Der Kronzeuge

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Der Kronzeuge
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Der Kronzeuge

1  Titel Seite

2  Kapitel 1

3  Kapitel 2

4  Kapitel 3

5  Kapitel 4

6  Kapitel 5

7  Kapitel 6

8  Kapitel 7

9  Kapitel 8

10  Kapitel 9

11  Kapitel 10

12  Kapitel 11

13  Kapitel 12

14  Kapitel 13

15  Kapitel 14

16  Epilog

Der Kronzeuge

Im Schutz der Gefahr
Ava Patell & Kim Pearse

Gay Romance

Ava Patell & Kim Pearse

c/o

Papyrus Autoren-Club,

R.O.M. Logicware GmbH

Pettenkoferstr. 16-18

10247 Berlin

Texte: © Copyright by Ava Patell & Kim Pearse

Umschlaggestaltung: © Copyright by Carina Neppe

Titelfoto (unten): © Copyright by Alex Yakimovski

Besucht uns unter:

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https://www.facebook.com/kipearse/

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen

und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten

mit lebenden oder verstorbenen Personen wären

zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1

Aiden Miller liebte seine Arbeit, doch in dieser Nacht wünschte er sich, er hätte einen Bürojob wie so viele Menschen in Amerika auch. Die frühlingsfrische Nachtluft, die ihn an der Bushaltestelle umgab und ihm durch die Kleider kroch, ließ ihn schaudern und er war froh, dass er nur 20 Minuten mit dem Bus von dem Seniorenwohnheim ›Mapleleaf Residence‹ entfernt wohnte. Innerlich seufzte er auf, als er in den warmen Bus trat. Der Bus war leer - kein Wunder, immerhin war es weit nach Mitternacht an einem Dienstagmorgen. Einem sehr frühen Morgen.

Tribent City schlief zu keiner Tages- oder Nachtzeit. Wenn überhaupt, dann wurde die Stadt ruhiger, aber selbst daran zweifelte Aiden. Dass auf den Straßen so wenig los war, lag schlicht und ergreifend daran, dass auf seiner Buslinie nie mehr Menschen unterwegs waren als der Bus tragen konnte. Nur mit Mühe unterdrückte Aiden ein Gähnen. Auf der hellen Spitze seines rechten Turnschuhs entdeckte er einen undefinierbaren Fleck. Er hielt sich an einer der Haltestangen fest, während er den Fleck an seinem Hosenbein abzureiben versuchte. In Gedanken ging er schon das Gespräch durch, das er in ein paar Minuten führen würde und das so ablaufen würde wie die letzten Gespräche auch.

Die Nachtschwester hatte aufgeregt geklungen am Telefon, aber das überraschte Aiden nicht. Sie war noch neu und wusste den Wahrheitsgehalt von Mrs. Abernathys Worten noch nicht einzuschätzen. Als er etwa eine Viertelstunde später am Tor klingelte und vom Wächter auf seine Erklärung hin eingelassen wurde, fiel Aidens Blick auf den kleinen Ahorn, der ihm noch nicht einmal bis zu den Schultern reichte und dem die Altersresidenz ihren Namen verdankte. Kopfschüttelnd trat Aiden durch die automatische Schiebetür und seufzte auf. Wärme! Der Müdigkeit war es geschuldet, dass ihm kälter war als es natürlich gewesen wäre. Im Foyer roch es nach Desinfektions- und Reinigungsmitteln. Vermutlich war die Reinigungsfirma gerade fertig geworden mit Wischen.

»Aiden! Oh Gott sei Dank! Da bist du ja!«, begrüßte ihn die aufgeregte Stimme, die er vor einer halben Stunde auch am Telefon gehört hatte.

»Hm«, machte er nur müde. Er hatte gerade vier Stunden geschlafen und war alles andere als ausgeruht.

»Sie hat gesagt, sie stirbt!«, rief Veronica Timberland, die neue Nachtschwester in mittlerem Alter. Ihr schwarzes Haar trug sie heute zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden, die pflaumenfarbene Kleidung wies sie als Pflegekraft aus.

»Hast du schon am Telefon gesagt«, murrte Aiden. »Und sie wollte sich partout nicht beruhigen lassen?«, hakte er nach, doch Veronica schüttelte schnell den Kopf.

