Verstehen statt verurteilen

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Verstehen statt verurteilen
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Anselm Grün, Bernd Deininger

Verstehen statt verurteilen

Biblische Hilfestellungen für ein anderes Miteinander


Vier-Türme-Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.




Printausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2021

ISBN 978-3-7365-0351-9

E-Book-Ausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2021

ISBN 978-3-7365-0381-6

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Erstellung: Dr. Matthias E. Gahr

Lektorat: Marlene Fritsch

Covergestaltung: Finken und Bumiller, Stuttgart

www.vier-tuerme-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Anselm Grün

»Keiner kann dich verletzen, außer du selbst« • Matthäus 7,24–27 und Lukas 6,47–49

Bernd Deininger

Aufruf und Mut zum Leben • Matthäus 12,22–23

Bernd Deininger

Schwer zu verstehen • Matthäus 13,1–23

Anselm Grün

Bekenntnisse • Matthäus 16,13–20

Bernd Deininger

Das rechte Maß • Matthäus 13,24–30

Bernd Deininger

Die Mächtigen – als Täter und Opfer • Matthäus 14,1–12 und Markus 6,17–29

Bernd Deininger

Das Eigene und das Fremde verstehen • Matthäus 21,28–32

Bernd Deininger

Wer Sicherheit sucht, wird sie verlieren • Matthäus 25,14–30

Anselm Grün

Zum Reden erlöst • Markus 7,31–37

Anselm Grün

Versuche und Versuchungen • Lukas 4,1–13 und Matthäus 4,1ff

Anselm Grün

Auf dem Weg bleiben • Lukas 9,57–62

Bernd Deininger

In der Menschlichkeit des Menschen, dort finden wir die Wohnung Gottes • Lukas 10,25–37

Anselm Grün

Licht werden • Lukas 11,33–36

Anselm Grün

Zeichen der Zeit • Lukas 12,49–53

Bernd Deininger

Wir sind Geladene • Lukas 14,17–24

Anselm Grün

Denken hilft! • Lukas 14,28–32

Bernd Deininger

Vernunft und Glaube als Voraussetzung für den Zugang zum eigenen Ich • Lukas 15,1–10

Bernd Deininger

Von der Schwierigkeit, gütig zu sein • Lukas 15,11–32

Bernd Deininger

... wie wir vergeben unseren Schuldigern • Lukas 16,1–13

Bernd Deininger

Selbstvertrauen macht beziehungsfähig • Lukas 17,5–10

Anselm Grün

Ungewöhnlich gewöhnlich • Lukas 17,7–10

Anselm Grün

Den Himmel sehen • Lukas 19,1–10

Anselm Grün

Mensch werden – Selbst werden • Johannes 2,1–22

Anselm Grün

Wiedergeboren • Johannes 3,1–16

Bernd Deininger

Der Sündlose werfe den ersten Stein • Johannes 7,53–8,11

Anselm Grün

Von Schafen, Hirten, Räubern und Dieben • Johannes 10,1–21

Bernd Deininger

Beziehung schafft Leben • Johannes 11,17–41

Anselm Grün

Von der Schönheit des Kreuzes • Johannes 12,20–33

Bernd Deininger

Das ewige Licht • Johannes 12,44–46

Anselm Grün

Im Wein verwandelt • Johannes 15,1–8

Literatur

Vorwort

Eine der zentralen Haltungen Jesu ist: den Menschen zu verstehen, statt ihn zu verurteilen. Jesus lässt sich auf die Menschen ein, auf ihre Verletzungen und Wunden, auf ihre Leidenschaften und Sehnsüchte. Und er zeigt ihnen Wege auf, wie sie sich selbst verstehen können. Während seines Wirkens trifft er viele, die sich selbst verurteilen. Jesus urteilt nicht. Er nimmt den anderen an, wie er ist. Aber er zeigt auch Wege der Heilung und Verwandlung auf. Seine Wege der Heilung beziehen sich zunächst auf den Einzelnen, sie zielen aber letztlich immer auf ein neues Miteinander.

