Erzählungen aus 1001 Nacht - 1. Band

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Erzählungen aus 1001 Nacht - 1. Band
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Anonym

Erzählungen aus 1001 Nacht

1. Band

Impressum

Texte: © Copyright by Anonym

Umschlag: © Copyright by Gunter Pirntke

Verlag:

Das historische Buch, Dresden / Brokatbookverlag

Gunter Pirntke

Mühlsdorfer Weg 25

01257 Dresden

gunter.50@gmx.net

Inhalt

Impressum

Einleitung

Erste bis einunddreißigste Nacht

Die Erzählung von dem Ochsen und dem Esel

Die Erzählung von dem Kaufmann und dem Dschinni

Die Geschichte des ersten Schaykhs

Die Geschichte des zweiten Schaykhs

Die Geschichte des dritten Schaykhs

Die Geschichte von dem Fischer und dem Dschinni

Die Geschichte von dem Vezier und dem weisen Duban

Die Geschichte vom König Sindibad und seinem Falken

Die Geschichte von dem Ehemann und dem Papageien

Die Geschichte von dem Prinzen und der Ghulah

Die Geschichte des versteinerten Prinzen

Die Geschichte des Lastträgers und der drei Damen von Bagdad

Die Geschichte des ersten Bettelmönches

Die Geschichte des zweiten Bettel-Mönches

Die Geschichte vom Neider und vom Beneideten

Die Geschichte des dritten Bettelmönches

Die Geschichte des ältesten Mädchens

Die Geschichte der Pförtnerin

Die Geschichte von den drei Äpfeln

Die Geschichte nur al-Din Alis und seines Sohnes Badr al-Din Hassan

Die Geschichte des Buckligen

Die Geschichte des christlichen Mäklers

Die Geschichte des Verwalters

Die Geschichte des jüdischen Arztes

Die Geschichte des Schneiders

Einleitung

Wir hatten dieses Buch in Händen, da wir Knaben waren; und da wir zwanzig waren, und meinten weit zu sein von der Kinderzeit, nahmen wir es wieder in die Hand, und wieder hielt es uns, wie sehr hielt es uns wieder! In der Jugend unseres Herzens, in der Einsamkeit unserer Seele fanden wir uns in einer sehr großen Stadt, die geheimnisvoll und drohend und verlockend war, wie Bagdad und Basra. Die Lockungen und die Drohungen waren seltsam vermischt; uns war unheimlich zu Herzen und sehnsüchtig; uns grauste vor innerer Einsamkeit, vor Verlorenheit, und doch trieb ein Mut und ein Verlangen uns vorwärts und trieb uns einen labyrinthischen Weg, immer zwischen Gesichtern, zwischen Möglichkeiten, Reichtümern, Düften, halbverhüllten Mienen, halboffnen Türen, kupplerischen und bösen Blicken in dem ungeheueren Basar, der uns umgab: wie glichen wir diesen weit von der Heimat verirrten Prinzen, diesen Kaufmannssöhnen, deren Vater gestorben ist, und die sich den Verführungen des Lebens preisgeben, wie meinten wir ihnen zu gleichen! Gleich einer magischen Tafel, worauf eingelegte Edelsteine, wie Augen glühend, wunderliche und unheimliche Figuren bilden, so brannte das Buch in unseren Händen: wie die lebendigen Zeichen dieser Schicksale verschlungen ineinander spielten, tat sich in unserem Inneren ein Abgrund von Gestalten und Ahnungen, von Sehnsucht und Wollust auf. Nun sind wir Männer, und dieses Buch kommt uns zum drittenmal entgegen, und nun sollen wir's erst wirklich besitzen. Was uns früher vor Augen gekommen ist, waren Bearbeitungen und Nacherzählungen; und wer kann ein poetisches Ganzes bearbeiten, ohne seine eigentümlichste Schönheit, seine tiefste Kraft zu zerstören? Das eigentliche Abenteuer freilich ist unverwüstlich, und bewahrt, nacherzählt und wiederum nacherzählt, seine Kraft; aber hier sind nicht bloß Abenteuer und Begebenheiten, hier ist eine poetische Welt, – und wie wäre uns, wenn wir den Homer nur aus der Nacherzählung seiner Abenteuer kennten? Hier ist ein Gedicht, woran freilich mehr als einer gedichtet hat; aber es ist wie aus einer Seele heraus, es ist ein Ganzes, es ist eine Welt durchaus. Und was für eine Welt! Der Homer möchte in manchen Augenblicken daneben farblos und unnaiv erscheinen. Hier ist Buntheit und Tiefsinn, Überschwang der Phantasie und schneidende Weltweisheit; hier sind unendliche Begebenheiten, Träume, Weisheitsreden, Schwänke, Unanständigkeiten, Mysterien; hier ist die kühnste Geistigkeit und die vollkommenste Sinnlichkeit in eins verwoben. Es ist kein Sinn in uns, der sich nicht regen müßte, vom obersten bis zum tiefsten; alles was in uns ist, wird hier belebt und zum Genießen aufgerufen.