»Sie hat sich nicht einmal anfassen lassen. Ich konnte nichts tun, entschuldige.«

Aiden winkte ab, versuchte ein Lächeln. »Ich geh mal hin.«

Veronica nickte. »Ich muss leider weiter, es hat noch woanders geklingelt.«

Aiden nickte nur, er war schon halb auf dem Weg zu Mrs. Abernathys kleiner Wohnung. An einer Wand im Flur hing ein Schild in verschnörkelter Schrift: ›Mapleleaf Residence - grow old and die with dignity‹. In Würde altern und sterben, das wünschte Aiden wirklich jedem, nicht nur seinen gut betuchten Klienten. Leise schnaubte er, öffnete im Gehen seine Jacke. Selbst Mrs. Abernathy wünschte er das, obwohl es ihm die alte Dame wirklich nicht leicht machte. Er klopfte leise an die Tür, an der ihr Name stand.

»Mrs. Abernathy?«

Eine klägliche Stimme drang an sein Ohr. »Mr. Miller!«

Er nahm das als Zeichen und trat ein, schloss die Tür hinter sich. Der typische schwere Geruch ihres blumigen Parfüms hing in der Luft. »Ich sterbe«, verkündete die alte Dame und innerlich stöhnte Aiden auf.

»Ich habe schon gehört, Mrs. Abernathy.« Es war zwar körperlich nicht möglich, noch ein siebzehntes Mal zu sterben, aber er nahm seine Klienten immer ernst. Er fand Mrs. Abernathy im Schlafzimmer, ordentlich in Nachtwäsche gehüllt und im Bett drapiert. Er sah sofort, dass es falscher Alarm war. »Woran liegt es denn diesmal?«, fragte er dennoch einfühlsam, setzte sich auf die Bettkante und griff nach der Hand der Dame, die ihm aus einem runzeligen kleinen Gesicht ansah.

»Ich habe es mir fest vorgenommen«, nickte sie. Ihre blauen Augen sahen klar zu ihm auf, ihr Puls lag kräftig unter Aidens Fingerspitzen. Er ging regelmäßig, also lächelte er nur.

»Wir haben das doch schon besprochen, Mrs. Abernathy. Ich bin ein Mann mit einem eigenen Leben wie Ihre Söhne auch und...«

»Meine Söhne sind nichtsnutzige, einfältige Dummschwätzer und sonst nichts! Sie dagegen sind ganz anders.«

»Nun, danke. Sie haben der Nachtschwester einen ziemlichen Schrecken eingejagt als Sie ihr sagten, Sie würden sterben.«

»Ich sterbe ja auch! Ich zeige es Ihnen.« Sie legte sich zurecht, schloss die Augen und sah dann einen Moment ganz angestrengt aus. Aiden wartete ab, denn er wusste, es würde nichts passieren. Nach einer Weile hob sich ein Augenlid und ein helles blaues Auge sah zu ihm auf. Er lächelte nur und begann dann das Gespräch, das er sich auf dem Weg hierher zurecht gelegt hatte.

Als Aiden die Zimmertür wieder hinter sich zuzog, seufzte er tonlos und schloss einen Moment die brennenden Augen. Mrs. Abernathy war eingeschlafen. Nicht für immer und beinahe war Aiden versucht, ein ›leider‹ hinzuzufügen. Die Frau wollte sterben. Sie hatte ihr Leben gelebt, hatte drei Söhne großgezogen, die ihrem eigenen Leben nachgingen und tolle Menschen waren, obgleich sie ihre Mutter selten besuchten.

»Und?«, fragte eine Stimme neben ihm und er schreckte zusammen, öffnete die Augen. Neben ihm stand Veronica.

»Wie ich dir schon am Telefon erklärt habe. Sie stirbt natürlich nicht.« Veronica gab ein erleichtertes »Puh!« von sich, das Aiden zum Lächeln brachte. Er ging langsam zurück ins Foyer. »Ich glaube nicht, dass sie noch einmal aufwacht und Zicken macht, aber wenn doch, dann erinnere sie bitte an die Abmachung, die sie mit mir hat. Ich bin sicher, dass sie in den nächsten Wochen nicht stirbt. Und auch nicht in den nächsten Monaten. Wahrscheinlich überlebt sie uns sogar alle«, murmelte Aiden und Veronica nickte.

»Solange sie noch das Personal herumscheuchen kann...«, deutete sie an und Aiden lachte leise.

