Die Memoiren des Sherlock Holmes

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Die Memoiren des Sherlock Holmes
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Inhaltsverzeichnis

Silberstern

Das gelbe Gesicht

Der Angestellte des Börsenmaklers

Die »Gloria Scott«

Das Musgrave-Ritual

Die Junker von Reigate

Der Verwachsene

Der niedergelassene Patient

Der griechische Dolmetscher

Der Flottenvertrag

Das letzte Problem

Editorische Notiz

Anmerkungen

Arthur Conan Doyle
Die Memoiren des Sherlock Holmes

Impressum

Covergestaltung: Steve Lippold

Digitalisierung: Gunter Pirntke

ISBN: 9783955012380

2014 andersseitig.de

andersseitig Verlag

Dresden

www.andersseitig.de

info@new-ebooks.de

(mehr unter Impressum-Kontakt)

Silberstern

»Ich fürchte, Watson, ich werde doch fahren müssen«, sagte Holmes, als wir eines Morgens zu unserem gemeinsamen Frühstück Platz nahmen.

»Fahren! Wohin?«

»Nach Dartmoor – nach King's Pyland.«

Ich war nicht überrascht. Eigentlich wunderte es mich nur, daß er nicht schon längst in diesen außergewöhnlichen Fall verwickelt war, der in England landauf landab das Gesprächsthema bildete. Einen ganzen Tag lang war mein Gefährte mit auf die Brust gedrücktem Kinn und gerunzelter Stirn durchs Zimmer gestrichen, seine Pfeife wieder und wieder mit dem stärksten schwarzen Tabak stopfend und völlig taub für jede meiner Fragen oder Bemerkungen. Die neuesten Ausgaben sämtlicher Blätter waren von unserem Zeitungshändler heraufgeschickt worden, nur um überflogen und in eine Ecke geworfen zu werden. Aber so schweigsam er auch war, wußte ich doch ganz genau, worüber er brütete. Von den Problemen, die derzeit die Öffentlichkeit beschäftigten, gab es nur eines, das seine analytischen Fähigkeiten herausfordern konnte, und das war das eigenartige Verschwinden des Favoriten für den Wessex Cup und der tragische Mord an dessen Trainer. Als er daher plötzlich seine Absicht ankündigte, sich zum Schauplatz des Dramas zu verfügen, tat er damit nur, was ich sowohl erwartet als auch erhofft hatte.

»Ich wäre überglücklich, Sie begleiten zu dürfen, wenn ich Ihnen nicht im Wege bin«, sagte ich.

»Mein lieber Watson, Sie würden mir einen großen Gefallen erweisen, wenn Sie mitkämen. Und ich glaube, Sie werden Ihre Zeit nicht vergeuden, denn es gibt Umstände an diesem Fall, die ihn zu einem absolut einzigartigen zu machen versprechen. Ich denke, wir haben eben noch Zeit, in Paddington unseren Zug zu erreichen, und ich werde während der Reise ausführlicher auf die Angelegenheit eingehen. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie Ihren ausgezeichneten Feldstecher mitnähmen.«

Und so geschah es, daß ich mich etwa eine Stunde später, auf dem Wege nach Exeter dahinfliegend, in der Ecke eines Erster-Klasse-Abteils befand, während Holmes, das scharfgeschnittene, gespannte Gesicht von seiner Reisemütze mit Ohrenklappen umrahmt, rasch das Bündel neuer Zeitungen durchblätterte, die er sich in Paddington besorgt hatte. Wir hatten Reading weit hinter uns gelassen, als er die letzte unter den Sitz schob und mir sein Zigarrenetui anbot.

»Wir kommen gut voran«, sagte er, indem er aus dem Fenster sah und einen Blick auf seine Uhr warf. »Unsere Geschwindigkeit beträgt derzeit dreiundfünfzigeinhalb Meilen pro Stunde.«

»Ich habe nicht auf die Viertelmeilen-Pfosten geachtet«, sagte ich.

