zu aktivem eigenem Denken herauszufordern. Nicht selten entsteht der Eindruck, dass man eine fremde Gedankenbewegung zum Abschluss bringen soll. Daraus können individuelle Reflexionen hervorgehen, die einen Grad der Unabhängigkeit gegenüber dem historischen Text gewinnen. Inhaltlich gesehen verspricht diese Möglichkeit mehr als eine Rekonstruktion und Übernahme von Ratschlägen aus Graciáns Lebenslehre.





7 Lohnend und nicht selten mitreißend ist also neben manchmal faszinierenden Einzelbeobachtungen und der eingängigen Schönheit vieler Sentenzen vor allem ein sichtbar werdender Prozess des Denkens. Der eigentlich legitime Versuch, einzelne Begriffe oder Argumente zu fixieren, um sie ins eigene Leben zu übertragen, mag deshalb mitunter unbefriedigend bleiben, eben weil Gracián alle Elemente seines Gedankenspiels in Bewegung setzt und – ohne wirklichen Abschluss – in Bewegung hält.





8 Anders als Arthur Schopenhauers großartige Übersetzung des

Handorakels

 aus dem Jahr 1832, die bei aller gesuchten Nähe zum spanischen Original dessen Unklarheiten und sprachlichen Unebenheiten meist paraphrasierend glättet, ist meine neue Übertragung an dem Ziel ausgerichtet, die individuell und historisch besonderen Formen von Graciáns Sprache als eine Spur des Denkens so weit als möglich im deutschen Text zu erhalten. Dies gilt für die den Denkrhythmus unterstreichende Interpunktion; für syntaktische Verschiebungen, die auch im Spanischen des 17. Jahrhunderts exzentrisch wirken mussten; für unvollständige Sätze, Formulierungen an der Grenze grammatischer Korrektheit (wie etwa Inkonsistenzen im Gebrauch der Zeitenfolge oder Pronomina); aber auch für die häufigen Wortspiele – und schließt in ihrer Bedeutung trotz aller Verstehensbemühung unklare Passagen ein, welche selbst im Original nicht zu eindeutigen Sinnstrukturen zu führen scheinen. Vor allem soll die enge Anlehnung der Übertragung an den Wortlaut des Originaltexts jenen Lektüreeffekt und jene existenzielle Faszination bewahren, deren Zusammenspiel ich im Nachwort als »Verräumlichung des Denkens« analysiere und beschreibe.





Hans Ulrich Gumbrecht







Handorakel und Kunst der Weltklugheit



Aus den in den Werken von

Lorenço Gracián

 erdachten Aphorismen gezogen









An den Leser



Weder dem Gerechten Gesetze, noch dem Weisen Ratschläge; aber keiner wusste je genügend für sich. Eines musst du mir verzeihen und das Andere danken: dass ich diese Sammlung richtigen Wissens vom Leben

Orakel

 nenne, denn das ist sie durch ihren hohen Stil und ihre dichte Form; dass ich Dir in einem Zug

alle zwölf Graciáne

 anbiete, von denen jeder so geschätzt wird, dass man

Den Weltklugen

 noch kaum in Spanien gesehen hatte, als er schon in Frankreich in die dortige Sprache übersetzt und gedruckt bei

Hof

 erfolgreich war. Dieser Gracián nun soll der Vernunft beim Gastmahl ihrer Weisen als Gedenkschrift dienen, in die sie die Gänge der Klugheit eintragen kann, welche ihr in den anderen Werken dienen werden, um den Genuss auf geistreiche Weise zu verbreiten.



Don Vincencio Juan de Lastanosa




1 Alles ist schon voll entfaltet, und das Person-Sein im höchsten Grad. Mehr wird heute von einem Einzigen als früher von

sieben Weisen

 erwartet; und mehr braucht man in diesen Zeiten, um mit einem Menschen zurechtzukommen, als früher mit einem ganzen Volk.





2 Gemüt und Verstand. Die beiden Achsen, welche Fähigkeiten strahlen lassen; eine ohne die andere, halbes Glück. Verstehen reicht nicht, Gefühl wird begehrt. Unglück des Dummen, die Bestimmung in Gesellschaft, Beruf, Land, Alltag zu verfehlen.