»Na siehst du, du gewöhnst dich ein. Ist sonst alles in Ordnung?«

»Ja. Danke, dass du gekommen bist.«

»Na ja, das ist nun einmal das Konzept.« Er zitierte aus einer der vielen Broschüren, die überall verteilt lagen: »Unser Pflegepersonal ist Tag und Nacht für unsere Klienten da.«

Veronica lachte und es schien ihr schon besser zu gehen. An Mrs. Abernathy hatte sich Aiden auch erst gewöhnen müssen. Die Alte war eine Nummer für sich. Er wusste, es würde in seinem Job immer verschrobene und... besondere Klienten geben, aber Mrs. Abernathy hatte die Latte wieder ein Stück höher gelegt. »Ich geh dann. Bis in ein paar Stunden.«

»Ja. Bis dann.«

Vor der Schiebetür zog Aiden den Reißverschluss seiner Jacke nach oben, um sich gegen die morgendliche Kälte zu schützen. Inzwischen zeigte seine Armbanduhr 5:37 Uhr an. Auch jetzt fiel sein Blick wieder auf den Mini-Ahorn und er fragte sich, warum die Hausleitung sich darauf eingelassen hatte, so einen Winzling zu kaufen. Der machte wirklich so gar nichts her und das, obwohl doch definitiv genügend finanzielle Mittel da waren. Hinter dem Tor warf er einen Blick zurück, schüttelte den Kopf und zog dann sein Handy aus der Hosentasche, um seinen besten Freunden zu schreiben. Sie hatten eine Gruppe in einem dieser Handy-Nachrichtendienste und tauschten sich nur zu gern über ihre Leben aus.

 

›Mrs. A. ist mal wieder nicht gestorben‹ , schrieb er und fügte einen Tränen lachenden Smiley hinzu. Die anderen würden seine Nachricht sicher erst am späteren Morgen lesen, aber das Schreiben hielt ihn wach. Der Weg zur Bushaltestelle war nicht weit und wie immer nahm Aiden die Abkürzung, die er inzwischen gut kannte - zu jeder Tages- und Nachtzeit. Heute aber sollte sich ihm dieser Weg noch eindringlicher einprägen, als er es je getan hatte.

Er war beinahe am Ende der Gasse angelangt, hatte gerade den Chatverlauf mit seiner Schwester aufgerufen, um ihr etwas zu schreiben, als ihn ein Geräusch aufblicken ließ. Ein Rascheln von Kleidung, gefolgt von einem Röcheln. Sehen konnte Aiden jedoch nichts. Mit zusammengezogenen Augenbrauen lief er weiter, langsamer und vorsichtiger. Die Geräusche veranlassten ihn zum Zehenspitzengang, ohne dass er genau sagen konnte, warum. Je näher er den Häuserecken kam, desto schneller schlug sein Herz. Die Härchen auf seinen Unterarmen stellten sich auf, ohne dass er die Ursache dafür erkannte. Die Kälte war es in diesem Moment nicht.

Und dann, immer noch verborgen in der engen Gasse im Schatten der Häuser, sah er auch, was der Grund für das erstickte Röcheln war. Es ließ ihn schlagartig wach werden, als hätte man ihm einen Eimer mit eiskalten Wasser über den Kopf geschüttet. Nur ein paar Meter von ihm entfernt, am Ende der Gasse standen zwei Männer. Der größere, breitere hielt den Anderen im Schwitzkasten, hatte ihn vom Boden hochgehoben. Von ihm stammte das Röcheln. Ein paar gemurmelte, eindringliche Worte, ohne dass Aiden hätte sagen können, was der Inhalt des Gesagten war. Dann sah er Metall aufblitzen und er hielt augenblicklich die Luft an, erstarrte. Unsicher und verängstigt.

Was konnte er tun? Sein Gehirn schien nicht mehr richtig zu funktionieren, schien keine Befehle entgegenzunehmen. Er wollte rennen, konnte sich nicht bewegen. Er wollte schreien, bekam jedoch die Lippen nicht auf. Ein sich näherndes Auto riss ihn aus seiner Bewegungslosigkeit. Wie in Trance hob er das Handy hoch, beinahe fremdgesteuert, öffnete so leise wie möglich die Kamera-App, duckte sich hinter einen Müllcontainer und jeder Knopfdruck dröhnte unnatürlich laut in seinen Ohren. Er musste leise handeln! Ein Foto zu schießen fiel also aus seinen Optionen aus und so drückte er auf die Videokamera. Genau in diesem Moment fiel ein heller kleiner Beutel aus der Jackentasche des großen Mannes. Plastik. Wie zum Einfrieren, erinnerte ihn sein im Moment komplett überfordertes Gehirn. Selbst im Schatten sah Aiden den größeren Mann grinsen und beinahe war es, als könnte er die Augen leuchten sehen. Glimmen. Als gehörten sie zu etwas Dämonischem, Teuflischem.