»Ich auch nicht. Aber die Telegraphenmasten auf dieser Strecke stehen im Abstand von sechzig Yards, und so ist die Rechnung einfach. Ich nehme an, Sie haben sich schon mit dem Mord an John Straker und dem Verschwinden von Silberstern beschäftigt?«

»Ich habe gelesen, was der Telegraph und der Chronicle dazu zu sagen haben.«

»Es handelt sich um einen jener Fälle, wo der Denkende seine Kunst eher daran wenden sollte, die Einzelheiten zu sichten, anstatt neues Beweismaterial zu beschaffen. Die Tragödie war so außergewöhnlich, so total und von solch persönlicher Bedeutung für so viele Leute, daß wir an einer Überfülle von Vermutungen, Annahmen und Hypothesen leiden. Die Schwierigkeit besteht darin, den Rahmen der Tatsachen – der absoluten, unleugbaren Tatsachen – von den Ausschmückungen der Theoretiker und Berichterstatter zu trennen. Stehen wir erst einmal auf dieser soliden Grundlage, so ist es unsere Aufgabe, festzustellen, welche Schlüsse sich ziehen lassen und welches die Besonderheiten sind, von denen das ganze Rätsel abhängt. Dienstag abend erhielt ich sowohl von Colonel Ross, dem Besitzer des Pferdes, als auch von Inspektor Gregory, der sich mit dem Fall befaßt, Telegramme, in denen ich um meine Mitarbeit gebeten wurde.«

»Dienstag abend!« rief ich aus. »Und jetzt haben wir Donnerstag vormittag. Warum sind Sie nicht schon gestern hingefahren?«

»Weil ich einen Schnitzer gemacht habe, mein lieber Watson – was, wie ich fürchte, häufiger vorkommt, als jemand annehmen würde, der mich nur durch Ihre Memoiren kennt. Tatsache ist, daß ich es einfach nicht für möglich hielt, daß das bemerkenswerteste Pferd Englands lange verborgen bleiben könnte, zumal in einer so spärlich besiedelten Gegend wie dem nördlichen Dartmoor. Gestern rechnete ich Stunde um Stunde mit der Nachricht, es sei gefunden worden und sein Entführer sei der Mörder von John Straker. Als aber ein weiterer Morgen angebrochen war und ich feststellte, daß man außer der Verhaftung des jungen Fitzroy Simpson nichts erreicht hatte, bekam ich das Gefühl, es sei an der Zeit für mich, tätig zu werden. Und doch habe ich in mancherlei Hinsicht das Gefühl, der gestrige Tag war nicht vergeudet.«

»Also haben Sie eine Theorie aufgestellt?«

»Zumindest habe ich die wesentlichen Tatsachen des Falles im Griff. Ich werde Sie Ihnen aufzählen, denn nichts erhellt einen Fall so sehr, als wenn man ihn jemand anderem darlegt, und ich kann kaum mit Ihrer Mitarbeit rechnen, wenn ich Ihnen nicht aufzeige, von welcher Sachlage wir ausgehen.«

Ich lehnte mich, an meiner Zigarre paffend, in die Polster zurück, während Holmes sich vorbeugte und mir, indem er mit seinem langen, dünnen Zeigefinger die einzelnen Punkte auf seiner linken Handfläche abhakte, einen Überblick über die Ereignisse gab, die zu unserer Reise geführt hatten.

»Silberstern«, sagte er, »stammt von Isonomy ab und hält einen ebenso glänzenden Rekord wie sein berühmter Stammvater. Er ist jetzt fünf Jahre alt und hat Colonel Ross, seinem glücklichen Besitzer, nacheinander sämtliche Rennpreise eingebracht. Bis zum Zeitpunkt der Katastrophe galt er, bei einer Quote von drei zu eins, als erster Favorit für den Wessex Cup. Für das Rennpublikum war er allerdings schon immer der Hauptfavorit und hat es bisher nie enttäuscht, so daß auch bei niedrigen Quoten enorme Summen auf ihn gesetzt wurden. Es ist daher offenkundig, daß es sehr viele Leute gab, die das stärkste Interesse daran hatten, zu verhindern, daß Silberstern nächsten Dienstag am Start ist, wenn die Flagge fällt.