3 Die Dinge im Unklaren lassen. Die Bewunderung der Neuheit ist Wertschätzung des Gelingens. Mit offenen Karten spielen ist weder nützlich noch angenehm. Nicht gleich deutlich werden schafft Anspannung, vor allem wo hoher beruflicher Status Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit ist; lass immer etwas Geheimnisvolles aufscheinen und

löse mit solcher Unklarheit Verehrung aus

; selbst wenn man sich zu verstehen gibt, ist Offenheit zu vermeiden, so wie auch im Umgang die inneren Gedanken nicht allen zugänglich werden sollen. Behutsames Schweigen ist der heilige Innenraum von Klugheit. Das angekündigte Vorhaben wurde nie geschätzt, eher der Verurteilung überlassen, und wenn es zu einem schlechten Ende führt, dann zweimal unglücklich. Göttliches Verhalten soll also nachgeahmt werden, um sich den Blicken und dem Warten auf

Entbergung

 auszusetzen.

 





4 Das Wissen und der Mut schaffen Größe. Sie machen unsterblich, weil sie es sind. Jeder ist, so viel er weiß, und wer Wissen hat, dem gelingt alles. Ein Mensch ohne Kenntnisse, eine Welt im Dunkel. Einsicht und Kräfte, Augen und Hände; ohne Mut ist die Weisheit fruchtlos.





5 Abhängig machen.

Das Gottesbild macht nicht, wer es vergoldet, sondern wer es anbetet

; der Scharfsinnige hat lieber Leute, die ihn brauchen, als Leute, die ihm dankbar sind. Auf gemeinen Dank zu setzen, heißt Erwartung auf hoher Ebene mindern, denn während jener leicht vergisst, hält diese Erinnern wach. Mehr profitiert man von Abhängigkeit als von Höflichkeit; wer seinen Durst gestillt hat, kehrt der Quelle gleich den Rücken zu, und die ausgequetschte Apfelsine fällt vom goldenen Gefäß in den Kot. Wo Abhängigkeit aufhört, hört der Austausch auf und mit ihm die Wertschätzung. Es soll also eine Lehre aus erster Erfahrung sein, sie lebendig zu halten, statt durch Befriedigung aufzuheben, und so selbst dem gekrönten Herrn das Gefühl zu geben, dass er einen braucht; doch darf man nicht so weit gehen, zu schweigen, um ihn einen Fehler begehen oder – zum eigenen Vorteil – einen unumkehrbaren Schaden erleiden zu lassen.





6 Seine Entfaltung erreicht haben. Niemand wird fertig geboren; jeden Tag vervollkommnet man sich in der Person, der Aufgabe, bis hin zur Ausbildung aller Fähigkeiten, aller Vorzüge. Dies wird deutlich in erhöhtem Geschmack, geläutertem Denken, reifem Urteil, klarem Willen. Manche gelangen nie dahin, vollkommen zu sein: es fehlt ihnen immer etwas; andere kommen erst spät dahin. Der rundum ausgebildete Mann mit seiner weisen Rede, seinem klugen Tun wird willkommen geheißen, ja begehrt zum Umgang unter den Weltklugen.





7 Siege über den Vorgesetzten vermeiden. Jeder Sieg ist verhasst, und der über seinen eigenen Herrn entweder töricht oder tödlich. Die Überlegenheit wurde schon immer verabscheut, und vor allem gegenüber Überlegenen. Gemeine Vorteile pflegt die Aufmerksamkeit zu verhehlen, so wie Nachlässigkeit die Schönheit überspielt. Gut wird es dem gehen, der sein Glück und seine Gemütseigenschaften zurücktreten lässt, aber niemand, schon gar nicht jemand, der in hohem Rang steht, tut dies mit seinem Verstand. Er ist die Königs-Eigenschaft, und daher war jedes Vergehen gegen ihn ein Majestätsverbrechen. Fürsten wollen auf höchster Ebene fürstlich sein. Sie lassen sich gerne helfen, aber nicht überbieten, und deswegen muss der Rat, den man ihnen gibt, eher wie eine Erinnerung an etwas Vergessenes wirken denn wie ein Verweis auf etwas ihnen nicht Zugängliches. Eine glückliche Anleitung dazu geben uns die Sterne, denn obwohl sie ihre Kinder sind, wagen sie sich nie an die Strahlen der Sonne heran.