So haben in diesem Buch Bernd Deininger als evangelischer Arzt und Psychoanalytiker und Anselm Grün als katholischer Mönch und Seelsorger Texte aus den vier Evangelien ausgelegt, jeweils von ihrem spirituellen Hintergrund und von ihrer therapeutischen oder seelsorglichen Arbeit her. Sie haben dabei einen Dialog geführt zwischen den Texten und ihren Erfahrungen aus der Begleitung und so die Geschichten der Bibel neu verstanden. Umgekehrt haben die Texte ihnen geholfen zu verstehen, was in der Begleitung von Menschen geschieht. Sie haben ein neues Licht auf das geworfen, was geschieht, wenn Menschen sich in der Begleitung und in den Therapien der eigenen Wahrheit stellen und bereit sind, sich selbst und andere zu verstehen.

Verstehen ist der erste Schritt in der Begleitung, aber auch bei der Menschwerdung. Der zweite Schritt aber ist Verwandlung. Es geht darum, das, was ist, in die einmalige Gestalt zu verwandeln, die Gott jedem von uns zugedacht hat. Jesus lässt den Menschen nicht einfach dort stehen, wo er ist. Er bietet ihm einen Weg der Verwandlung und Heilung an. Die Voraussetzung dafür ist, genau hinzuschauen, was im Menschen ist. Schon die Kirchenväter kannten den theologischen Grundsatz: »Nur, was Jesus angenommen hat, kann erlöst werden«. Weil Jesus ganz Mensch geworden ist, hat er den Menschen so, wie er ist, erlöst. Diesen Grundsatz haben dann die christliche Spiritualität und auch die humanistische Psychologie übernommen: Nur das, was wir anschauen und verstehen, lässt sich verwandeln.

Das Verstehen richtet sich zunächst auf uns selbst. Wir sollen uns nicht verurteilen, wenn wir in uns masochistische oder sadistische Gedanken vorfinden, wenn wir voller Ängste und Zwänge sind, wenn Aggressionen uns beherrschen. Wir sollen verstehen, woher sie kommen und was sie uns sagen wollen. Wer sich selbst versteht, der kann zu sich stehen. Wer zu sich selbst steht, ist auch bereit, weiter zu wachsen. Jesus zeigt ihm den Weg, wie er durch die Wirklichkeit hindurch, die er in sich erlebt, zu dem einmaligen Menschen werden kann, als den Gott ihn gewollt hat.

Verstehen, statt zu verurteilen bezieht sich aber nicht nur auf unsere Schattenseiten. Es geht auch darum, sich selbst in seiner Würde zu verstehen. Jesus hat uns immer wieder auf unsere unantastbare Würde verwiesen. Er hat uns aufgezeigt, dass wir Söhne und Töchter Gottes sind. Gerade in den Worten des Johannesevangeliums hören wir, dass wir nicht nur von der Erde, sondern auch von Gott sind. Diese Worte klingen manchmal sehr spirituell. Aber wir werden unserem Wesen nicht gerecht, wenn wir nicht zugleich verstehen, dass wir durch Jesus eine göttliche Würde erhalten haben.

Wer sich selbst versteht, statt sich zu verurteilen, wird auch andere versuchen zu verstehen, ohne sie zu bewerten. Wir sind häufig schnell damit, andere zu bewerten, uns über sie zu entrüsten, sie zu verurteilen. Doch damit stellen wir uns über sie. Und wir projizieren oft genug unsere eigenen Schattenseiten auf die anderen. Anstatt uns der eigenen Wahrheit zu stellen, schauen wir voller Schadenfreude auf die Fehler anderer. Das spaltet die Gesellschaft. Wir machen den anderen zum Sündenbock, auf den wir allen Dreck werfen. Solange wir aber den Schmutz im eigenen Herzen nicht anschauen und verwandeln lassen, werden wir immer neue Sündenböcke brauchen, auf die wir das Verdrängte in uns projizieren. Gegen diese spaltende Tendenz hat Jesus das berühmte Wort vom Splitter im Auge des Bruders und vom Balken im eigenen Auge gesetzt (vgl. Mt 7,3f). Jesus weist uns dagegen darauf hin, dass wir den anderen immer als Spiegel für uns selbst sehen sollen. Alles Negative, das wir im anderen entdecken, wirft ein Licht auf das Dunkle in uns selbst. Jesus fasst das in dem Wort, das Bernd Deininger ausgelegt hat: »Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie« (Joh 8,7). Wenn wir aufhören, einander zu verurteilen, wird ein neues Miteinander möglich.