Dieser Tatsache war man sich in King's Pyland, wo der Trainingsstall des Colonel liegt, natürlich bewußt. Jede Vorsichtsmaßnahme wurde ergriffen, um den Favoriten zu beschützen. Der Trainer, John Straker, ist ein ehemaliger Jockey, der für Colonel Ross' Farben geritten ist, ehe er für die Waage zu schwer wurde. Er hat dem Colonel fünf Jahre als Jockey und sieben als Trainer gedient und sich stets als diensteifriger und ehrlicher Angestellter erwiesen. Ihm waren drei Burschen unterstellt, denn die Anlage ist klein und umfaßt insgesamt nur vier Pferde. Einer dieser Burschen wachte jede Nacht im Stall, während die anderen auf dem Futterboden schliefen. Alle drei haben einen ausgezeichneten Leumund. John Straker, der verheiratet ist, wohnte in einem kleinen Haus etwa zweihundert Yards von den Ställen entfernt. Er hat keine Kinder, beschäftigt ein Hausmädchen und ist leidlich gut gestellt. Das umliegende Land ist sehr einsam, aber eine halbe Meile weiter nördlich liegt eine kleine Gruppe von Landhäusern, die ein Unternehmer aus Tavistock gebaut hat für Gebrechliche und andere, die die reine Luft von Dartmoor genießen wollen. Tavistock selbst liegt zwei Meilen westlich, und jenseits des Moores, gleichfalls etwa zwei Meilen entfernt, befindet sich das größere Trainingsgelände von Capleton, das Lord Backwater gehört und von Silas Brown geleitet wird. Nach jeder anderen Richtung ist das Moor eine einzige Wildnis, bewohnt nur von einigen umherstreifenden Zigeunern. Das war die allgemeine Lage vergangenen Montagabend, als sich die Katastrophe ereignete.

An diesem Nachmittag waren die Pferde wie gewöhnlich bewegt und getränkt worden, und die Ställe wurden um neun Uhr verschlossen. Zwei der Burschen gingen zum Haus des Trainers hinüber, wo sie in der Küche zu Abend aßen, während der dritte, Ned Hunter, auf Wache blieb. Ein paar Minuten nach neun brachte ihm das Mädchen, Edith Baxter, sein Abendessen, das aus einem Currygericht mit Hammelfleisch bestand. Sie nahm kein Getränk mit, denn im Stall befindet sich ein Wasserhahn, und es war Vorschrift, daß der diensthabende Bursche nichts anderes trinken durfte. Das Mädchen nahm eine Laterne mit, da es sehr dunkel war und der Weg über offenes Moorgelände verläuft.

 

Edith Baxter war noch etwa dreißig Yards vom Stall entfernt, als aus der Dunkelheit ein Mann auftauchte und sie anrief, stehenzubleiben. Als er in den von der Laterne geworfenen, gelben Lichtkreis trat, sah sie, daß er das Auftreten eines Gentleman hatte und mit einem grauen Tweedanzug und einer Tuchmütze bekleidet war. Er trug Gamaschen und hatte einen schweren Stock mit Knauf. Am meisten beeindruckte sie jedoch sein überaus bleiches Gesicht und sein nervöses Gebaren. Sein Alter, glaubte sie, liege wohl eher über als unter dreißig.

›Können Sie mir sagen, wo ich bin?‹ fragte er. ›Ich hatte mich schon fast entschlossen, im Moor zu schlafen, als ich das Licht Ihrer Laterne sah.‹

›Sie sind bei den Trainingsställen von King's Pyland‹, sagte sie.

›Ach, tatsächlich! Was für ein Glückstreffer!‹ rief er aus. ›Wie ich höre, schläft dort jede Nacht ein Stallbursche allein. Sie bringen ihm wohl gerade sein Abendessen. Sie sind doch sicher nicht zu stolz, sich den Preis für ein neues Kleid zu verdienen.‹ Er zog ein zusammengefaltetes Stück weißes Papier aus der Westentasche. ›Sorgen Sie dafür, daß der Junge das noch heute abend bekommt, und Sie werden das hübscheste Kleid besitzen, das man für Geld kaufen kann.‹

Sie war von der Ernsthaftigkeit seines Verhaltens erschreckt und lief an ihm vorbei zum Fenster, durch das sie gewöhnlich die Mahlzeiten hineinreichte. Es stand bereits offen, und Hunter saß drinnen an dem kleinen Tisch. Sie hatte gerade begonnen, ihm zu erzählen, was vorgefallen war, als der Fremde erneut auftauchte.

›Guten Abend‹, sagte er, indem er zum Fenster hereinschaute, ›auf ein Wort.‹ Das Mädchen hat beschworen, sie habe, während er sprach, aus seiner geschlossenen Hand eine Ecke des kleinen Papierpäckchens herausschauen sehen.

›Was haben Sie hier zu suchen?‹ fragte der Bursche.