Es sind Märchen über Märchen, und sie gehen bis ans Fratzenhafte, ans Absurde; es sind Abenteuer und Schwänke, und sie gehen bis ins Groteske, ins Gemeine; es sind Wechselreden, geflochten aus Rätseln und Parabeln, aus Gleichnissen, bis ins Ermüdende: aber in der Luft dieses Ganzen ist das Fratzenhafte nicht fratzenhaft, das Unzüchtige nicht gemein, das Breite nicht ermüdend, und das Ganze ist nichts als wundervoll: eine unvergleichliche, eine vollkommene, eine erhabene Sinnlichkeit hält das Ganze zusammen.

Wirklich, wir kannten nichts, da wir nur die Begebenheiten aus diesem Buche kannten; sie konnten uns grausig und gespenstig scheinen; es war nur, weil sie aus der Luft ihres Lebens gerissen waren. In diesem Buche ist kein Platz für Grausen: das ungeheuerste Leben erfüllt es durch und durch. Die ungeheuerste Sinnlichkeit ist hier Element. Sie ist in diesem Gedicht, was das Licht in den Bildern von Rembrandt, was die Farbe auf den Tafeln Tizians ist. Wäre sie irgendwo eingeschränkt und durchbräche an einzelnen Stellen diese Schranken, so könnte sie beleidigen; da sie ohne Schranken dies Ganze, diese Welt durchflutet, ist sie eine Offenbarung.

Wir bewegen uns aus der höchsten in die niedrigste Welt, vom Kalifen zum Barbier, vom armseligen Fischer zum fürstlichen Kaufherrn, und es ist eine Menschlichkeit, die uns umgibt, mit breiter, leichter Woge uns hebt und trägt; wir sind unter Geistern, unter Zauberern, unter Dämonen und fühlen uns wiederum zu Hause. Eine nie hinfällige Gegenständlichkeit malt uns die herrlich mit Fliesen belegte Halle, malt uns den Springbrunnen, malt uns den von Ungeziefer wimmelnden Kopf einer alten Räubermutter; stellt den Tisch hin, deckt ihn mit schönen Schüsseln, tiefen Gefäßen, läßt uns die Speisen riechen, die fetten, die gewürzten und die süßen, und die in Schnee gekühlten Tränke aus Granatkernen, aus geschälten Mandeln, stark mit Zucker und duftendem Gewürz angesetzt, stellt mit der gleichen Lust uns den Buckel des Buckligen hin und die Scheußlichkeit böser alter Männer mit geiferndem Munde und schielenden Augen; läßt den Eseltreiber reden und den Esel, den verzauberten Hund und das eherne Standbild eines toten Königs, jeden voll Sinn, voll Weisheit, voll Wahrheit; malt mit der gleichen Gelassenheit, nein, mit dem gleichen ungeheueren Behagen das Packzeug eines abgetriebenen Esels, den Prachtzug eines Emirs, und von Gebärde zu Gebärde, schrankenlos, die erotische Pantomime der Liebenden, die nach tausend Abenteuern endlich ein erleuchtetes, starkduftendes Gemach vereinigt.