8 Leidenschaftslos sein, Fähigkeit der höchsten Geistesgröße. Ihre Überlegenheit erlöst einen von der Unterwerfung unter gemeine Außeneindrücke.

Keine größere Herrschaft gibt es als die über sich selbst

, seine eigenen Affekte: sie wird zum Triumph des freien Willens. Und wenn die Leidenschaft schon das Persönliche beherrscht, darf sie sich nicht an das Amt wagen, umso weniger, desto höher es ist. Eine gebildete Haltung, um sich Enttäuschungen zu ersparen und sogar den Weg zum Ansehen abzukürzen.





9 Die Fehler seiner Nation überspielen. Das Wasser nimmt die guten oder schlechten Eigenschaften der Gefäße an, durch die es fließt, und der Mensch die des Klimas, in das er geboren wird. Manche verdanken den Vaterländern mehr als andere,

da sich ein günstigerer Himmel dort höher wölbte

. Es gibt keine noch so gebildete Nation ohne typische Fehler, und alle beschuldigen die Nachbarn entweder aus Vorsicht oder zum Trost. Siegreiche Fähigkeit, solche nationalen Mängel zu beseitigen oder wenigstens zu überspielen: mit ihr schafft man sich den lobenswerten Ruf, eine Ausnahme in der eigenen Gruppe zu sein, was je mehr geschätzt wird, umso weniger es zu erwarten war. Es gibt auch typische Fehler der Herkunft, des Standes, des Berufs und des Lebensalters und wenn sie alle in einem einzigen Menschen zusammenkommen und die Aufmerksamkeit ihnen nicht zuvorkommt, dann machen sie ihn zu einem unerträglichen Ungeheuer.





10

Glück und Ruhm

. Was der eine an Unbeständigkeit hat, hat das andere an Dauer. Das Erstere, um zu leben, der Letztere für danach; jenes gegen Neid, dieser gegen das Vergessen. Glück wünscht man sich und hilft manchmal nach, Ruhm bringt man auf den Weg. Der Wunsch nach Ansehen entsteht aus der Tugend, Ruhm ist ein Bruder der Riesen; er bewegt sich immer im Übermäßigen, entweder im Ungeheuren oder im Wunderbaren, wird verabscheut, mit Beifall bedacht.





11 Mit dem verkehren, von dem man lernen kann. Es soll der freundliche Verkehr Schule der Gelehrsamkeit sein und die Unterhaltung gebildeter Unterricht: so macht man seine Freunde zu Lehrern, während der Nutzen des Lernens und die Freude an der Unterhaltung einander durchdringen. Mit Leuten von Verstand lösen Genuss und Verstehen einander ab, indem das, was man sagt, den Beifall einbringt, den man bekommt, und das, was man hört, die Belehrung. Gewöhnlich führen uns eigene Ziele zu den anderen – und hier ganz besonders. Der Offene besucht die Häuser jenes Adels höfischer Helden, welche Bühnen der Heldenhaftigkeit statt Paläste der Eitelkeit sind. Es gibt für ihr gescheites Verhalten anerkannte Helden, die nicht nur als Vorbild und im Umgang zu Orakeln alles Großen werden, sondern zugleich durch ihr Gefolge zu einer hohen Akademie aller guten und eleganten Weltklugheit.





12 Natur und Kunst, Stoff und Werk. Es gibt weder Schönheit ohne Nachbesserung, noch Vollkommenheit, die ohne Erhöhung der Kunst nicht in Rohheit umschlüge: was schlecht ist, macht sie besser, und das Gute macht sie vollkommen. Die Natur lässt uns gewöhnlich im Stich, wenn es ums Beste geht – halten wir uns also an die Kunst. Ohne sie ist die die beste Anlage ungebildet, und ohne Bildung fehlt die Hälfte zur Vollkommenheit. Jeder Mensch schmeckt schal ohne Kunstfertigkeit, denn er braucht Schliff zur Vollkommenheit.