 

Wer sich als Sohn oder Tochter Gottes versteht, der sieht auch den anderen mit neuen Augen. Er wird auch in ihm den Himmel entdecken, so wie Jesus im Sünder Zachäus den Himmel sieht. So führt das Verstehen des eigenen Menschseins und des anderen mit seinen Schattenseiten, aber auch mit seiner göttlichen Würde, zu einem neuen Miteinander, bei dem wir uns annehmen, in dem wir einander einen Raum ermöglichen, weiter zu wachsen, uns zu verwandeln und dem Bild immer ähnlicher zu werden, das Gott sich von jedem von uns gemacht hat.

Anselm Grün, Bernd Deininger

Anselm Grün

»Keiner kann dich verletzen, außer du selbst« • Matthäus 7,24–27 und Lukas 6,47–49

Jesus schließt die Bergpredigt mit einem Gleichnis ab. Er will damit eindrücklich zeigen, dass es nicht genügt, seine Worte nur zu hören. Es geht darum, sie auch zu tun. Er verwendet hier das griechische Wort poiein, es bedeutet: die Worte in Handeln übersetzen. Aber poiein heißt auch: kreativ mit diesen Worten umgehen, sich von den Worten zu neuen Verhaltensweisen anregen lassen, die ganz neue Wege eröffnen gegenüber dem, was alle tun. Der östliche Kirchenlehrer Johannes Chrysostomos schätzt gerade diese Methode Jesu, nicht einfach Forderungen aufzustellen, sondern durch eine bildhafte Rede uns das, was er sagen möchte, eindrücklicher vor Augen zu stellen. Chrysostomos schreibt: »Hätte er (Jesus) nur gesagt, der Tugendhafte werde unüberwindlich sein, der Böse dagegen leicht zu besiegen, so hätte dies doch nicht den gleichen Eindruck gemacht wie jetzt, da er von einem Felsen redet und einem Haus, von Flüssen, Regen und Sturmwinden und anderen derartigen Dingen« (Matthäus-Kommentar, 24. Homilie, 103).

Das Symbol Haus steht immer auch für das Lebenshaus des Menschen. Im Traum beschreibt das Haus den Bewusstseinszustand des Menschen. Der Keller steht für das Unbewusste, das Wohnzimmer für die bewussten Bereiche, in denen wir leben. Die Frage ist dann, ob wir unser Lebenshaus auf Felsen oder auf Sand bauen. Auf Sand bauen wir es, wenn die Grundlagen Illusionen sind, etwa die, dass wir alles im Griff haben, dass uns nichts passieren kann. Illusionen sind auch zu große Bilder von uns, beispielsweise, dass wir immer perfekt und erfolgreich und cool sein müssen. Ein solches »Haus« wird bald zusammenbrechen. Es sollte also besser auf Felsen stehen. In der Bibel wird Gott oft als Fels beschrieben. Das meint nicht nur, dass wir unser Haus auf Gott aufbauen sollten, sondern zudem auf feste Grundsätze, die unserem Wesen entsprechen.

Wir können es auch als gemeinsames Haus bauen: das Haus unserer Ehe und Familie. Auch dann stürzt das Haus schnell zusammen, wenn die Grundlage Illusionen sind. Der Eheberater Hans Jellouschek nennt einige solcher Illusionen, die das Haus einer gemeinsamen Ehe leicht zum Einsturz bringen. Da ist etwa die Illusion, in der Ehe würden wir immer Nähe erfahren. Eine Beziehung braucht dagegen Nähe und Distanz. Wer nur die eine Seite erleben will, wird bald erfahren, dass zu große Nähe Aggressionen erzeugt und so das Haus der Ehe zum Einsturz bringt. Eine andere Illusion ist, dass wir in der Ehe immer glücklich sind. Jellouschek meint, die Ehe sei keine Glücksveranstaltung, sondern ein Übungsweg, auf dem wir immer wieder Glück erfahren dürfen. Sowohl das Haus unserer Ehe als auch das Haus unseres Unternehmens oder unserer Institution sollen wir auf felsigen Grund bauen, das sind kluge Maßstäbe. Und letztlich ist Gott selbst beziehungsweise Christus der Fels, auf den wir unser Haus bauen. Jesus versteht seine Worte selbst als den Felsen. Wenn wir uns nach ihnen richten, wird unser Haus alle Stürme und Regengüsse aushalten.