Wer möchte versuchen, ein durchaus wundervolles Gewebe, wie dieses, aufzutrennen? Und dennoch fühlen wir uns verlockt, dem Kunstmittel nachzuspüren, welches an tausend Stellen angewandt sein muß, daß eine so ungeheuere Masse des Stoffes, mit der äußersten Realität behandelt, uns mit ihrer Wucht nicht beklemme, ja auf die Dauer unerträglich werde. Und das Gegenteil trifft ein: je länger wir lesen, desto schöner geben wir dieser Welt uns hin, verlieren uns im Medium der unfaßlichsten, naivsten Poesie und besitzen uns erst recht; wie wer in einem schönen Wasser badend seine Schwere verliert, das Gefühl seines Leibes aber als ein genießendes, zauberisches, erst recht gewahr wird. Dies führt uns in die innerste Natur orientalischer Poesie, ja ins geheime Weben der Sprache, denn dies Geheimnisvolle, das uns beim höchsten gehäuften Lebensanschein von jeder Beklemmung, jeder Niedrigkeit entlastet, ist das tiefste Element morgenländischer Sprache und Dichtung zugleich: daß in ihr alles Trope ist, alles mehrfach deutbar, alles Ableitung aus uralten Wurzeln, alles schwebend. Die erste Wurzel ist sinnlich, primitiv, konzis, gewaltig; in leisen Überleitungen gehts von ihr weg zu neuen verwandten, kaum mehr verwandten Bedeutungen; aber auch in der entferntesten ›tönt noch etwas nach vom Urklang des Wortes‹, schattet noch wie in einem trüben Spiegel das Bild der ersten Empfindung. Von diesem ihrem Wesen sehen wir die Sprache und die Poesie – – auf dieser Stufe sind sie eins – hier den unbewußtesten und unbegrenztesten Gebrauch machen. In einer schrankenlosen Gegenständlichkeit der Schilderung scheint die Materie überwuchtend auf uns einzudringen: aber was uns so nahe kommt, daß es uns beleidigen könnte, wofern es nur auf den nächsten Wortsinn beschränkt wäre, löst sich vermöge der Vieldeutigkeit des Ausdrucks in einen Zaubernebel auf, daß wir hinter dem nächsten Sinn einen anderen ahnen, von dem jener übertragen ist; den eigentlichen, ersten verlieren wir deswegen nicht aus dem Auge; aber wo er gemein war, verliert er sein Gemeines, und oft bleiben wir mit dem aufnehmenden Gefühl in der Schwebe zwischen dem, was er versinnlicht, und einem höheren dahinter, das bis zum Großartigen, zum Erhabenen uns blitzschnell hinleitet. Ich meine es einfach und möchte verstanden werden. Aber da ich von einer Trope, von einer übertragenen Bedeutung rede, so wird der Verstand des Lesers seine angewohnte Bahn gehen, und nicht dorthin, wo ich ihn haben will, und wird an einen transzendentalen Sinn, eine verborgene höhere Bedeutung denken, wo ich ein weit minder künstliches und weit schöneres, das ganze Gewebe dieser Dichtungen durchsetzendes Phänomen aufzeigen möchte: diese Sprache – und es ist die Sache einer vortrefflichen Übersetzung, daß wir durch sie hindurch die Nacktheit der Originalsprache müssen spüren können wie den Leib einer Tänzerin durch ihr Gewand – diese Sprache ist nicht zur Begrifflichkeit abgeschliffen; ihre Bewegungsworte, ihre Gegenstandsworte sind Urworte, gebildet, ein grandioses, patriarchalisches Leben, ein nomadisches Tun und Treiben, lauter sinnliche, gewaltige, von jeder Gemeinheit freie, reine Zustände sinnlich und naiv, unbekümmert und kraftvoll hinzustellen. Von einem solchen urtümlichen Weltzustand sind wir hier weit entfernt, und Bagdad und Basra sind nicht die Gezelte der Patriarchen. Aber noch ist die Entfernung keine solche, daß nicht eine unverwüstete, von Anschauung strotzende Sprache diesen modernen Zustand an jenen uralten tausendfach zu knüpfen vermöchte. Um eine laszive Gebärde, einen frechen Griff nach der Schüssel, ein gieriges Fressen und Hinunterschlingen köstlicher Speisen, eine brutale Züchtigung, eine fast tierische Regung von Furcht oder Gier nur bloß auszudrücken, sind ihr keine anderen als jene Urworte und Wendungen zur Verfügung, an denen immer etwas Großartiges hängt, etwas Ehrfurchtgebietendes und Naives, etwas von geheiligter Natur, grandiosen Zuständen, ewiger Reinheit. Es ist keine Ausschmückung gewollt, keine Hindeutung auf Höheres, kein Gleichnis; kein anderes Gleichnis zumindest, als eines, das dienen solle, das Sinnliche noch sinnlicher, das Lebendige noch lebhafter zu malen: es wird nicht der Mund groß aufgetan, um eine höhere Welt herbeizurufen, es ist nur wie ein Atmen durch die Poren, aber wir atmen durch die Poren dieser naiv poetischen Sprache die Luft einer uraltheiligen Welt, die von Engeln und Dämonen durchschwebt wird und in der die Tiere des Waldes und der Wüste ehrwürdig sind wie Erzväter und Könige. So wird das Gemeine, die schamlose Einzelheit, ja das Schimpfwort nicht selten ein Fenster, durch das wir in eine geheimnisvoll erleuchtete Ahnenwelt, ja in noch höhere Geheimnisse hineinzublicken meinen.