›Was ich suche, bringt Ihnen vielleicht etwas ein‹, sagte der andere. ›Sie haben zwei Pferde für den Wessex Cup gemeldet – Silberstern und Bayard. Geben Sie mir den sicheren Tip, und es soll Ihr Schaden nicht sein. Trifft es zu, daß Bayard dem anderen bei gleichem Gewicht1 auf fünf Furlongs2 hundert Yard vorgeben konnte und daß der Stall sein Geld auf ihn gesetzt hat?‹

›Sie sind also einer von diesen verdammten Rennspionen‹, rief der Bursche. ›Ich werde Ihnen zeigen, wie wir in King's Pyland mit denen umgehen.‹ Er sprang auf und rannte durch den Stall, um den Hund loszumachen. Das Mädchen flüchtete zum Haus, blickte aber im Laufen zurück und sah, daß der Fremde sich zum Fenster hineinbeugte. Wenig später allerdings, als Hunter mit dem Hund nach draußen stürzte, war er verschwunden, und obwohl der Bursche um sämtliche Gebäude herumlief, fand er nicht die geringste Spur von ihm.«

»Einen Augenblick!« bat ich. »Hat der Stallbursche, als er mit dem Hund nach draußen lief, die Stalltür unverschlossen gelassen?«

»Ausgezeichnet, Watson; ausgezeichnet!« murmelte mein Gefährte. »Die Bedeutung dieses Umstandes sprang mir so eindringlich ins Auge, daß ich gestern eigens ein Telegramm nach Dartmoor geschickt habe, um den Sachverhalt zu klären. Der Bursche hat die Tür verschlossen, bevor er loslief. Das Fenster, darf ich hinzufügen, ist nicht groß genug, daß ein Mann einsteigen könnte.

Hunter wartete, bis die anderen Stallknechte zurück waren, worauf er den Trainer benachrichtigen ließ und ihm mitteilte, was vorgefallen war. Straker war erregt, als er den Bericht vernahm, obgleich er dessen eigentliche Bedeutung nicht recht zu erfassen schien. Doch er hinterließ in ihm ein vages Unbehagen, und als Mrs. Straker morgens um eins erwachte, sah sie, daß er sich gerade ankleidete. Auf ihre Fragen meinte er, die Sorge um die Pferde lasse ihn nicht schlafen und er wolle zum Stall hinübergehen, um nachzuschauen, ob alles in Ordnung sei. Sie bat ihn, zu Hause zu bleiben, denn sie hörte den Regen gegen die Fenster prasseln, aber trotz ihrer inständigen Bitten zog er seinen weiten Regenmantel an und ging aus dem Haus.

Mrs. Straker erwachte morgens um sieben und stellte fest, daß ihr Mann noch nicht zurückgekehrt war. Sie kleidete sich hastig an, rief das Mädchen und begab sich zu den Ställen. Die Tür stand offen; drinnen saß, auf einem Stuhl zusammengesunken, Hunter im Zustand völliger Betäubung, die Box des Favoriten war leer, und von seinem Trainer fehlte jede Spur.

Rasch wurden die beiden Burschen geweckt, die auf dem Futterboden über der Sattelkammer schliefen. Sie hatten in der Nacht nichts gehört, denn beide haben einen gesunden Schlaf. Hunter stand offensichtlich unter dem Einfluß irgendeiner starken Droge, und da nichts Vernünftiges aus ihm herauszubekommen war, ließ man ihn erst einmal ausschlafen, während die beiden Burschen und die beiden Frauen auf der Suche nach den Vermißten nach draußen liefen. Sie hegten immer noch die Hoffnung, der Trainer habe das Pferd aus irgendeinem Grunde zur Morgenarbeit herausgeholt, doch als sie die Hügelkuppe in der Nähe des Hauses erstiegen, von der aus sich das ganze angrenzende Moorgelände überblicken läßt, fanden sie nicht nur keinerlei Spur von dem Favoriten, sondern bemerkten überdies etwas, das die Anzeichen einer Tragödie andeutete.

Etwa eine Viertelmeile von den Ställen entfernt flatterte John Strakers Mantel lose von einem Ginsterbusch. Direkt dahinter befand sich im Moor eine schalenförmige Senke, und auf deren Grund fand man den Leichnam des unglücklichen Trainers. Sein Kopf war von einem fürchterlichen Schlag mit irgendeiner schweren Waffe zerschmettert worden, und sein Oberschenkel wies eine lange, glatte Schnittwunde auf, die ihm offensichtlich mit einem sehr scharfen Instrument zugefügt worden war. Es war jedoch deutlich, daß sich Straker heftig gegen seine Angreifer gewehrt hatte, denn in der rechten Hand hielt er ein kleines Messer, das bis zum Griff blutbeschmiert war, während er mit der Linken ein rot-schwarzgemustertes Seidenhalstuch umklammerte, das von dem Mädchen als das des Fremden erkannt wurde, der am Vorabend die Ställe aufgesucht hatte.