Johannes Chrysostomos deutet die Regengüsse als »die menschlichen Schicksale und Leiden, wie zum Beispiel Verleumdungen, Nachstellungen, Trauer- und Sterbefälle, Verlust des Eigentums, Kränkungen durch andere, überhaupt alles, was man die Unbilden des Lebens nennen kann« (Matthäus-Kommentar, 100f). Als Felsen sieht der Kirchenlehrer die Lehre Jesu: »Seine Satzungen sind ja fester als Gestein und machen, dass man über alle menschlichen Schicksalsschläge erhaben wird« (Matthäus-Kommentar, 101). Er ist der Ansicht, dass Menschen uns nicht wirklich schaden können, denn Jesus hat uns gelehrt, das Eigentum loszulassen. Wir sind also sozusagen schon in der Welt gekreuzigt. So kann uns niemand, der uns etwas Weltliches raubt, schaden. Er meint: »Wer auf einen Diamanten schlägt, verletzt sich eben nur selbst; und wer gegen den Stachel ausschlägt, wird selbst gestochen und schwer verwundet. Ebenso bringt sich selbst in Gefahr, wer den Tugendhaften Nachstellungen bereitet« (Matthäus-Kommentar, 105).

Interessant ist, dass Johannes Chrysostomos im vierten Jahrhundert nach Christus dieses Gleichnis im Dialog mit der stoischen Philosophie deutet. Er interpretiert es von einem Grundsatz aus, den der Philosoph Epiktet etwa 100 nach Christus aufgestellt hat. Die stoische Philosophie könnte man vergleichen mit dem, was heute die Psychologie ist. Ihr geht es darum, wie das Leben gelingen kann. Sie stellt dazu letztlich psychologische Grundsätze auf. Einer lautet: »Keiner kann dich verletzen, außer du selbst«. Zu diesem Grundsatz gehört noch ein weiterer: »Nicht die Menschen verletzen dich, sondern die Dogmata, die Vorstellungen, die du dir vom Menschen machst«. Beide Grundsätze klingen sehr rational. Man darf sie sicher auch nicht verabsolutieren. Aber Chrysostomos scheut sich nicht, diesen Grundsatz christlich zu deuten. Er hat darüber eine ganze Abhandlung geschrieben: »Dass niemand verletzt wird, außer durch sich selbst« (PG 52,459–480). Er möchte in seiner Rede zeigen, »dass kein Opfer Opfer eines anderen ist, sondern sein von ihm selbst verhängtes Geschick erleidet« (PG 52,461). Für ihn liegt die eigentliche Kraft des Menschen in der richtigen Vorstellung, die er sich vom Leben macht, und in der Geradheit und Stimmigkeit seines Lebens. Der Mensch, der die rechte Vorstellung von der Wirklichkeit hat, kann durch äußere Dinge keinen Schaden erleiden. Das zeigt der Kirchenvater am Beispiel Hiobs: Das äußere Unheil konnte ihm nicht schaden, weil er im Glauben an Gott die richtige Vorstellung von der Wahrheit hatte, weil er die richtigen Maßstäbe an die Beurteilung der äußeren Dinge anlegte. An biblischen Geschichten wie der von Joseph, den drei Jünglingen im Feuerofen und von Paulus versucht er zu beweisen, »dass der, der sich selbst nicht verletzt, von keinem anderen verletzt werden kann, auch wenn die ganze Welt einen heftigen Krieg gegen ihn führt« (PG 52,473).

Die Richtigkeit dieser These zeigt er dann am Beispiel der Rede Jesu vom Haus auf dem Felsen. Weder die Regengüsse noch die Fluten können ihm schaden. Wer auf Christus, den Felsen, sein inneres Haus gebaut hat, der kann durch keine Verletzung von außen erschüttert werden. Wer auf Christus sein Haus baut, der baut es auch auf die richtigen Vorstellungen von der Wirklichkeit. Er sieht die Wirklichkeit mit den Augen Jesu. Wer aber aus Unwissenheit, Leichtsinn oder Verdorbenheit sein Haus auf Sand baut, der schadet sich selbst. Nicht der Sturm ist schuld am Einsturz des Hauses, sondern seine eigene Nachlässigkeit und seine falschen Vorstellungen vom Leben und von der Wirklichkeit der menschlichen Seele. Chrysostomos schließt dann seine Betrachtung: »Wer sich selbst nicht verletzt, der geht auch dann, wenn er unendlich viel zu erleiden hat, gestärkt daraus hervor. Wer sich aber selbst verrät, der leidet von selbst (automatoi), er fällt in sich zusammen und geht zugrunde, auch wenn keiner gegen ihn ist« (PG 52,473).