 

Sehen wir so die grenzenlose Sinnlichkeit von innen her mit eigenem Lichte sich erleuchten, so ist zugleich dies Ganze mit einer poetischen Geistigkeit durchwoben, an der wir mit dem lebhaftesten Entzücken vom ersten Gewahrwerden zum vollen Begriff uns steigern. Eine Ahnung, eine Gegenwart Gottes liegt auf allen diesen sinnlichen Dingen, die unbeschreiblich ist. Es ist über dieser Wirrnis von Menschlichem, Tierischem und Dämonischem immer das strahlende Sonnenzelt ausgespannt oder der heilige Sternenhimmel. Und wie ein sanfter, reiner, großer Wind wehen die ewigen, einfachen, heiligen Gefühle, Gastlichkeit, Frömmigkeit, Liebestreue durch das Ganze hin. Da ist, um von tausend Seiten eine aufzuschlagen, in der Geschichte von Alischar und der treuen Summurud, ein Augenblick, den ich nicht für irgendeine erhabene Stelle unserer ehrwürdigsten Bücher tauschen möchte. Und es ist fast nichts. Der Liebende will seine Geliebte befreien, die ein böser alter Geist ihm gestohlen hat. Er hat das Haus ausgekundschaftet, er ist um Mitternacht unter dem Fenster, ein Zeichen ist verabredet, er soll es nur geben, doch muß er noch eine kurze Frist warten. Da überfällt ihn so ungelegen, als unwiderstehlich, als hätte das Geschick aus dem Dunkel ihn lähmend angehaucht, ein bleierner Schlaf. ›Sitzend im Dunkel der Mauer, unter dem Fenster,‹ heißt es, ›schlief er ein. Ruhm und Preis dem, den niemals Schlummer befällt.‹ Ich weiß nicht, welchen Zug aus Homer oder Dante ich neben diese Zeilen stellen möchte: so aus dem Nichts in ein wirres Abenteuer hinein das Gefühl Gottes aufgehen zu lassen wie den Mond, wenn er über den Rand des Himmels heraufkommt! Was aber wäre von den Weisheitsreden der Vögel und anderen Tiere zu sagen, von den tiefsinnigen Antworten der wunderbaren Jungfrauen, von den ans Herz gehenden Sprüchen und Wahrheiten, die sterbende Väter und alte weise Könige ins Ohr der jungen Menschen träufen, und von den unerschöpflichen Wechselreden, mit denen die Liebenden ihr Glück und die Last ihres Entzückens gleichsam von sich entfernen, über sich hinausheben, dem Dasein zurückgeben. Und wie sie ihr Glück über sich heben, indem sie es in den Worten der Dichter, in den Worten heiliger Bücher aussprechen, so hebt der Knabe seine Schüchternheit, der Bettler seine Armut, der Durstende seinen Durst über sich hinaus. Indem die frommen, reinen Worte der Dichter in jedem Munde sind, wie die Luft, an der jeder Anteil hat, ist von allen Dingen die Niedrigkeit genommen; über Tausenden verflochtener Geschicke schwebt rein und frei ihr Ewiges, in ewig schönen, unvergänglichen Worten ausgesprochen. Diese Abenteuer, deren ganzer Inhalt ein höchst irdisches Trachten ist, ein verworrenes Leiden und ein unbedingtes Genießen, scheinen nur um der erhabenen, über ihnen schwebenden Gedichte willen da – aber was wären diese Gedichte, was wären sie uns, wenn sie nicht aus einer Lebenswelt hervorstiegen?