Mit einer schnellen Bewegung zog der Fremde das große Messer mit der glatten Klinge schnell an der Kehle des kleineren Mannes vorbei und der sank zu Boden, riss die Hände hoch und versuchte, das Blut in seinem Körper zu halten, welches nun stetig aus ihm heraus floss und sein Leben mitnahm. Immer noch war das Röcheln zu hören, diesmal jedoch feuchter, verzweifelter und dann beleuchteten Scheinwerfer die Szene. Aiden war sich sicher, dieses Geräusch, das der Sterbende machte, niemals in seinem Leben vergessen zu können. Es hatte nichts mit dem Röcheln gemein, was man im Fernsehen hörte, wenn jemandem die Kehle aufgeschlitzt wurde. Es war obszöner, fast pervers und es ließ ihm die Galle in die Kehle steigen. Seine Finger zitterten, während er die Kamera noch immer auf die Szene richtete, die sich vor ihm abspielte.

Das Auto gehörte offensichtlich zu dem Mann, der gerade einen anderen umgebracht hatte. Umgebracht! Vor seinen Augen! Nur Aidens bisheriger Erfahrung mit dem Tod, mit sterbenden Menschen und deren Anblick war es zu verdanken, dass er nicht nach Luft japste und ohnmächtig zusammenbrach oder eine andere Dummheit machte, die ihn verraten könnte. Stattdessen wich er noch weiter in den Schatten zurück, denn die Scheinwerfer des Autos vertrieben die tiefen Schatten zwischen den Häusern. Der Mörder sprang in das Auto und Aiden riss das Handy nach unten, um sich nicht zu verraten, war sich aber nicht sicher, nicht doch gesehen worden zu sein. Mit beinahe quietschenden Reifen fuhr der Wagen an. Er war nachtschwarz, groß und ohne Kennzeichen, das speicherte Aiden noch ab, dann rannte er los. Wenn ihn die beiden Männer - oder waren es noch mehr?! - gesehen hatten, dann musste er schnell sein! War sein Gehirn eben noch im Schockzustand gefangen gewesen, startete es jetzt mit erschreckender Klarheit neu. Er musste hier weg. Dringend! Irgendwohin, wo er sicher war. Er rannte zurück, rannte so schnell er konnte. Vor Schreck machte er einen kleinen Sprung, als nicht weit entfernt Reifen quietschten.

Panisch hechtete er durch die Straßen, versuchte sich zu erinnern, wo das nächste Polizeirevier war. Er wusste es! Sie hatten die Adresse im Altersheim gespeichert, denn es kam nicht selten vor, dass sich die älteren Herrschaften in die Haare bekamen und sich gegenseitig des Diebstahls bezichtigten. Das Alter machte nun einmal wunderlich. Dann fiel ihm die Adresse ein und er schlug einen Haken, wagte nun doch einen Blick über seine Schulter. Atem und Herz rasten im gleichen Rhythmus, als er endlich, mit feuchtem Haar und verschwitztem Shirt unter der Jacke, in der richtigen Straße ankam. Licht, Straßenlaternen und ein paar vorbeifahrende Autos. Der beginnende morgendliche Berufsverkehr. Da kam das Revier in Sicht und er rannte auf die rettenden Türen zu. Noch zwei Stufen nach oben! Mit der freien Hand drückte er die Schwingtür auf, stolperte hinein, die Augen weit aufgerissen und hinter ihm knarrte die Tür als sie zurück schwang.

»Hilfe!«, schrie er. Das Handy wog schwer in seiner rechten Hand, schwer von all der Last, die es beherbergte. »Ich brauche Hilfe!«

