Lob des Falschen

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Inhalt

Armin Nassehi Lob des Falschen Eine Apologie der Abweichung

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Armin Nassehi

Lob des Falschen

Eine Apologie der Abweichung

Was ist richtig? Woran kann man es erkennen? Meine These: so gut wie gar nicht. Wenn etwas als richtig wahrgenommen wird, lohnt es sich kaum, es zu registrieren. Richtig sind die Dinge dann, wenn der Anschluss daran unproblematisch ist, wenig Aufhebens macht, kaum Informationen enthält, erwartbar und zugleich unsichtbar bleibt. Das Richtige ist langweilig, zumindest im Vergleich zum Falschen.

Es lohnt sich, das im normalen Alltag zu testen. Wir haben zumeist alles richtig gemacht, wenn die Anschlüsse smooth sind. Am Straßenverkehr lässt es sich gut beschreiben, weil dieser geradezu eine paradigmatische Form der Handlungskoordination unter Fremden ist, die sehr stark davon abhängt, dass alle Beteiligten das Richtige tun – andernfalls kommt es zu Kollisionen. Wenn ich mich im Straßenverkehr – mit dem Automobil oder dem Fahrrad – bewege, setzt das eine ziemlich klare, aber wenig thematisierbare Form der Unterstellung des Richtigen voraus. Schon die nahezu banale Tatsache, dass wir nach rechts ausweichen, ist sehr voraussetzungsreich, funktioniert aber voraussetzungslos. Dass das Verhalten richtig war, kann man einerseits daran erkennen, dass es nicht zu Kollisionen kommt, vor allem aber daran, dass es nicht weiter thematisiert werden muss. Richtigkeit ist ein Ordnungsprinzip – und Ordnung ist nichts anderes als erfüllte Erwartung und Erwartungserwartung.

Nachahmung

Es fällt auf, dass das alles nicht auffällt. Es fällt uns leicht, das Falsche zu beschreiben, aber kaum, wie voraussetzungsvoll das Richtige ist. Und das hat exakt mit der Funktion des Richtigen zu tun, das darin besteht, dass sich eine kontingente Ordnung selbst bestätigt, indem sie sich durch Wiederholung stabilisiert. Wahrnehmbar wird das an Lernprozessen. Wenn ich in Großbritannien mit dem Automobil fahre (soweit ich in Zukunft als EU-Bürger so einfach die Gelegenheit dazu haben werde), braucht es einige Zeit, bis ich mich daran gewöhnt habe, was das Richtige ist. Auf der linken, der, mit Verlaub, falschen Seite zu fahren, erfordert erhebliche kognitive Aufmerksamkeit, die lebenswichtig sein kann. An einer Kreuzung in die falsche Richtung zu blicken, kann verheerende Folgen haben und braucht deswegen eine kognitive Repräsentation und Reflexion zur Vermeidung des Falschen. Erst wenn dies wie »von selbst« geschieht, kann man an sich selbst sehen, wie sehr das, was wir im Alltag normalerweise nicht beobachten, die Voraussetzung alles Alltagshandelns ist. Man muss ohnehin immer wieder darauf hinweisen, wie erwartbar das meiste ist, was in einer Gesellschaft geschieht – und wie wenig Informationswert all das dann hat. Wir sind an unfassbar viele ähnliche Formulierungen und Handlungsweisen gewöhnt. Fast alle öffentlich verhandelten Themen leben vor allem von Nachahmung, das heißt von der Wiederholung dessen, was sich in das unendlich erscheinende Geflecht von Handlungen einreiht. Gabriel Tarde (1843–1904), ein französischer Soziologe und Kriminologe, hat empfohlen, sich nicht für die herausragenden Kulturwerke zu interessieren, die einen hohen Informationswert haben, wenn man die Gesellschaft verstehen will. Man solle sich eher an die alltäglichen »Nachahmungsketten« halten. Soziale Ordnung und soziale Kommunikation sind laut Tarde vor allem ein Nachahmungsspiel, in dem die Dinge mit kleinen Variationen wiederholt werden. Gesellschaftliche Praxis ist in diesem Sinne eine fortwährende Form des Richtigen und des Gewohnten.1

Die große Demütigung der Sozialwissenschaften ist es, auf diese Form der Regelmäßigkeiten, der Drehbuchhaftigkeit, der nachgerade mangelnden Originalität des Handelns hinzuweisen.2 Erscheint uns die Welt aus der je eigenen Perspektive als aufregend und volatil, sind soziale Aggregate erstaunlich regelmäßig und berechenbar – so berechenbar, dass manche Institutionen der Gesellschaft durch zumeist digitalisierte Berechnung solcher Regelmäßigkeiten mehr über diese sozialen Aggregate wissen können als wir selbst.3 Ob es sich um Marketingdaten handelt oder um Wahlumfragen in der Politik, um die Berechenbarkeit des Energieverbrauchs bestimmter Gruppen oder die Bedarfsplanung in der Versorgungsforschung, überall lässt sich zeigen, dass die Regelmäßigkeit des Verhaltens und der Strukturen fast unabhängig von der kognitiven Repräsentation der einzelnen Handelnden funktioniert. Was aus unserer je eigenen Perspektive als das Ergebnis unserer Entscheidung und einer freien Wahl erscheint, ist in den Aggregaten bereits erwartbar, bevor Individuen die entsprechenden Motive haben. Das ähnelt ein bisschen den berühmten Libet-Experimenten, in denen gezeigt wurde, dass es bereits vor der Bewusstheit über manche Handlungen vorbewusste Erregungszustände im Gehirn geben soll, die bestimmtes Verhalten wahrscheinlicher machen.4 Das Richtige ist gewissermaßen das Ergebnis eines vorherigen Erregungszustandes.

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