Unvergleichlich ist diese Lebenswelt, und durchsetzt von einer unendlichen Heiterkeit, einer leidenschaftlichen, kindlichen, unauslöschlichen Heiterkeit, die alles durcheinanderschlingt, alles zueinanderbringt, den Kalifen zum armen Fischer, den Dämon zum Hökerweib, die Schönste der Schönen zum buckligen Bettler, Leib zu Leib und Seele zu Seele. Wo hatten wir unsere Augen, da wir dies Buch ein Labyrinth und voll Unheimlichkeit fanden! Es ist unsäglich fröhlich. Noch das böse Tuen, das böse Geschehen umgaukelt es mit unendlicher Heiterkeit. Der Liebende will seine Geliebte befreien; er ist um Mitternacht unter den Fenstern; sie, im Dunkeln, harrt seines Zeichens, da überfällt ihn ein bleierner Schlaf. Ein riesenhafter Kurde, der grausamste, schändlichste Räuber von vierzig, gerät in die Straße, sieht den Schlafenden, erlauscht die Harrende; er klatscht aufs Geratewohl in die Hände, die schöne Summurud läßt sich auf seine Schultern hinab, und er galoppiert dahin, die schöne leichte Last tragend, als wäre es nichts. Sie wundert sich seiner Kraft. ›Ist dies Alischar?‹ fragt sie sich, ›der da unter mir hintrabt, unermüdlicher als ein junger Gaul? Kann dies mein Liebster sein, der mir schrieb, er wäre vor Gram und Sehnsucht nach mir abgezehrt und matt, nahe am Tod?‹ Und er galoppiert dahin, und sie wird ängstlicher, und da er ihr nicht antwortet, fährt sie ihm mit der Hand ins Gesicht: ›da war es das Gesicht des greulichen Kurden, rauh und stachlig, es war anzufühlen wie die Schnauze eines Schweines, das in seiner Gier ein Huhn lebendig verschluckt hat, und die Schwanzfedern stehen ihm zum Halse heraus.‹ Es ist frevelhaft, das einzelne so herauszureißen – aber diese Situation, diese Erwägung, dies Nachdenken der Schönen, während sie durch die Nacht hinsaust auf den Schultern des wüsten Räubers, dieser Augenblick der Entdeckung und dies unglaubliche Gleichnis, das uns mit eins in den hellen Tag, ins Gehöfte hinausweist und das man nicht vergißt – ich weiß nicht, wo ähnliches zu finden wäre, außer dann und wann an den heitersten, naivsten, frechsten Stellen der Komödien des bezaubernden Lope de Vega. Wo hatten wir unsere Sinne, als wir dies Buch unheimlich fanden! Es ist ein Irrgarten, aber ein Irrgarten der Lust. Es ist ein Buch, das ein Gefängnis zum kurzweiligen Aufenthalt machen könnte. Es ist, was Stendhal davon sagte: Es ist das Buch, das man immer wieder völlig sollte vergessen können, um es mit erneuter Lust immer wieder zu lesen.