***

Das Leben eines Polizisten war auch nicht mehr das, was es mal war, dachte Detective Leutnant Sam Wilkins bei sich. Früher war das Aroma von Zigaretten und alten Möbeln durch die Räumlichkeiten gezogen. Alles was er heute noch wahrnehmen konnte, war der entfernte Duft von entkoffeiniertem Kaffee. Plörre, die in seinen Augen nicht einmal zum Blumengießen geeignet war, geschweige denn zum Trinken. Die Detectives nuckelten heutzutage nicht mehr an filterlosen Zigaretten, um ihren Stress abzubauen, sondern an Paprikastreifen mit Hummus-Dip und ihre Schreibtische waren nach dem Feng-Shui-Prinzip aufgeräumt und dekoriert. Dekoration auf einem Polizistenschreibtisch! Noch vor 10 Jahren wäre das ein Anlass gewesen, den Kollegen, der so etwas hatte, mit Sekundenkleber an seinen Stuhl zu heften. Heute ernteten diese Leute Beifall und mussten beinahe schon Kurse geben, damit es die weniger Informierten ihnen nachmachen konnten. Auch das Tippen der Schreibmaschinen war schon lange abgelöst worden und jetzt zu der sehr frühen Stunde hörte man im Revier nur noch das entfernte und gedämpfte Klappern einer geräuschgedämpften Computertastatur. Es war zum Kotzen. Wo war der Flair geblieben?

Er hob seine Tasse an die Lippen und nippte an seinem viel zu heißen, nach türkischer Art aufgebrühten Kaffee. Stark. Und mit einer Menge ungesundem Koffein. Er sehnte sich nach einer Zigarette, aber seiner Frau zuliebe hatte er das Rauchen vor drei Jahren aufgegeben. Er bereute es jeden Tag aufs Neue, aber er liebte Rebecca und musste sich oft eingestehen, dass sie das Beste war, was ihm je in seinem Leben passiert war. Ohne sie hätte er auch kein Kind. Diesen aufgeweckten kleinen Jungen Namens Julien mit den witzigen kleinen Löckchen, der auf seinen noch unsicheren Füßen Sams Haus am Rande der Stadt unsicher machte. Erneut nahm er einen Schluck von dem Kaffee und sah auf die Eingangstür des Reviers. Es war Dienstagmorgen. Ruhig. Kein Wochenende. Und er fragte sich, warum er zum Geier überhaupt noch hier war.

Die Tür öffnete sich, ein Officer trat herein und entdeckte ihn, hob grüßend die Hand, lief aber weiter ohne ihn anzusprechen. Wirklich ungewöhnlich ruhig. Sam Wilkins kratzte sich am lichter werdenden Haar und zuckte leicht zusammen. Es setzte ihm zu. Das Alter ging auch an ihm nicht vorbei. Besonders, wenn er sich neben Rebecca sah, die 13 Jahre jünger war als er selbst, wurde ihm bewusst, wie alt er war. Er verstand bis heute nicht, warum sie sich für ihn entschieden hatte, warum sie bei ihm war. Wieso sie ihn liebte und es jeden Tag aufs Neue mit ihm aushielt. Der nächste Schluck von dem braunen Gebräu brannte ihm in der Kehle und er setzte den Weg zurück in sein Büro fort.

Anna Jones saß am Empfang des Reviers und bearbeitete ein paar Papiere. Vermutlich, um sich wach zu halten. Er schloss die Tür zu seinem kleinen Büro hinter sich und setzte sich an den alten Schreibtisch, der ihm gute Dienste leistete. Er war noch immer nicht unter der Last der Berichte zusammengebrochen, die er tragen musste. Und auch nicht unter der Last der vielen Todesopfer, die in diesen Berichten Erwähnung fanden. Ein Stuhl, der für Besucher gedacht gewesen war, trug ebenfalls eine Menge von verschiedenfarbigen Ordnern. Aktuelle Ermittlungen, ungeklärte Mordfälle, Beweisauflistungen.

Er gähnte, hörte seinen Kiefer dabei knacken und fragte sich, ob das ein weiteres Zeichen seines fortschreitenden Alters war. Er musste endlich die Summe auf seine Lebensversicherung erhöhen. Jetzt, wo der kleine Julien da war, wurde es Zeit. Doch das musste warten. Er griff nach einer Akte und schlug sie auf.

Darum war er auch nach der Spätschicht noch hier geblieben. Der Mord an einer jungen Frau. Grausam und bestialisch. Der Psychologe hatte endlich ein Täterprofil erstellt und er wollte sich noch einmal alle Einzelheiten des Tatorts und der Umstände ins Gedächtnis rufen, bevor er diesen Bericht las. In der Nacht und den frühen Morgenstunden arbeitete sein Verstand am Schnellsten. Am Analytischsten. Darum hatte er Rebecca gestern Abend angerufen und ihr erklärt, dass er heute eine Nachtschicht einlegen würde. Und sie hatte Verständnis dafür. Wenn auch zähneknirschend. Sie hatte ihn so kennengelernt. Bemüht, das Verbrechen zu bekämpfen und der Gute zu sein. Dafür liebte sie ihn. Und er liebte sie dafür, dass sie nicht versuchte ihn zu ändern. Den morgigen Tag würde er mit seinem Sohn verbringen. Vielleicht an den See fahren und ihm die Enten zeigen. ›Ante‹, wie er sie nannte. Er besah sich die Tatortfotos und bekam von dem Getöse, das plötzlich im Eingangsbereich losbrach nichts mit.