Auch Hunter war, nachdem er sich von seiner Betäubung erholt hatte, völlig sicher, was den Besitzer des Halstuchs anging. Er war gleichermaßen überzeugt, daß eben dieser Fremde, während er am Fenster stand, sein Hammelcurry mit der Droge versetzt und die Ställe so ihres Wächters beraubt habe.

Von dem vermißten Hengst aber fand sich im Schlamm auf dem Grunde der fatalen Mulde eine Fülle von Anzeichen dafür, daß er zum Zeitpunkt des Kampfes dort gewesen war. Doch seit diesem Morgen ist er verschwunden; und obwohl eine hohe Belohnung ausgesetzt worden ist und alle Zigeuner von Dartmoor auf dem Quivive sind, hat man nichts mehr von ihm gehört. Schließlich hat eine Analyse der von dem Stallburschen übriggelassenen Reste des Abendessens ergeben, daß es ein bemerkenswertes Quantum Opiumpulver enthielt, wohingegen die Leute im Haus am selben Abend ohne irgend welche üblen Nachwirkungen dasselbe Gericht teilten.

Dies sind die wichtigsten Fakten des Falles, aller Mutmaßungen entkleidet und so nüchtern wie möglich berichtet. Nun möchte ich rekapitulieren, was die Polizei in dieser Angelegenheit unternommen hat.

Inspektor Gregory, dem der Fall übertragen worden ist, ist ein überaus fähiger Beamter. Besäße er nur die Gabe der Phantasie, so könnte er es in seinem Beruf sehr weit bringen. Nach seiner Ankunft fand und verhaftete er unverzüglich den Mann, auf den naturgemäß der Verdacht fiel. Es kostete nur geringe Mühe, ihn ausfindig zu machen, denn er war in der Gegend durchaus gut bekannt. Sein Name, so scheint es, ist Fitzroy Simpson. Er ist ein Mann von ausgezeichneter Herkunft und Bildung, der auf der Rennbahn ein Vermögen durchgebracht hat und jetzt davon lebt, daß er sich in den Sportklubs von London in aller Stille ein bißchen als vornehmer Buchmacher betätigt. Eine Überprüfung seines Wettbuches ergab, daß er Wetten in Höhe von fünftausend Pfund gegen den Favoriten abgeschlossen hat.

Bei seiner Verhaftung sagte er freiwillig aus, er sei nach Dartmoor gefahren in der Hoffnung auf einige Informationen über die Pferde von King's Pyland sowie über Desborough, den zweiten Favoriten, der unter der Obhut von Silas Brown im Stall von Capleton stand. Er versuchte nicht zu leugnen, daß er sich am Vorabend wie geschildert verhalten hatte, erklärte jedoch, er habe keine finsteren Absichten gehabt, sondern sich lediglich Auskunft aus erster Hand verschaffen wollen. Mit dem Halstuch konfrontiert, wurde er sehr bleich und war gänzlich unfähig zu erklären, wie es in die Hand des Ermordeten geraten war. Seine feuchte Kleidung bewies, daß er sich während des Unwetters in der Nacht zuvor im Freien aufgehalten hatte, und sein Stock, ein mit Blei beschwerter Rohrstock, war genau so eine Waffe, wie sie dem Trainer die schrecklichen tödlichen Verletzungen zugefügt haben könnte.

Andererseits wies sein Körper keine Wunde auf, wohingegen der Zustand von Strakers Messer darauf schließen ließ, daß er zumindest bei einem seiner Angreifer Spuren hinterlassen haben mußte. Da haben Sie das Ganze in nuce, Watson, und wenn Sie mir irgendwie Erleuchtung bringen können, werde ich Ihnen unendlich verpflichtet sein.«

Ich hatte mit größtem Interesse der Darstellung zugehört, die Holmes mir mit charakteristischer Klarheit vorgetragen hatte. Obwohl mir die meisten Fakten vertraut waren, hatte ich weder ihre relative Bedeutung noch ihre Verbindung untereinander ausreichend gewürdigt.