Hugo von Hofmannsthal

Erste bis einunddreißigste Nacht

Im Namen Allahs des Erbarmenden Erbarmungsreichen!

Preis sei Allah – Dem wohltätigen König – Dem Schöpfer des Alls – Dem Herrn der drei Welten – Der die Himmelsfeste errichtete ohne Pfeiler – Und hinbreitete die Erde als wie ein Bett – Und Dank und Segnung des Gebetes unserem Herrn Mohammed – Dem Meister der apostolischen Menschen – Und all den seinen und seinem Anhang – Gebet und dauernde Segnung und Dank, der Bleiben soll bis zum Tage des Gerichtes – Amen! O Du der drei Welten Herrscher!

Und immerdar. Wahrlich, die Worte und Werke derer, die vor uns dahingegangen sind, wurden Beispiel und Richtschnur für Menschen unserer heutigen Tage, auf daß sie sehen, welche belehrenden Geschicke anderen auferlegt wurden, und sie sich als Warnung dienen lassen; und damit sie die Annalen alter Völker lesen und alles, was ihnen zufiel, und sich danach richten und sich im Zaume halten: Preis also ihm, der die Geschichten der Vergangenheit zu einer Warnung machte der Gegenwart! Von solchen Beispielen nun handeln die Erzählungen, die da heißen »Tausend Nächte und eine Nacht«, mitsamt ihren weit berühmten Legenden und Wundern.