Chrysostomos deutet den Fall des Hauses nicht wie manche Exegeten auf das Schicksal nach dem Tod. Er beschreibt vielmehr, dass die, die ihr Haus auf Sand bauen, schon im Jetzt immer wieder erleben müssen, was Jesus von diesem Haus sagt: »Sein Fall war groß« (Mt 7,27). Denn der, der sich vom Bösen leiten lässt und nicht von den Worten Jesu, muss »ein ganz elendes Leben führen in steter Begleitung von Furcht, Mutlosigkeit, Sorgen und Kämpfen. Das hat auch ein weiser Mann angedeutet mit den Worten: ›Der Gottlose flieht, ohne dass ihn jemand verfolgt‹ (Spr 18,1). Solche Leute zittern vor Schatten, sind voll Argwohn gegen Freunde, Feinde, Diener, Bekannte und Unbekannte, und leiden schon hienieden die schwersten Strafen, noch bevor sie von denen im Jenseits betroffen werden« (Matthäus-Kommentar, 107). Interessant ist, dass er die Menschen, die ihr Haus auf Sand bauen, beinahe aus psychologischer Sicht beschreibt: Sie haben hier schon ein angstbesetztes und unruhiges Leben. Sie spüren, dass es auf keinem guten Fundament steht, und leben ständig in der Angst, dass ihr Haus zusammenfallen könnte.

Mit dieser Deutung des Gleichnisses vom Haus auf dem Felsen interpretiert Chrysostomos zugleich die ganze Bergpredigt. Diese besteht für ihn nicht in erster Linie aus moralischen Folgerungen. Vielmehr beschreibt Jesus in der Bergpredigt die richtigen Vorstellungen, die wir uns vom Leben und von unserem Miteinander machen sollen. Jesus ist der Weisheitslehrer, der uns zeigen möchte, wie Leben gelingt. Für den Kirchenlehrer Chrysostomos besteht kein großer Unterschied zwischen der psychologisch geprägten stoischen Lehre des Epiktet und der Bergpredigt Jesu. Doch die wahre Weisheit liegt in seinen Augen bei Jesus. Jesus stellt nicht nur Forderungen auf. Er beschreibt in vielen Bildern und Beispielen, wie Leben gelingt. Und ein wichtiger Weg, den Jesus in der Bergpredigt aufzeigt, ist, dass wir uns nicht als Opfer von Feinden fühlen sollen, sondern dass wir die Feinde lieben sollen. Dann können sie uns nicht verletzen. Denn nicht der Feind selbst verletzt uns, sondern die Vorstellung, die wir von ihm haben und die er von uns hat. Feindschaft hat immer mit Projektion zu tun: Wir projizieren das auf den anderen, was wir an uns selbst ablehnen. Wenn wir die Projektion auflösen, ist eine gute Beziehung zum vermeintlichen Feind möglich.

Bernd Deininger

Aufruf und Mut zum Leben • Matthäus 12,22–23

An vielen Stellen in der Bibel finden sich Texte, die unmittelbar in die Gegenwart hineinführen. So wird zum Beispiel die Frage erörtert: Wie menschlich und frei darf der Glaube an Gott sein? Ist Gott in der inneren Vorstellung eines Menschen nicht einfach das strafende eigene Über-Ich oder gar eine verinnerlichte Traumatisierung, die viele Menschen in ihrer psychischen Entwicklung erlitten haben? Oder die Angst vor Elterngestalten, die die Möglichkeit zur Entwicklung eines selbstbewussten Menschen behindert haben?