»Ist es nicht möglich«, schlug ich vor, »daß die Schnittwunde an Strakers Körper während der konvulsivischen Zuckungen, die auf jede Gehirnverletzung folgen, von seinem eigenen Messer verursacht worden ist?«

»Es ist mehr als möglich; es ist wahrscheinlich«, sagte Holmes. »In diesem Fall wird einer der wichtigsten Anhaltspunkte zugunsten des Beschuldigten hinfällig.«

»Und trotzdem«, sagte ich, »verstehe ich auch jetzt einfach nicht, welche Theorie die Polizei haben kann.«

»Ich fürchte, gegen jedwede Theorie, die wir aufstellen, gibt es sehr schwerwiegende Einwände«, entgegnete mein Gefährte. »Die Polizei, nehme ich an, stellt sich vor, dieser Fitzroy Simpson habe, nachdem er den Burschen betäubt und sich zuvor irgendwie einen Zweitschlüssel verschafft hat, die Stalltür geöffnet und das Pferd hinausgebracht, offenbar in der Absicht, es kurzerhand zu entführen. Sein Zaumzeug fehlt, also muß Simpson es ihm angelegt haben. Dann, nachdem er die Tür hinter sich offengelassen hatte, führte er gerade das Pferd übers Moor weg, als er plötzlich auf den Trainer traf oder von ihm überrascht wurde. Es kam natürlich zu einem Streit, Simpson schlug dem Trainer mit seinem schweren Stock den Schädel ein, ohne von dem kleinen Messer, das Straker in Notwehr benutzte, eine Verletzung davonzutragen, und dann führte der Dieb das Pferd entweder zu irgendeinem geheimen Versteck, oder aber es ist vielleicht durchgegangen und irrt jetzt draußen im Moor umher. So liegt der Fall, wie er sich der Polizei darstellt, und so unwahrscheinlich das auch ist, sind doch alle anderen Erklärungen noch unwahrscheinlicher. Dennoch werde ich die Sache sehr rasch überprüfen, wenn ich mich erst einmal am Schauplatz befinde, und bis dahin vermag ich wirklich nicht zu erkennen, wie wir wesentlich weiter kommen könnten.«

Es wurde Abend, ehe wir das kleine Städtchen Tavistock erreichten, das wie der Buckel eines Schildes inmitten des weiten Runds von Dartmoor liegt. Zwei Gentlemen erwarteten uns am Bahnhof; der eine ein hochgewachsener Mann mit löwenartigem blondem Haar und Bart und merkwürdig durchdringenden, hellblauen Augen, der andere ein kleiner, lebhafter Mensch, sehr gepflegt und adrett, in Gehrock und Gamaschen, mit sauber gestutztem Backenbart und Monokel. Letzterer war Colonel Ross, der berühmte Sportsmann, der andere Inspektor Gregory, der auf dem besten Weg war, sich bei der englischen Kriminalpolizei einen Namen zu machen.

»Ich bin erfreut, daß Sie gekommen sind, Mr. Holmes«, sagte der Colonel. »Der Inspektor hier hat alles getan, was man irgend vorschlagen könnte, aber ich möchte nichts unversucht lassen, den armen Straker zu rächen und mein Pferd zurückzugewinnen.«

»Hat es irgendwelche neuen Entwicklungen gegeben?« fragte Holmes.

 

»Es tut mir leid, sagen zu müssen, daß wir nur sehr geringe Fortschritte gemacht haben«, sagte der Inspektor. »Wir haben draußen einen offenen Wagen, und da Sie sich zweifellos den Schauplatz ansehen möchten, ehe das Tageslicht schwindet, könnten wir während der Fahrt darüber sprechen.«

Kurz darauf saßen wir alle in einem bequemen Landauer und ratterten durch die malerische alte Devonshire-Stadt. Inspektor Gregory war von seinem Fall erfüllt und sprudelte einen Schwall von Kommentaren hervor, während Holmes gelegentlich eine Frage einwarf. Colonel Ross lehnte sich mit verschränkten Armen und über die Augen geschobenem Hut zurück, und ich lauschte voll Interesse dem Gespräch der beiden Detektive. Gregory entwickelte seine Theorie, die fast genau dem entsprach, was Holmes im Zug vorausgesagt hatte.