Darinnen wird berichtet (Allah aber ist Allwisser Seiner verborgenen Dinge und Allherrscher und Allgeehrt und Allgebend und Allgnädig und Allbarmherzig!), wie in alten Zeiten und längstverschollenen Vergangenheiten ein König der Könige der Banu Sasan auf den Inseln von Indien und China lebte, ein Herr der Heere und Wachen und Diener und Krieger. Er hinterließ nur zwei Söhne, den einen in der Blüte des Mannesalters, den anderen aber als Jüngling; doch waren sie beide ritterliche Helden, wenn auch der ältere ein beherzterer Reiter war als der jüngere. Und also erbte er den Thron; und er beherrschte das Land und herrschte mit so strenger Gerechtigkeit, daß ihn alle Völker seiner Hauptstadt und seines Königreiches liebten. Sein Name war König Schahryar, und er machte seinen jüngeren Bruder, Schah Zaman, zum König von Samarkand im Berberland. Die beiden blieben immer ein jeder in seinem Reiche, und stets wurde in ihren Ländern dem Gesetz die Ehre gegeben; und jeder beherrschte sein eigenes Königreich, gerecht und billig gegen seine Untertanen, in äußerster Freude und Tröstlichkeit; und dieser Zustand dauerte ununterbrochen etliche zwanzig Jahre. Aber als diese Zeit verflossen war, sehnte der ältere König sich nach dem Anblick seines jüngeren Bruders, und er fühlte, daß er ihn noch einmal sehen müsse. So beriet er sich mit seinem Vezier über einen Besuch bei ihm; da aber dieser seinen Plan unrätlich fand, so empfahl er, daß ein Brief geschrieben und dem jüngeren Bruder durch seine, des Veziers Hand ein Geschenk übersandt würde, mit der Einladung, den älteren zu besuchen. Und als der König diesen Rat angenommen hatte, befahl er alsbald, schöne Gaben zu bereiten: Pferde mit Sätteln aus edelsteinbesetztem Golde, Mamelucken oder weiße Sklaven, herrliche Mägde, hochbrüstige Jungfrauen und prachtvolle, kostbare Stoffe. Dann schrieb er einen Brief an Schah Zaman, darin er seiner warmen Liebe und seiner großen Sehnsucht, ihn zu sehen, Ausdruck gab, und der mit diesen Worten schloß: »Wir hoffen also von der Gunst und Güte unseres geliebten Bruders, daß er sich herablasse und sich aufmache, das Gesicht zu uns zu wenden. Sodann haben wir unseren Vezier gesandt, um alle Anordnungen für den Marsch zu treffen, und unser alleinziger Wunsch ist, dich zu sehen, ehe wir sterben. Wenn du aber zögerst oder uns enttäuschest, so werden wir den Schlag nicht überleben. Und jetzt sei Friede mit dir!« Dann befahl König Schahryar, nachdem er die Botschaft versiegelt und übergeben hatte, dem Vezier, das Kleid zu schürzen und alle Kraft zusammenzunehmen und eilends zu reisen und wiederzukehren. »Hören ist gehorchen,« sprach der Vezier, und unverweilt machte er sich bereit, lud seine Lasten und rüstete alles, dessen er bedurfte. Das nahm drei Tage in Anspruch; im Grauen des vierten verabschiedete er sich von seinem König und zog aus, über Wüste und Hügel, steinige Öden und heitere Weiden, ohne Halt bei Tag oder Nacht. Aber so oft er ein Reich betrat, dessen Herrscher seinem Herrn gehorchte, und wo er begrüßt wurde mit reichen Gaben an Gold und Silber und allerlei seltenen und schönen Geschenken, hielt er sich drei Tage auf, die Zeit der Gastpflicht; und wenn er am vierten weiterzog, so wurde er während eines ganzen Tages ehrenvoll geleitet. Sobald jedoch der Vezier sich Schah Zamans Hof in Samarkand zu nähern begann, entsandte er einen seiner hohen Würdenträger, damit er vor den König trete und seine Ankunft vermelde; und indem der Abgesandte zwischen seinen Händen den Boden küßte, richtete er seine Botschaft aus. Hierauf befahl der König mehreren der Großen und Herren seines Reiches, dem Vezier seines Bruders eine ganze Tagereise entgegenzuziehen; und als sie es getan hatten, grüßten sie ihn voll Ehrfurcht, wünschten ihm alles Wohlergehen und bildeten ein Geleit und einen Prunkzug. Als er die Stadt betrat, zog er geraden Weges zum Palast, wo er vor den König trat; und nachdem er den Boden geküßt und für des Königs Gesundheit und Glück und um Sieg über all seine Feinde gebetet hatte, sagte er ihm, sein Bruder sehne sich nach seinem Anblick und bitte ihn um das Vergnügen seines Besuches. Dann überreichte er den Brief, den Schah Zaman ihm aus der Hand nahm und las; er enthielt mancherlei Andeutungen, die Überlegung erforderten; doch als der König seinen Inhalt ganz begriffen hatte, sagte er: »Ich höre und gehorche den Befehlen des geliebten Bruders!« und er fügte für den Vezier hinzu: »Aber wir wollen erst nach dem dritten Tage der Gastfreundschaft aufbrechen.« Dem Vezier wies er im Palast ein Gemach an, wie es sich für ihn gebührte; für die Krieger schlug er Zelte auf und versah sie mit allem Nötigen an Fleisch und Trank und anderer Notdurft. Am vierten Tage machte er sich bereit zur Reise, häufte prunkvolle Geschenke, wie sie sich für seines älteren Bruders Majestät geziemten, und ernannte seinen Vezier zum Vizekönig des Landes. Dann ließ er seine Zelte und Kamele und Maultiere hinausführen und lagerte sich mit ihren Ballen und Lasten, Knechten und Wachen im Angesicht der Stadt, bereit, am nächsten Morgen nach seines Bruders Hauptstadt aufzubrechen. Als aber die Nacht halb vorüber war, fiel ihm ein, daß er in seinem Palast etwas vergessen hatte, und er kehrte heimlich zurück und trat in seine Gemächer und fand dort die Königin, sein Weib, auf seinem eigenen Teppichbett schlafend, wie sie mit beiden Armen einen schwarzen Koch von ekelhafter Erscheinung, beschmiert mit Küchenfett und Schmutz, umschlungen hielt. Als er das sah, wurde ihm die Welt vor seinen Augen schwarz, und er sagte: »Wenn solche Dinge geschehen, während ich noch vor der Stadt bin, wie wird da erst während meines langen Aufenthalts am Hofe meines Bruders das Gebaren dieses feilen Weibes sein?« Und er zog seinen Säbel und hieb die beiden mit einem einzigen Schlage in vier Stücke, ließ sie auf dem Teppich liegen und kehrte schleunig in sein Lager zurück, ohne jemandem von dem Geschehenen zu sprechen. Dann gab er Befehl, sofort aufzubrechen, und begann seine Reise, aber er konnte den Gedanken an seines Weibes Verrat nicht bannen, und immer wieder sagte er zu sich selber: »Wie konnte sie mir dies antun? Wie konnte sie an ihrem eigenen Verderben wirken?« bis ihn übermäßiger Gram anfaßte, bis er gelb ward, sein Körper schwach und ihm eine gefährliche Krankheit drohte, wie sie die Menschen zum Tode führt. Deshalb verkürzte der Vezier die Tagesmärsche und verweilte lange bei den Wasserplätzen und tat sein Bestes, um den König zu trösten.

