Station Neun

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Station Neun

„Mein Olymp ist voll von Kranken und Sündern.“

Klaus Mann

Inhalt

I

II

I

Mit achtzehn Jahren erkranke ich an einer Psychose. Es ist eine wilde, schwierige Zeit. Ich kiffe, seit ich fünfzehn bin. Es wird immer mehr. Dazu kommen stark psychoaktive Substanzen. Pilze, LSD, MDMA. Ich verliere den Bezug zur Realität. Schmeiße die Schule, fahre zwei Autos zu Schrott, und meine Eltern werfen mich zu Hause raus. In einem Zeitraum von drei Jahren treibe ich orientierungslos vor mich hin. Zwei Psychiatrieaufenthalte, ein Job im Supermarkt - und Drogen.

Ich bin ein gefundenes Fressen für Psychiater und Psychologen. Seit dieser ersten drogeninduzierten Psychose kämpfe und hadere ich immer wieder mit meiner Psyche. In Stresssituationen komme ich schneller als andere an meine Belastungsgrenze. Dennoch habe ich einen Weg gefunden, am Leben teilzuhaben und die Wirren der Adoleszenz zu bewältigen.

Ich gehe mit Anfang zwanzig wieder zur Schule. Hole mein Abitur nach. In der mündlichen Abschlussprüfung die erste Panikattacke. Ich schwitze, zittere am ganzen Körper, kann nicht vernünftig denken. Der Prüfer gibt mir eine Büroklammer, mit der ich zur Beruhigung spiele. Ich bestehe die Prüfung trotzdem. Wenn auch knapp.

Zusammen mit einem Klassenkameraden ziehe ich nach Frankfurt. Leben in einer Wohngemeinschaft. Philosophiestudium. Hier wird mir klar, dass ich an einer Angststörung leide. Der Kontakt zu Kommilitonen fällt mir schwer. Das Philosophencafé der Universität ist ein rotes Tuch für mich. Ich leide an einer sozialen Phobie und meide Situationen, die angstbesetzt sind. Meine Ärztin verschreibt mir ein Notfallmedikament. Ein Benzodiazepin. Das wirkt schnell und zuverlässig. Es macht alles einfacher. Vorträge und Referate vor Dozenten und Kommilitonen lassen sich damit bewältigen. Über Jahre, während des gesamten Studiums, nehme ich dieses Medikament, so wie es gedacht ist. Im Notfall. Ich schließe das Studium ab, mache den Magister.

Schon während der Zeit an der Universität habe ich kleine Filme gedreht. Die Ideen dazu entwickelt und mit einem befreundeten Kameramann realisiert. Ich schließe an das Studium eine zweijährige Ausbildung an einer kleinen Filmschule in Frankfurt an. Alles ist neu und aufregend. Ich nehme mehr von dem Benzodiazepin. Bald täglich. Immer wieder erhöhe ich die Dosis. Ich werde abhängig.

Am Ende dieser Ausbildung steht die Sackgasse. Ich kann nicht mehr ohne diese Droge. Für eine Sonntagszeitung schreibe ich nach einem stationären Entzug folgenden Erfahrungsbericht.

Angst, das Gefühl kennt jeder. In meinem Fall geht die Angst ins Uferlose. Seit ich zwanzig Jahre alt bin, leide ich unter einer sozialen Phobie, unter Panikattacken. Ich habe Angst auf dem Weg zur Uni. Angst davor, den Mund aufzumachen, Angst vor der Zeit mit anderen im Wartezimmer beim Arzt. Ich habe Angst vor dem Fremden, der mir im Zug gegenübersitzt, Angst vor der Schlange im Supermarkt.

Über die Jahre wurde es immer schlimmer. Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Meine Ärztin verschrieb mir ein Beruhigungsmittel, ein Medikament aus der Gruppe der Benzodiazepine. Das Medikament wirkt angstlösend und vor allem schnell, aber ich bin abhängig davon. Um meine Angst zu bekämpfen, habe ich in den vergangenen sechs Jahren zunehmend mehr gebraucht. Ich habe das Zeug geschluckt wie Smarties. Das Medikament hat meinen Alltag bestimmt.