13 Aus Absicht handeln, manchmal aus der zweiten, manchmal aus der ersten.

Eine Schlacht ist das Leben des Menschen gegen das Schlechte im Menschen

. Es kämpft der Scharfsinn mit Strategien der Absicht: nie tut er das, was er vorgibt; er visiert ein Ziel nur an, um zu täuschen; er macht gekonnt aussehende Luftstreiche und tut, immer zu überspielen bemüht, das, woran niemand gedacht hat; eine Absicht lässt er sichtbar werden, um die rivalisierende Absicht zu binden, und kehrt ihr dann den Rücken, um durch das nicht Erwartete zu siegen. Doch aufmerksam kommt ihm durchdringende Intelligenz zuvor, lauert mit Reaktionen auf; versteht immer das Gegenteil von dem, was sie verstehen soll, und erfasst jegliche Täuschungsabsicht; sie lässt alle erste Absicht ins Leere laufen und wartet schon auf die zweite oder sogar auf die dritte. Wenn Verstellung ihre Kunst durchschaut sieht, wird sie stärker und versucht,

mit der Wahrheit selbst zu täuschen

; sie stellt ihr Spiel um, indem sie ihre List umstellt und das nicht Fingierte fingiert erscheinen lässt, also die Finte in der größten Aufrichtigkeit begründet. Auftritt die Beobachtung mit ihrem eigenen Scharfsinn und deckt die vom Licht verkleidete Finsternis auf; sie entziffert die Absicht, welche je einfacher desto arglistiger ist. In solcher Weise kämpft die

hitzige Python gegen den Glanz von Apollos durchdringenden Strahlen

.





14 Die Wirklichkeit und die Art. Die Substanz reicht nicht aus, man braucht auch den Umstand. Alles verdirbt eine falsche Art, selbst die Gerechtigkeit und Vernunft; die richtige verbessert alles, sie vergoldet das

Nein

, versüßt die Wahrheit und verschönt das Alter. Das Wie macht sehr viel aus, und die kleine Art ist ein Taschendieb des guten Gefühls. Elegantes Benehmen macht das Leben zum Fest; nichts hilft so sehr aus Verlegenheit wie der richtige Ausdruck.





15 Intelligenzen zur Hilfe haben. Glück der Mächtigen: sich mit Athleten des Verstandes umgeben, die ihnen aus durch Unwissen bedingten Schwierigkeiten helfen und für sie mit offenen Problemen streiten. Besondere Größe, sich der Weisen zu bedienen, und sie ragt über den gräulichen Geschmack des

Tigranes

 hinaus, unterworfene Könige zu Dienern zu machen. Eine neue Form der Herrschaft im besten Sinn des Lebens: sich mit Geschick die zu Dienern machen, welche die Natur überlegen ausgestattet hat.

Es gibt viel zu wissen und wenig zu leben

, und

ohne Wissen lebt man nicht wirklich

. Ein einzigartiges Geschick ist es also, ohne Anstrengung zu lernen – und zwar viel von vielen, indem man von allen Wissen bezieht. Bei einer Versammlung redet man dann mit den Worten von vielen, aus dem Mund von all den Weisen, die einem vorausgingen, und gewinnt dank fremden Schweißes den Ruf, Orakel zu sein. Jene stellen zuerst die Vorlesung zusammen und dienen einem in den Quintessenzen des Wissens. Wem es aber nicht gegeben ist, sich das Wissen zum Diener zu machen, der pflege den Umgang mit ihm.





16 Wissen mit redlicher Absicht. Zusammen garantieren sie Fruchtbarkeit des Gelingens. Ein Ungeheuer der Gewalt war schon immer die Ehe aus guter Vernunft und bösem Willen. Die böse Absicht vergiftet alles Vollkommene, und wenn ihr das Wissen hilft, dann verdirbt sie es in noch durchtriebenerer Weise. Unglücklich die herausragende Fähigkeit, welche der Verworfenheit zuarbeitet! Wissenschaft ohne Verstand, doppelte Narrheit.





17 Den Ton beim Handeln abwechseln. Nicht immer auf dieselbe Weise, um so die Aufmerksamkeit vor allem derer zu blenden, mit denen man im Wettbewerb steht.