»Das Netz hat sich ziemlich eng um Fitzroy Simpson zusammengezogen«, bemerkte er, »und ich selbst glaube, daß er unser Mann ist. Gleichzeitig bin ich mir darüber im klaren, daß es sich um reine Indizienbeweise handelt und daß eine neue Entwicklung alles umwerfen kann.«

»Was ist mit Strakers Messer?«

»Wir sind letztlich zu dem Schluß gekommen, daß er sich im Fallen selbst verletzt hat.«

»Mein Freund Dr. Watson hat auf der Herfahrt mir gegenüber diese Vermutung geäußert. Wenn das zuträfe, würde es gegen diesen Simpson sprechen.«

»Zweifellos. Er hat weder ein Messer noch das geringste Anzeichen einer Wunde. Die Beweise gegen ihn wiegen wirklich sehr schwer. Er hatte großes Interesse am Verschwinden des Favoriten, er steht unter dem Verdacht, den Stallburschen vergiftet zu haben, er war ohne Zweifel während des Unwetters im Freien, er war mit einem schweren Stock bewaffnet, und sein Halstuch wurde in der Hand des Toten gefunden. Ich glaube wirklich, wir haben genug, um vor eine Jury zu gehen.«

Holmes schüttelte den Kopf. »Ein geschickter Anwalt würde das alles in Fetzen reißen«, meinte er. »Warum hätte er das Pferd aus dem Stall holen sollen? Wenn er es verletzen wollte, warum konnte er das nicht drinnen tun? Hat man in seinem Besitz einen Zweitschlüssel gefunden? Welcher Apotheker hat ihm das Opiumpulver verkauft? Vor allem, wo könnte er, dem diese Gegend fremd ist, ein Pferd verstecken, noch dazu ein solches Pferd? Wie lautet seine eigene Erklärung für das Stück Papier, das das Mädchen dem Stallburschen übergeben sollte?«

»Er sagte, es sei eine Zehn-Pfund-Note gewesen. Man hat in seiner Börse eine gefunden. Aber Ihre anderen Probleme sind nicht so unüberwindlich, wie sie scheinen. Die Gegend ist ihm nicht fremd. Er hat im Sommer zweimal in Tavistock logiert. Das Opium hat er wahrscheinlich in London gekauft. Den Schlüssel wird er, nachdem er seinen Zweck erfüllt hatte, weggeworfen haben. Das Pferd liegt vielleicht auf dem Grunde einer der Gruben oder stillgelegten Minen im Moor.«

»Was sagt er zu dem Halstuch?«

»Er gibt zu, daß es ihm gehört, und behauptet, er habe es verloren. Aber es hat sich in dem Fall ein neuer Umstand ergeben, der vielleicht erklärt, warum er das Pferd aus dem Stall geführt hat.«

Holmes spitzte die Ohren.

»Wir haben Spuren gefunden, die beweisen, daß Montagnacht eine Schar Zigeuner weniger als eine Meile von der Stelle entfernt lagerte, wo sich der Mord ereignete. Am Dienstag waren sie verschwunden. Einmal angenommen, es hätte eine Absprache zwischen Simpson und diesen Zigeunern gegeben, wäre es dann nicht denkbar, daß er gerade dabei war, das Pferd zu ihnen zu bringen, als er überrascht wurde, und daß sie es jetzt haben?«

»Das ist gewiß möglich.«

»Das Moor wird nach diesen Zigeunern abgesucht. Außerdem habe ich jeden Stall und jede Scheune von Tavistock überprüft, und zwar im Umkreis von zehn Meilen.«

»Wie ich höre, gibt es ganz in der Nähe noch einen Trainingsstall?«

»Richtig, und das ist ein Faktor, den wir gewiß nicht außer acht lassen dürfen. Da ihr Pferd Desborough nach den Wetten auf dem zweiten Platz stand, hatten jene Leute ein Interesse am Verschwinden des Favoriten. Von Silas Brown, dem Trainer, weiß man, daß er für das Rennen hohe Beträge gesetzt hat; und er war kein Freund des armen Straker. Wir haben die Ställe allerdings überprüft, und es gibt nichts, was ihn mit der Affaire in Verbindung brächte.«

»Und auch nichts, was diesen Simpson mit den Interessen des Capleton-Stalles in Verbindung brächte?«

»Überhaupt nichts.«

Holmes lehnte sich im Wagen zurück, und das Gespräch brach ab. Ein paar Minuten später hielt unserer Fahrer vor einem schmucken, kleinen, roten Ziegelsteinhaus mit vorspringenden Dachtraufen, das an der Straße stand. Ein Stück weiter weg lag jenseits einer Koppel ein langgestrecktes Nebengebäude aus grauen Ziegeln. Nach jeder anderen Richtung erstreckten sich bis zum Horizont die flachen, vom welkenden Farn bronze gefärbten Hügel des Moors, unterbrochen nur von den spitzen Giebeln von Tavistock und einer Häusergruppe weit im Westen, den Stallungen von Capleton. Wir sprangen alle vom Wagen, mit Ausnahme von Holmes, der zurückgelehnt sitzen blieb, den Blick auf den Himmel vor ihm gerichtet und ganz und gar in Gedanken vertieft. Erst als ich ihn am Arm berührte, schreckte er heftig auf und stieg aus dem Wagen.