Dafür jedoch Officer Anna Jones und die sah tatsächlich überrascht auf. Denn mit einem solchen Zwischenfall hatte sie in den frühen Morgenstunden nicht mehr gerechnet.

»Worum geht es denn, Sir?«, fragte sie und behielt den Stift in der Hand, mit dem sie eben noch einen Bericht ausgefüllt hatte. Sie rechnete nicht mit einem länger dauernden Intermezzo.

»Ich...« Aiden stützte sich einen Moment auf seinen Knien auf, sog keuchend Sauerstoff in seine Lungen und stolperte dann näher auf den Empfangstresen zu, hinter der ihm eine dunkelblonde Polizeibeamte entgegen sah. »Ich habe einen Mord beobachtet. Ich muss... Ich war auf dem Heimweg und...« Sein Mund war staubtrocken und der Schweiß drohte ihm in die Augen zu laufen.

Officer Anna Jones hob eine Augenbraue. »Einen Mord, Sir?« Ihre Skepsis war begründet, hatte sie doch schon einige solcher Aussagen gehört, die sich im Nachhinein als etwas vollkommen Anderes herausgestellt hatten. Sie unterdrückte mit Mühe ein Gähnen.

»Ja!« Aiden strich sich mit dem Jackenärmel über die Stirn. Das Seitenstechen erschwerte ihm das Atmen. »Das habe ich doch gesagt! Mit dem Messer!« Viel zu spät erinnerte er sich an das Handy in seiner Hand. »Ich habe es gefilmt.«

Die laute Stimme rief einen weiteren Polizisten auf den Plan. Jung. Überengagiert. Noch relativ grün hinter den Ohren. Louis Larkin war 28 Jahre alt, sah aber aus wie keinen Tag älter als 20. Wenn überhaupt.

»Gibt es ein Problem, Anna?« Er war ein großer Verfechter des Schreibtisch-Feng-Shuis.

Aiden sah zwischen den beiden Polizisten hin und her. Dann schlug er derart kräftig mit der flachen Hand auf den Tresen, dass ein paar Broschüren verrutschten und ihm vor die Füße flatterten.

»Hören Sie!« Aiden hielt sein Handy nach oben. »Hier drauf ist ein Mord und einer von ihnen wird mich jetzt sofort zu einem Officer bringen, dem ich das zeigen kann!«, rief er außer sich. Wollte ihm denn hier niemand helfen?! Das Blut rauschte ihm so laut in den Ohren, dass er kaum etwas anderes hören konnte.

 

»Wir sind beide Officer, Sir«, meinte Louis Larkin und besah sich den jungen Mann. Braunes, kurzes Haar, blasse, kaltschweißige Haut. Er hob eine Augenbraue. »Was genau haben Sie denn gefilmt, Sir?«

Aiden starrte den jungen Mann vor sich an und spürte die Wut in sich hochkochen, als er dessen Worte gehört und verarbeitet hatte.

»Einen Mord, verdammt!« Kein Wunder, dass niemand mehr der Polizei vertraute, wenn die sich so unfähig anstellte! Durfte der Mann ihm gegenüber überhaupt schon eine Uniform tragen? »Ich war auf dem Heimweg und habe einen Mord gesehen und hiermit gefilmt. Ich bin Altenpfleger, ich weiß wie der Tod aussieht. Ich bin weder betrunken noch habe ich Drogen genommen, ich bin lediglich hierher gerannt, weil ich Hilfe brauche und Sie...« Aiden holte Luft, ballte eine Hand zur Faust, die andere umklammerte das Handy fester. »Bitte!«

Officer Larkin ließ sich einen Augenblick Zeit mit seiner Antwort. »Na, dann kommen Sie mal mit«, sagte er und schlug den Weg nach rechts ein. Er öffnete die Tür zu einem Verhörzimmer und wartete, bis Aiden an ihm vorbei getreten war.