Ein willkürlicher Tag Anfang August 2012. Ich stehe gegen halb elf Uhr auf. Morgens ist die Angst am heftigsten. Nach dem Aufwachen rauche ich auf der Bettkante sitzend meine erste Zigarette. Wie jeden Morgen wird mir von der ersten Zigarette des Tages schwindlig. Noch bevor ich mir einen Kaffee mache, schlucke ich welche von den Pillen, drei Milligramm. Ich muss auf mein Level kommen. Vor dem Duschen rauche ich in der Regel drei oder vier Zigaretten, trinke Kaffee und warte, bis ich halbwegs auf der Höhe bin. Das dauert einen Moment. Es dauert, bis es wirkt. Ich spüre eigentlich gar nicht so richtig, wann es wirkt, nur die Sorgen und Gedanken in meinem Kopf sind nicht mehr so erdrückend.

Nach dem Duschen setze ich mich an den Schreibtisch und fahre den Computer hoch. Morgens esse ich nichts, sondern trinke nur Kaffee, einen nach dem anderen. Ich arbeite an meinem Abschlussfilm. Die vergangenen zwei Jahre habe ich an einer kleinen Filmschule in Frankfurt studiert. Ich stehe unter Druck: Der Film muss fertig werden. Eigentlich liege ich gut in der Zeit. Einige Passagen des Films sind allerdings noch asynchron. Es ist eine unangenehme Arbeit, die richtige Sounddatei zum richtigen Bild zu finden und den Ton neu anzulegen.

Gegen Mittag nehme ich wieder Pillen. Zwei Milligramm wirken etwa sechs Stunden. Ich achte darauf, dass sich der Spiegel hält. Um die Mittagszeit gehe ich kurz zum Supermarkt. Er liegt gleich um die Ecke. Ich kaufe ein Baguette und Streichkäse, ein paar Oliven. In geringer Variation esse ich das jeden Tag, zum Kochen fehlt mir die Lust. Außerdem kaufe ich zwei Flaschen Wein. Roten. Wieder zu Hause mache ich den Wein auf und esse das Baguette. Es gibt niemanden, der vorbeikommt, der fragt, wie es mir geht, oder aus irgendwelchen anderen Gründen anruft.

Am Nachmittag verabrede ich mich mit einer Freundin. Es ist eine Situation, die angstbesetzt ist. Vor dem Treffen nehme ich das Mittel. Diese Freundin kennt mich eigentlich nicht. Sie kennt nur den ausgelassenen Typen, der immer ein bisschen nach Wein riecht und locker ist. Es ist mir wichtig, genau dieses Bild von mir zu vermitteln, gleichzeitig lässt genau das die Angst in mir größer und stärker werden, weil ich ohne die Droge eben nicht ausgelassen und locker bin. Soziale Angst macht hässlich, so empfinde ich das. Und nur mit Alkohol und dem Gebrauch von Benzodiazepin bin ich schön.

Bis zu dem Treffen arbeite ich weiter an dem Film und trinke weiter Wein. Der Wein tut gut. Er entspannt. Der Mittag vergeht schneller. Es ist nicht weit zu dem Café, in dem wir uns treffen wollen. Ich freue mich, sie zu sehen, aber ich spüre auch Angst, trotz der Vorarbeit. Die Angst ist aber nicht umfassend, sie weicht nach den ersten paar Minuten. Benzos und Wein sei Dank. Sie nimmt einen Latte Macchiato, ich trinke ein Bier. Ich lasse mich einladen, bin schließlich pleite. Nach einer guten Stunde verabschieden wir uns, die Umarmung ist herzlich. Wieder zu Hause mache ich die zweite Flasche Wein auf. Ich rechne nach, wie viel von den Pillen ich bis jetzt genommen habe: 6,5 Milligramm. Ich fühle mich gut, arbeite weiter. Ich überlege, ob ich genug gegessen habe, ich habe keinen Hunger und belasse es dabei. Hätte ich für den Abend den Plan auszugehen, wäre nochmal eine größere Portion Benzos nötig. Es ist lange her, dass ich abends ohne sie auf die Piste bin. Das hat sich mit den Jahren so eingespielt.