Der Text bedarf einer Auslegung, um die Heilung der Besessenheit, von Blindheit und Stummheit auf dem Hintergrund seelischer Veränderungen sichtbar zu machen. Exemplarisch möchte ich das anhand der Biografie einer Frau zeigen, die nach zwei Suizidversuchen zu mir in Behandlung kam. Sie lebte völlig von der Welt abgeschlossen, pflegte keine sozialen Kontakte und war von tiefem Misstrauen gegenüber anderen Menschen geprägt. Sie erzählte aus ihrer Kindheit und schilderte mir eine Mutter, die häufig Jähzorn­attacken hatte, was zu körperlicher Gewalt ihr gegenüber führte. Der Frau war es nicht möglich, Zusammenhänge zwischen ihrem eigenen Verhalten und den Ausbrüchen ihrer Mutter herzustellen. Die Mutter duldete keine Widerrede, sodass sie zunehmend den Kontakt mit der Mutter aufgab, gleichsam das Reden verlernte. Ganz präsent war ihr die Zeit zwischen ihrem vierten Lebensjahr und der Einschulung: Wenn sie spielte oder etwas tat, was der Mutter nicht gefiel, hatte das Schimpftiraden und Drohungen zur Folge. Sie hatte das Gefühl, dass sie eigentlich nichts mehr tun kann, und verlor das Vertrauen in ihr eigenes Handeln. In der Folge versuchte sie sich immer klein und unsichtbar zu machen, ihr Verhalten zu verändern und herauszufinden, was der Mutter Freude bereiten könnte. Daher tat sie viele Dinge gegen ihren eigenen Willen und entwickelte zunehmend das Gefühl, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war, dass sie einen Fehler hatte, den sie nicht erkennen konnte, und dass dies der Grund war, warum die Mutter so mit ihr umging. Dahinter stand Einsicht, die sich zunehmend in ihrem Inneren breitmachte, dass sie selbst schuld daran trug, dass die Mutter so mit ihr umging.

Mit diesem Grundgefühl, dass in ihr ein verborgener, entsetzlicher Fehler ist, den sie eigentlich selbst finden müsste, wuchs sie heran, und dieses Gefühl begleitete sie bis in ihr Erwachsenenleben hinein. Es entstand bei ihr der Eindruck, dass sie nicht nur alles falsch gemacht hatte, sondern dass sie unberechtigterweise auf der Welt war und dass eigentlich jeder, der etwas an ihr auszusetzen hatte und sie kritisierte, im Recht war. Eigentlich war sie auf der Welt nur störend und nutzlos.

 

Jeder Wille, sich zur Wehr zu setzen und sich selbst zu behaupten, verschwand, und an seine Stelle trat der Wille, sich durch ständiges Entgegenkommen, durch Gefügigkeit und Anpassung das Wohlwollen der anderen zu spüren, um die Angst vor Verurteilung zu vermeiden. Eigenes Wünschen und Wollen gingen völlig verloren. Innerlich entwickelte sich eine immer größere Leere, gepaart mit dem Gefühl von Scham, ohne dass sie benennen konnte, warum dies auftrat. Am Ende stand ein inneres und äußeres Verstummen. Diese Stummheit aus Schuldgefühl und schweren Selbstzweifeln, aus Selbstverachtung und Ohnmacht waren ihre ständigen Begleiter.

Während der Behandlung hörte ich oft Sätze wie: »Ich schäme mich so, dass ich hier bin; ich falle ihnen doch ständig zur Last; ich weiß nicht, worüber ich mit ihnen reden soll; ich habe den Eindruck, dass ich nicht von mir reden kann, weil ich es nicht wert bin, dass sich jemand für mich interessiert«. Mit dieser Stummheit sich selbst gegenüber, begleitet von der eigenen inneren Entwertung, gab es auch eine voranschreitende chronische Blindheit für sich selbst: Das Gefühl, sich selbst nicht mehr sehen zu können und sehen zu wollen, sondern nur so zu leben, dass die Außenwelt zufriedengestellt wird. Die Verschmelzung von Scham und Schuldgefühlen, gepaart mit der inneren Zurückgezogenheit, verdichtete sich zu einem kompletten Unvermögen für eigene Interessen und Wünsche einzutreten. Doch dann kam sie an den Punkt, an dem die psychische Energie erschöpft war, sich der Außenwelt anzupassen. Es machte sich das Empfinden breit, auch die anderen nicht mehr sehen zu können, überhaupt nichts mehr sehen zu wollen, was zu den Suizidversuchen führte. Es ist gut vorstellbar, wie ein Mensch, der das Sprechen von sich selbst verlernt hat, der nicht weiß, welche eigenen Wünsche er hat, dazu gedrängt wird, nicht mehr hinzusehen und sich nur noch auf sich selbst zurückzuziehen oder sich auszulöschen. In dem biblischen Text wird ganz modern dargestellt, dass das Stummsein und die Blindheit nur die Symptome einer Krankheit sind, bei welcher der Mensch sich selbst nicht mehr gehört und den fremden, zerstörenden, dämonischen Mächten ausgeliefert ist, die von ihm Besitz ergriffen haben.