Nicht immer beim ersten Versuch

, dessen Gleichförmigkeit sie erfassen werden, um die Aktion zu konterkarieren und sogar zunichtezumachen. Leicht ist es, einen Vogel zu töten, wenn er geradeaus, aber nicht, wenn er in Bögen fliegt. Auch nicht immer beim zweiten Versuch, denn beim zweiten Mal verstehen sie die List. Die Bosheit wartet ab; es bedarf großer Raffiniertheit, sie zu täuschen. Nie spielt der Betrüger das Stück, mit dem sein Gegner rechnet, und schon gar nicht das, welches er sich wünscht.





18 Fleiß und

Minervas Begabung

. Niemand ragt heraus ohne beide, und wo sie zusammen vorkommen, im Übermaß. Mehr erreicht Mittelmäßigkeit mit Fleiß als Überlegenheit ohne ihn. Man erwirbt sich Ansehen um den Preis der Arbeit; wenig Wert hat da, was wenig verlangt. Selbst in den höchsten Ämtern ließen einige den Fleiß vermissen: selten überspielt er das Gemüt. Nicht im niederen Amt herausragend sein, um in einem hohen mittelmäßig sein zu wollen, lässt sich als Großherzigkeit entschuldigen; doch nicht den, der sich im Letzteren mit Mittelmaß zufriedengibt und im Ersteren herausragen könnte. Begabung und Können sind also gefordert, und der Fleiß besiegelt sie.





19 Nicht mit überzogener Erwartung auftreten. Es ist ein bekannter Mangel alles vorweg Gerühmten, das Übermaß der Vorstellungen nicht zu erreichen: nie konnte das Wirkliche das Vorgestellte einholen, weil es einfach ist,

Vollendung vorzugaukeln, aber sehr schwer, sie zu verwirklichen

. Mit der Vorstellungskraft geht das Wünschen eine Ehe ein und denkt immer viel mehr, als die Dinge sind. Selbst was am meisten herausragt, kann solchen Gedanken nicht genügen, und da sie von übertriebener Erwartung getäuscht sind, wird es sie eher ernüchtern als erhöhen. Die Hoffnung ist eine große Wahrheits-Fälscherin; Klugheit soll sie zurechtweisen und dafür sorgen, dass der Genuss alle Wünsche übertrifft. Wer von Beginn Ansehen genießt, dem fällt es leicht, Neugierde zu wecken, nicht aber den Erfolg festzulegen. Am besten geht es, wenn die Wirklichkeit die Vorstellung überbietet und mehr ist, als man glaubte. Diese Regel wird nicht für das Schlechte gelten, dem ja das Übertreiben gerade hilft; denn es kann sie unter allgemeinem Beifall widerlegen, und so wirkt am Ende akzeptabel, was man als Höhepunkt des Schlimmen befürchtet hatte.

 





20 Mann in seinem Jahrhundert. Die ganz besonderen Menschen hängen von den Zeiten ab. Nicht alle hatten die, welche sie verdienten, und vielen, die sie hatten, gelang es nicht, etwas aus ihr zu machen. Manche waren eines besseren Jahrhunderts würdig, nicht alles Gute setzt sich immer durch. Die Dinge haben ihren Moment, selbst das Vortreffliche gehört in einen Rahmen; doch das Weise hat ein Privileg: dass es ewig ist, und wenn dieses nicht sein Jahrhundert ist, es viele andere sein werden.





21 Die Kunst, Glück zu haben. Es gibt Regeln des Glücks, für den Weisen besteht es nicht nur aus Zufällen; es kann durch Bemühung befördert werden. Manche sind damit zufrieden, sich frohen Muts am Tor des Glücks einzufinden und darauf zu warten, dass es handelt. Besser tun andere, sie gehen weiter und vertrauen der klugen Kühnheit, die mit den Flügeln ihrer Tugend und ihres Muts das Glück erreichen und ihm wirksam schmeicheln kann. Aber philosophisch recht gesehen gibt es kein Ermessen als das der Tugend und Aufmerksamkeit, denn es gibt nicht mehr Glück oder Unglück als Klugheit oder Unklugheit.