»Also«, begann er und griff sich ein Verhörprotokoll von dem einzigen Schrank im Raum, »was genau haben Sie beobachtet?« Er setzte sich an den Tisch und bedeutete dem Mann sich zu setzen, der sofort Folge leistete.

»Ich war auf dem Rückweg vom Altersheim zur Bushaltestelle und da bin ich die übliche Abkürzung gegangen. Am Ende der Gasse habe ich ein Rascheln und Röcheln gehört und dann bin ich langsam näher. Da stand ein Mann, groß, breite Schultern, schwarzes Haar und mit einer Narbe auf der Wange. Ich glaube, er hatte auch ein Tattoo, aber deswegen habe ich es ja gefilmt.«

Aiden schob das Handy jetzt auf den Tisch. »Jedenfalls hielt der einen kleineren Mann fest. Im Schwitzkasten und mit einem Messer in der Hand. Dann ist ein schwarzer Geländewagen gekommen, ohne Kennzeichen. Da saß mindestens ein anderer drin und...« Aidens Gedanken überschlugen sich so wie seine Worte. »Dann hat dieser Typ mit der Narbe dem anderen die Kehle durchgeschnitten und ist in den Wagen gesprungen und dann sind sie weg. Oh und da war ein kleines Päckchen! Das ist dem mit der Narbe aus der Tasche gefallen.«

Aiden strich sich übers Gesicht. »Hören Sie, ich weiß, das klingt verrückt, aber hier...« Er löste die Bildschirmsperre seines Handys und da war noch das Video, das er gefilmt hatte.

***

Während Louis die Befragung begann, klopfte Anna an die Tür von Detective Sam Wilkins, der innerlich mit den Augen rollte. Fünf Minuten Ruhe. Mehr verlangte er ja gar nicht.

»Ja?«, fragte er und die Tür öffnete sich. Anna schob den Kopf hindurch.

»Entschuldigen Sie, Sir. Aber ich dachte, es könnte Sie interessieren. Es kam gerade ein junger Mann herein, der behauptete, er hätte einen Mord beobachtet.«

Sam senkte die Akte. »Ein Mord an wem?«

»Louis Larkin befragt ihn gerade.«

»Louis?«

Sie nickte. Das konnte ja nur schief gehen. Louis war so engagiert wie er unerfahren war. Sam kämpfte mit sich. Er sollte hier sitzen bleiben, sich in die Akte vertiefen und an diesem Fall weiterarbeiten. Und dennoch brachte ihn etwas dazu, sich zu erheben und sein Hemd zu richten, den Krawattenknoten gerade zu ziehen.

»Na schön. Ich schau mir das mal an.«

»Sehr gut.«

Das Linoleum quietschte leicht unter seinen Füßen als er über den Flur lief. Durch die Scheibe konnte er in den Verhörraum blicken. Louis Larkin saß mit dem Rücken zu ihm. Anders als er selbst trug der junge Polizist eine Uniform. In der Rechten hielt er einen Kugelschreiber und nickte leicht, während sein Gegenüber erzählte und er sich Notizen machte.

Das war schon der erste Fehler. Beobachte dein Gegenüber. Achte auf Gestik und Mimik. Sieh dir an, was der Aussagende berichtet. Ohne die Worte zu hören, war sich Sam sicher, dass der junge Mann dort die Wahrheit sagte. Er war nervös, verängstigt. Die Bewegungen waren fahrig und abgehackt. Die Augen zuckten von einem Punkt zum nächsten, kaum fähig etwas länger zu fixieren. Er hatte etwas gesehen, das ihn aufgewühlt, wenn nicht sogar schockiert hatte. Oder dieser junge Mann war ein absolut perfekter Schauspieler.

Jetzt schob er ein Handy auf den Tisch und erst da sah Louis Larkin wieder auf. Und diesen Moment nutzte Sam, um in den Raum zu treten. Louis drehte sich sofort um und auch der Blick des jungen Mannes richtete sich auf ihn.

»Lassen Sie sich nicht stören, Officer«, meinte er zu Louis. »Entschuldigen Sie die Unterbrechung. Ich bin Detective Wilkins. Machen Sie einfach weiter.« Er nickte dem jungen Mann knapp zu. Fahle Gesichtshaut, Schweiß auf der Oberlippe und auf der Stirn. Das Haar wirr.

Aiden wusste nicht recht, zu wem er nun sehen sollte, während er weitersprach.