Ich arbeite bis in die Nacht. Wieder ein Tag endet, an dem ich mich überwunden habe. Mit meinen Begleitern, dem Medikament und dem Alkohol, etwas geleistet habe. Ich kann nicht einschlafen, wenn ich betrunken bin – ein paradoxes Phänomen. Den meisten Menschen geht es anders. Mein Kopf rattert, wenn ich betrunken bin. Ich nehme zwei Milligramm zur Nacht. Nachts ist die Angst genauso heftig wie morgens nach dem Aufstehen. Es sind diese Stunden, in denen das Unbewusste das Ich überlistet. Ich habe Albträume, schrecke hoch, kann nicht wieder einschlafen. Erst der Schlaf in den Morgenstunden, wenn es draußen wieder hell wird, ist erholsam für mich.

Der 17. August 2012. Die Präsentation des Abschlussfilmes steht an. Ich habe die Nacht zuvor nicht geschlafen, trotz Benzos in Unmengen. Das Zeug wirkt nicht mehr. Der Termin ist am frühen Vormittag. Ich bin es nicht gewohnt, so früh am Tag große Mengen zu nehmen. Ich habe ein ungutes Gefühl, bin nervös und spüre, es wird schiefgehen.

Showtime. Schon Minuten bevor ich aufgerufen werde, um meinen Film zu präsentieren, greift die Panik nach mir. Ich stehe vor den Zuhörern. Die Neuronen feuern. Ich zittere am ganzen Körper, bekomme keine Luft. Meine Stimme ist brüchig. Ich habe das Gefühl, jeden Moment zusammenzuklappen. Keiner stellt Fragen, sie sehen mich mitleidig an. Ich flüchte aus der Situation. Nach einer guten halben Stunde lässt die Panik nach. Ich nehme mittlerweile bis zu 12 Milligramm am Tag. Die Tabletten verlieren ihre Wirkung. Meine Ärztin erklärt mir, dass sie diesen Konsum nicht weiter unterstützen könne. Ich bin am Ende. Zuerst versuche ich, zu Hause zu entziehen. Das klappt schon, sage ich mir. Aber das Mittel ist stärker als ich. Es hat mich im Griff. Das kann man nicht nachvollziehen, das muss man fühlen. Dieses Medikament ist mehr, fast wie ein Lebewesen. Es kennt dich, und es weiß, wie es dich anpacken muss, es zieht die Fäden, hält seine Karten versteckt und spielt sie genüsslich aus. Erst gibt es dir Kraft, macht dich stark, macht alles leichter, dann zieht sich langsam die Schlinge zu. Du merkst, dass du in der Falle steckst.

Das Zeug ist brutal. Es nistet sich in deinem Kopf ein. Es gibt keine Flucht, jeder Kampf ist verloren. Es treibt dich vor sich her, bis du nicht mehr kannst. Und es verliert nicht die Lust an dir.

Zweimal muss ich den Versuch eines Entzuges abbrechen. Ich muss mir Hilfe suchen. Meine Ärztin macht mir klar, dass das die Regel ist bei einem Benzodiazepinentzug. Ohne eine stationäre Aufnahme sei das nicht zu schaffen.

Ich finde eine kleine Klinik, eine Psychiatrie, im Schwarzwald. Sie nehmen mich auf. Die Lösung heißt, das Medikament langsam „auszuschleichen“. Das braucht Zeit. Für zwölf Wochen wird die Klinik mein Zuhause. Ich fühle mich dort gut betreut. Habe Einzelgespräche mit meiner Therapeutin und Gruppentherapien, mache Sport und nehme an Kunst- und Musiktherapie teil. Der Entzug innerhalb dieses geschützten Rahmens funktioniert. Ich werde auf die Anfangsdosis von 8 Milligramm am Tag eingestellt. Von diesem Wert wird langsam reduziert. Ich fühle mich gut und meine Therapeutin wundert sich noch mehr als ich, dass das Ganze so problemlos funktioniert.