Im weiteren Verlauf der Therapie erzählte mir die Frau, dass ihre Mutter einen Abtreibungsversuch unternommen hatte, der aber misslang. Mit dem Vater lebte sie nur auf Druck ihrer Familie zusammen. So hat die Mutter all ihre Enttäuschungen über ihr eigenes Leben, ihren Hass auf ihre Familie, die sie in die Ehe zwang, und ihren Hass auf ihren Mann, der ihr das Leben, das sie hätte leben wollen, versperrt hatte, auf ihre Tochter übertragen und ihr damit jede Möglichkeit der eigenen Selbstwerdung genommen.

Neben der Erfahrung der eigenen Nichtigkeit und Wertlosigkeit, die aus tiefenpsychologischer Sicht für das Erblinden und Verstummen verantwortlich sind, gibt es aber auch noch eine andere Sichtweise, die uns der biblische Text nahebringt. Vielen Menschen sind der Ansicht, dass das Dasein als Ganzes sinnlos und ohne Ziel ist, was nicht nur das eigene Dasein, sondern auch das Dasein aller Dinge infrage stellt. Für diese Menschen gibt es keine Begründung, warum es etwas gibt und nicht nichts, und sie glauben, dass es auf diese Frage keine Antwort gibt. Einige verlieren dann jede Lebensenergie und verstummen. Nun kann es durchaus sein, dass wir als Individuen denken: Ich bin überflüssig und es müsste mich auch nicht geben. Ob es mich gibt oder nicht, ändert am Weltenlauf nichts. Das bedeutet aber nicht, dass ich mich deshalb selbst abschaffen sollte, sondern vielmehr, dass ich mein Dasein, das Dasein aller Dinge, entgegennehmen darf als ein überraschendes Geschenk. Kann ich dann nicht dieses Geschenk annehmen und damit die Dunkelheit und die Finsternis, die mich umgeben, erleuchten und ihnen einen Sinn geben? Es ist sicher so, dass wir als Menschen nichts Eigenes besitzen – das macht schon, dass wir in diese Welt hineingeworfen sind –, aber wir könnten daraus den Schluss ziehen, dass wir dem, der uns in diese Welt geworfen hat, alles verdanken und er uns alles geben will, weil er uns akzeptiert.

Selbsthass oder Dankbarkeit, Angst oder Vertrauen, das ist eine Wahl, die ich treffen kann. Zerfällt die Welt in Sinnloses oder Sinnvolles, in ein Schweigen des Nichts oder in ein Schweigen des Seins. Ich kann eine Entscheidung treffen, ob ich das Geschenk Gottes annehme oder erblinde im Schatten der Leere und der Nichtigkeit aller Dinge.

Im biblischen Text werden uns hierzu die Augen ein Stück weit geöffnet. Er ermutigt uns zu einer bedingungslosen Bejahung im Sinn von Dankbarkeit und Vertrauen, hinter der das sichtbar und ansprechbar wird, was in der Sprache der Religion Gott heißt. Um nicht in die Sinnlosigkeit des Daseins hineinzufallen, spricht die Bibel von Gott als unserer letzten endgültigen großen Bejahung. Die Möglichkeit, sich dem anzuvertrauen, besteht für uns alle, unabhängig, ob wir mit schweren psychischen Defiziten aufgrund unserer fehlgeleiteten frühkindlichen Entwicklung beladen sind oder nicht. Eine tiefenpsychologische Auseinandersetzung mit unserem eigenen Lebensschicksal, die auch das Geschenk unserer eigenen Existenz beinhaltet, kann sich als machtvoll über Blindheit und Stummheit erweisen.