22 Mann mit lobenswerten Kenntnissen.

Ausrüstung

 der Gescheiten ist eine feine, elegante Gelehrsamkeit: ein praktisches Wissen von allem Geläufigen, eher das Bemerkenswerte als was in aller Munde ist; einen würzigen Vorrat witziger Redeweisen und eleganter Verhaltensformen haben und sie im rechten Moment zu gebrauchen wissen; oft klang ein Rat als Witzwort besser denn als schwerwiegende Belehrung. Wissen für Gespräche hat sich für manche besser bewährt als alle

sieben freien Künste

, so frei sie auch sein mögen.





23 Keinen Makel haben. Die notwendige Bedingung von Vollkommenheit. Wenige leben ohne Schwäche im Moralischen wie im Körperlichen und leiden sehr darunter, obwohl man sie leicht heilen kann. Es bedrückt die Weisheit, von außen zu sehen, wie ein winziger Fehler manchmal eine erhabene Vollständigkeit von Fähigkeiten beeinträchtigt, und eine Wolke reicht, um eine ganze Sonne zu verfinstern. Muttermale des Ansehens, welche die Missgunst bemerkt und auf die sie zurückkommt. Es wäre das höchste Geschick, sie in Glanzpunkte zu verwandeln. Auf diese Weise verstand es

Cäsar

, aus seinem körperlichen Gebrechen

einen Lorbeer zu machen

.





24 Die Einbildungskraft dämpfen. Manchmal, indem man sie zurechtweist, manchmal, indem man sie unterstützt, denn sie vermag alles für unser Glück und kann selbst den Verstand korrigieren. Zu einer Tyrannin wird sie, wo sie sich nicht mit dem Betrachten begnügt, sondern handelt und sogar das Leben zu beherrschen pflegt, es angenehm oder, je nach der Torheit, auf die sie stößt, beschwerlich macht, weil sie die Menschen unzufrieden oder zufrieden mit sich macht. Manchen setzt sie beständig Bilder des Leidens vor, als ein häuslicher Henker der Toren; anderen spielt sie Glück und Abenteuer mit angenehmem Schwindel vor. All dies vermag sie, wenn nicht die hochweise Urteilskraft sie zügelt.





25 Gut verstehen. Einst war Nachdenken-Können die Kunst aller Künste; jetzt reicht es nicht mehr: man muss imstande sein, Dinge zu erahnen, besonders wenn es darum geht, Illusionen aufzulösen. Wer nicht gut versteht, kann nicht verständig sein. Es gibt Tiefengräber des Herzens und Luchse der Absichten. Die Wahrheiten, die uns am wichtigsten sind, werden immer nur zur Hälfte ausgesprochen; sie sollen von dem Aufmerksamen mit vollem Verständnis aufgenommen werden: im Angenehmen, die Gutgläubigkeit zügeln, im Abscheulichen, sie anspornen.





26 Für jeden die richtige Daumenschraube finden. Es ist die Kunst, den Willen anderer in Bewegung zu setzen. Eher aus Geschicklichkeit besteht sie als aus Entschlossenheit: das Wissen, wie man einem jeden beikommen kann. Es gibt keinen Willen ohne besondere Neigung, und sie ist je nach Geschmack eine andere. Alle haben ihre Götzen: manche die Wertschätzung, andere das eigene Interesse und die meisten das Vergnügen. Es geht darum, zum Zweck der Bestimmung anderer diese Götzen zu kennen, indem man für jeden den wirksamen Auslöser kennt, dann hat man gleichsam den Schlüssel zum Wollen der anderen. Man muss zum

primären Impuls

 gehen, der nicht immer der höchste, meistens der niedrigste ist, weil die Menschen ohne Ordnung zahlreicher sind als die Untergeordneten. Man muss zuerst das Gemüt bearbeiten, danach das richtige Wort treffen, bei der Neigung angreifen, so setzt man unfehlbar den freien Willen matt.