 

Wir sind bei der Dosis von 0,5 Milligramm am Tag angelangt. Alle denken schon, ich bin durch, doch beim kompletten Absetzen der Tabletten greift der psychische Entzug. Ich habe optische Halluzinationen: Die Farben des Fernsehbildes werden intensiv, die Gesichter der Schauspieler verzerren zu Fratzen, aus der Mitte des Bildschirms scheinen weiße Strahlen. Ich kann nicht mehr schlafen. Ich habe das Gefühl, dass ich mich auf seltsam unpassende Weise bewege und spreche. Mir wird die Anwesenheit anderer Menschen zum Grauen. Ich verkrieche mich in meinem Zimmer. Ich habe Angst – vor allem vor Menschen, vor den Mitpatienten, der Schwester, dem Therapeuten.

Ein Anruf meines Bruders. Schon so ein kurzes Gespräch überfordert mich. Mir läuft kalter Schweiß den Rücken runter, es fühlt sich an, als würden kleine Stecknadeln in meine Haut stechen, Millimeter auf Millimeter. Von Tag zu Tag wird es schlimmer.

Die Therapeutin macht sich Sorgen. Eine Woche vegetiere ich auf meinem Zimmer, nur zum Rauchen gehe ich raus. Es ist nicht zu schaffen. Zusammen mit meiner Therapeutin fällt der bittere Entschluss, wieder auf eine geringe Menge des Mittels zurückzugreifen. Es geht nicht anders. Die Perspektive: Nach längerer Zeit mit einer geringen Menge noch einmal einen Versuch ganz ohne Tabletten zu starten. Mit 1,5 Milligramm am Tag werde ich aus der Psychiatrie entlassen. Ich hadere mit dem Ergebnis. Mein Ziel, das Gift ein für alle Mal loszuwerden, ist nicht erreicht. Das muss ich akzeptieren.

In der Zeit nach dem Klinikaufenthalt bin ich oft fahrig, bin schnell erschöpft, vor allem mental, nicht körperlich. Ich sehe mich mit Gedanken und Gefühlen konfrontiert, die ich in solcher Intensität früher unterdrückt habe.

Seit dem Ende des Filmstudiums arbeite ich an einem Drehbuch. Ich setze mich mit unterschiedlichen Dramaturgiemodellen auseinander. Ein Drehbuch ist ein Spiegel für das Leben, so empfinde ich das. Ich bin der Held meiner Geschichte. Angst ist ein zentraler Bestandteil meiner Geschichte. Es wirkt paradox, aber das zu akzeptieren und anzunehmen ist der Ausgangspunkt für die Bekämpfung der Angst.

Ende Februar 2013. Ich besuche ein Drehbuchseminar in Berlin. Im Zuge eines Rollenspiels werde ich aufgefordert, vor die Gruppe zu treten und eine Situation durchzuspielen.

Showtime. Sofort beim Aufstehen bekomme ich Panik und keine Luft mehr. Ich zittere, aber ich kann damit umgehen. Ganz bewusst sage ich: „Einen Moment bitte.“ Ich gehe aus dem Raum, um eine Zigarette zu rauchen, um mich zu erholen. Danach gehe ich wieder rein – schließlich hab` ich ja für den Kurs bezahlt.

Das war vor fünf Jahren. Ich bin erschrocken, als ich diesen Text aus dem Schrank gesucht habe und gelesen habe. Vor fünf Jahren stand ich vor dem Aus, heute stehe ich da wieder. Ich trinke keine zwei Flaschen Wein mehr am Tag, aber bin immer noch Benzodiazepinabhängig. In den vergangenen Jahren gab es keinen Tag, an dem ich dieses Mittel nicht genommen habe. Stetig habe ich die Dosis erhöht.

Inzwischen arbeite ich seit einem Jahr als Alltagsbegleiter. Die Arbeit mit alten Menschen, oft dement, mache ich sehr gerne. Ich komme damit über die Runden und ich habe noch genügend Freiraum zum Schreiben und Filme machen.

In diesem Jahr versuche ich auch, zusammen mit meiner Ärztin ambulant zu entziehen. Es ist nicht zu schaffen. Kleine Erfolge, eine Reduzierung der täglichen Dosis, kommen zurück wie ein Bumerang. Ich nehme wieder mehr von dem Zeug. Schlussendlich melde ich mich zu einem stationären Entzug in einem Krankenhaus an. Der Entzug führt mich an den Rand des Wahnsinns.

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