»Entschuldigung«, sagte er, indem er sich an Colonel Ross wandte, der ihn einigermaßen überrascht angesehen hatte. »Ich war in Gedanken woanders.« In seinen Augen zeigte sich ein Glanz und in seinem Verhalten eine unterdrückte Erregung, die mich, der ich ja mit seiner Art vertraut war, davon überzeugten, daß er auf eine Spur gestoßen war, wiewohl ich mir nicht vorstellen konnte, wo er sie gefunden hatte.

»Vielleicht würden Sie es vorziehen, sich sogleich zum Schauplatz des Verbrechens weiterzubegeben, Mr. Holmes?« sagte Gregory.

»Ich denke, ich würde es vorziehen, ein wenig hier zu verweilen und das eine oder andere Einzelproblem genauer zu untersuchen. Straker wurde hierhergebracht, nehme ich an?«

»Ja, er liegt oben. Die gerichtliche Leichenschau3 findet morgen statt.«

»Er stand schon seit einigen Jahren in Ihren Diensten, Colonel Ross?«

»Er war mir stets ein ausgezeichneter Angestellter.«

»Ich nehme an, Sie haben ein Verzeichnis dessen angelegt, was er zum Zeitpunkt seines Todes in den Taschen trug, Inspektor?«

»Ich habe die Sachen selbst im Wohnzimmer, wenn Sie sie gern sehen möchten.«

»Das wäre mir sehr lieb.«

Wir traten alle nacheinander ins Vorderzimmer und nahmen um den Tisch in der Mitte Platz, während der Inspektor eine viereckige Blechkassette aufschloß und ein kleines Häufchen von Gegenständen vor uns ausbreitete. Es handelte sich um eine Schachtel Streichhölzer, eine zwei Inch lange Talgkerze, eine A.D.P.-Bruyèrepfeife4, einen Seehundsfellbeutel mit einer halben Unze Cavendish-Grobschnitt, eine silberne Uhr an einer goldenen Kette, fünf Sovereigns in Gold5, ein Bleistiftkästchen aus Aluminium, einige Papiere und ein Messer mit Elfenbeingriff und sehr feiner, starrer Klinge, die die Aufschrift Weiss & Co., London, trug.

»Das ist ein sehr eigenartiges Messer«, meinte Holmes, indem er es in die Hand nahm und eingehend musterte. »Da ich Blutflecken darauf erkenne, nehme ich an, es ist dasjenige, welches man in der Hand des Toten gefunden hat. Watson, dieses Messer schlägt gewiß in Ihr Fach.«

»Wir bezeichnen dergleichen als Starmesser«, sagte ich.

»Das dachte ich mir. Eine sehr feine Klinge, für sehr feine Arbeit vorgesehen. Seltsam, daß jemand so etwas auf einen ungemütlichen Gang mitnimmt, zumal man es nicht zusammengeklappt in der Tasche tragen kann.«

»Die Spitze war mit einem Korkscheibchen geschützt, das wir neben dem Leichnam fanden«, sagte der Inspektor. »Strakers Frau sagt uns, das Messer habe einige Tage auf der Anrichte gelegen und er habe es mitgenommen, als er aus dem Zimmer ging. Es war eine klägliche Waffe, aber vielleicht die beste, die er gerade finden konnte.«

»Sehr gut möglich. Was ist mit diesen Papieren?«

»Drei davon sind quittierte Rechnungen von Heuhändlern. Eines ist ein Brief mit Anweisungen von Colonel Ross. Das hier ist eine Putzmacherrechnung über siebenunddreißig Pfund und fünfzehn Shilling, ausgestellt von Madame Lesurier in der Bond Street für William Darbyshire. Mrs. Straker sagt uns, Darbyshire sei ein Freund ihres Mannes, und gelegentlich sei seine Post hierhergeschickt worden.«

»Madame Darbyshire hat einigermaßen kostspielige Neigungen«, bemerkte Holmes, als er die Rechnung überflog. »Zweiundzwanzig Guineen6 sind ziemlich üppig für ein einziges Kostüm. Hier scheint sich allerdings nichts weiter in Erfahrung bringen zu lassen, und so können wir nun zum Schauplatz des Verbrechens hinübergehen.«