Der junge Officer vor ihm, dessen Namen er in der Aufregung vergessen hatte, sah auf seine Notizen. »Und Sie standen da und haben es gefilmt?«, nahm Larkin den Gesprächsfaden wieder auf.

Aiden nickte, warf dem Detective noch einen Blick zu, begegnete klaren Augen. Aufmerksam. Hellhörig. Er hatte sich bisher nicht gut aufgehoben gefühlt in dieser Polizeiwache, aber das schien sich gerade zu ändern.

»Ja, das habe ich. Es ist alles hier auf dem Handy. Sie müssten nur auf Play drücken.«

»Was war das für ein Päckchen? Sie sagten, dem größeren Mann sei etwas aus der Tasche gefallen.«

»Ja, kurz bevor er das Messer benutzt hat. Ich weiß nicht, es war in einer Plastiktüte und hell.«

Der Officer nickte, machte sich Notizen wie die ganze Zeit schon und Aiden sah nun endgültig in die Augen des Detectives. »Die Narbe, wie hat die ausgesehen?«, fragte der junge Officer derweil ohne den Blick zu heben.

»Ich... Sie war... Sie war unschön, ausgefranst, nicht genäht oder nicht gut, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie lief von der Schläfe bis fast zum Mundwinkel auf der linken Gesichtshälfte.« Er schloss die Augen und schauderte ob der Erinnerung.

Sam Wilkins allerdings hatte die Augen weit geöffnet. Es fehlte nicht viel und Sam hätte den Kopf gegen die Wand geschlagen. Wie konnte man sich noch umständlicher anstellen? Und die ganze Zeit sah der Idiot von Jungpolizist auf diesen dämlichen Bogen! Den konnte er gut und gerne hinterher noch ausfüllen. Doch als die Narbe Erwähnung fand, runzelte Sam die Stirn. Aufmerksam betrachtete er den jungen Mann.

»Sie sind sicher, dass es nicht auf der rechten Seite war?«, fragte Sam und trat jetzt neben Larkin an den Metalltisch, auf dem das Handy lag.

Aiden runzelte die Stirn, rief sich das Bild erneut vor Augen, obwohl er es nur ungern tat. War er sich sicher? »Die Frage verunsichert mich. Weshalb fragen Sie?« Er sah zu dem Detective auf. Seine Gedanken rasten wild. Links oder rechts? Wie hatten sie gleich gestanden? Welche Seite hatten die Scheinwerfer beleuchtet?

Sam antwortete nicht, griff stattdessen über Louis hinweg nach dem Handy. Mit einem Finger startete er die leicht verwackelte Aufnahme. Es war nicht viel zu sehen. Es war zu dunkel und nur eine Handykamera. Doch dann fuhr ein Auto vorbei und nur mehrere Jahrzehnte Polizeidienst bewahrten Sam Wilkins davor, jetzt überrascht einzuatmen. Oder zu fluchen. Stattdessen sah er auf die Person auf dem winzigen Display. Sicherlich konnte ein Techniker noch etwas an der Helligkeit herumdrehen und an der Schärfe schrauben, aber er war sich absolut sicher, wer das hier auf dem Telefon war. Und das war Bedeutender als ein Sechser im Lotto.

»Wann ist das passiert?«, fragte er, noch während die letzten Sekunden des Videos liefen.

Aiden strich sich seine feuchten Handinnenflächen an seinen Oberschenkeln ab. Selbst durch die Jeans, die er trug, spürte er seine erhitzte Haut. Passierte das hier wirklich? Vielleicht träumte er ja nur? Aber dafür war das zu real gewesen, das Röcheln, das Grinsen des Mörders. Erneut schauderte er, vielleicht auch, weil das Langarmshirt, das ihm am Oberkörper klebte, langsam trocknete.

»Vor... Ich weiß nicht... Vor einer Viertelstunde? 20 Minuten? Ich bin sofort hierher gerannt. Das müsste aber dabei stehen, Sie können doch die Infos zur Videodatei aufrufen.«

Behutsam legte Detective Sam Wilkins das Handy zurück auf den Tisch. Vor 20 Minuten. Wertvolle Minuten! Der Drang, jetzt Louis Kopf gegen die Wand zu schlagen, wurde mit jeder Sekunde größer. »Welche Straße ist das?«

»Lincoln Road. In etwa der Höhe der Bushaltestelle, an der die Linie 9 hält. Gegenüber ist so ein kleines Café.« Aiden sah zwischen dem Officer und Detective Wilkins hin und her. »Ist das... Wieso fragen Sie denn?«