27 Dem Innen mehr Aufmerksamkeit als dem Außen schenken. Die Vollkommenheit besteht nicht aus Quantität, sondern aus Qualität. Alles besonders Gute war immer wenig und selten; das Viele kommt Geringschätzung gleich. Selbst unter den Menschen sind die Riesen die wahren Zwerge. Manche schätzen die Bücher nach ihrem Umfang, als ob man sie schriebe, um die Arme statt den Verstand zu üben. Das Außen allein kam nie über das Mittelmaß hinaus; und es ist die Krankheit der Allgemeingebildeten,

sich nirgends auszukennen, weil sie sich überall auskennen wollen

. Das Innen gibt Vorzüglichkeit, und es ist heldenhaft, wenn es um Erhabenes geht.





28 In nichts gemein. Nicht im Geschmack.

Was für ein großer Weiser, der unzufrieden war, weil seine Dinge vielen behagten

! Das Rauschen des allgemeinen Beifalls befriedigt die Gescheiten nicht. Manche werden so sehr zum Chamäleon der Beliebtheit, dass sie eher als Apollos

sanften Hauch den gemeinen Atem

 genießen. Auch nicht in Sachen des Verstandes: man soll nicht auf die Wunder des Pöbels achten, die nicht darüber hinauskommen, die Unwissenden zu erregen, welche die gemeine Torheit bewundern, während die Aufmerksamkeit des Einzelnen Täuschung aufhebt.





29 Rechtschaffener Mensch. Immer auf der Seite der Vernunft, mit solcher Festigkeit in seinen Vorhaben, dass weder gemeine Leidenschaft noch die Gewalt des Tyrannen ihn je dazu bringen, die Grenze der Vernunft zu überschreiten. Doch wer kann so ein Phönix der Gerechtigkeit sein? Die Rechtschaffenheit hat nämlich wenig treue Freunde. Viele feiern sie, jedoch nicht für ihr eigenes Haus; manche folgen ihr bis zum Punkt der Gefahr; dort schwören die Falschen ihr ab, und die gesellschaftlich Versierten geben vor, sie zu haben. Sie macht keine Zugeständnisse an die Freundschaft, an die Macht und nicht einmal an den eigenen Vorteil, und hier ist der Druck, sie zu ignorieren. Die Wendigen sehen mit einsichtigen höheren Gründen von ihr ab, um nicht das Interesse der über sie Gestellten oder des Staates zu verletzen; doch der standhafte Mann sieht solche Verstellung als eine Art Verrat an, achtet sich mehr für Beharrlichkeit als für Klugheit, befindet sich, wo sich die Wahrheit befindet; und wenn er die

Leute

 verlässt, dann nicht, weil er sich verändert hat, sondern weil die sie zuerst verlassen haben.





30 Sich nicht auf Beschäftigungen ohne Ansehen festlegen. Weniger noch auf Hirngespinste, das diente eher dem Streben nach Geringschätzung denn nach Anerkennung. Zahlreich sind die Sekten ausgefallenerer Vorlieben, und allen muss der kluge Mann aus dem Weg gehen. Es gibt Leute mit eigentümlichem Geschmack, die sich stets mit dem verbinden, was die Weisen ablehnen; sie leben glücklich in dem Gefühl, etwas Besonderes zu sein, das sich, selbst wenn sie damit sehr bekannt werden, eher aus Lächerlichkeit denn aus ihrem guten Ruf ergibt. Nicht einmal zur Weisheit soll der umsichtige Mann sich bekennen, umso weniger zu all dem, was die, welche es zeigen, lächerlich macht; und sie werden nicht genau bestimmt, weil die gemeine Verachtung sie schon hinreichend identifiziert.





31 Die Glücklichen als Vorbild und die Unglücklichen als Abschreckung kennen. Das Unglück ist gewöhnlich eine Wirkung der Dummheit, und keine klebrigere Ansteckung gibt es für die, die ihr zugehören. Nie darf man auch dem kleinsten Übel die Tür öffnen, denn stets kommen nach ihm heimlich viele andere und größere. Beim Spiel ist Nicht-Aufnehmen die feinste Strategie: mehr bedeutet die kleinste Karte, die Trumpf ist, als die größte, die gerade Trumpf war. Im Zweifel ist es richtig, sich an die Weisen und Vorsichtigen zu halten, denn früher oder später stoßen sie auf das Glück.





32 Als gefällig