 

Als nun Schah Zaman der Hauptstadt seines Bruders nahe kam, entsandte er Vorläufer und Boten froher Nachricht, um seine Ankunft zu verkünden, und Schahryar zog ihm mit den Vezieren und Emiren und Herren und Großen seines Reiches entgegen und begrüßte ihn und freute sich in übermäßiger Freude und ließ die Stadt zu seinen Ehren schmücken. Doch als die Brüder sich gegenüber standen, konnte der ältere nicht anders, als die Veränderung im Aussehen des jüngeren zu bemerken, und er fragte ihn, und der erwiderte: »Das kommt von den Mühen der Reise, und ich bedarf der Pflege, denn ich habe vom Wechsel des Wassers und der Luft gelitten! Aber Allah sei gepriesen, daß er mich mit einem so teuren und ausgezeichneten Bruder wieder vereinigt!« Auf diese Weise bewahrte er sein Geheimnis und fügte hinzu: »O König der Zeit und Kalif der Stunde, nur Mühsal und Plage haben mir das Gesicht mit Galle gelb gefärbt und mir die Augen in den Kopf versenkt.« Dann zogen beide mit allen Ehren in die Hauptstadt ein; und der ältere Bruder gab dem jüngeren Wohnung in einem Palast, der den Lustgarten überragte; und als er ihn nach einer Weile noch unverändert sah, schrieb er sein Leiden der Trennung von seinem Lande und Königreiche zu. Er ließ ihn also seine eigenen Wege gehen und stellte ihm keine Fragen, bis er ihm eines Tages wiederum sagte: »Mein Bruder, ich sehe, du bist noch schwächer am Leibe geworden und gelber an Farbe.« »Mein Bruder,« erwiderte Schah Zaman, »ich trage eine innere Wunde«, aber was er von seinem Weibe gesehen hatte, wollte er ihm auch jetzt noch nicht sagen. Da berief Schahryar Chirurgen und Ärzte und hieß sie seinen Bruder nach den Regeln der Kunst behandeln, und das taten sie einen ganzen Monat lang; aber ihre Scherbetts und Tränke nützten nichts, denn er verweilte immer noch bei seines Weibes Missetat, und statt zu schwinden, wuchs die Verzweiflung, und die Heilkunst versagte völlig. Eines Tages nun sagte sein älterer Bruder zu ihm: »Ich ziehe hinaus auf die Jagd, zu meiner Lust und meinem Zeitvertreib; vielleicht würde das dir das Herz erleichtern.« Schah Zaman aber lehnte ab und sagte: »O mein Bruder, meine Seele sehnt sich nach nichts dergleichen; ich bitte dich um die Gunst, laß mich ruhig an diesem Ort, da meine Krankheit mich völlig in Anspruch nimmt.«

So verbrachte Schah Zaman seine Nacht im Palast, und am nächsten Morgen, als sein Bruder ausgezogen war, verließ er sein Zimmer und setzte sich an eins der Gitterfenster, die den Lustgarten überblickten; und dort blieb er sitzen und dachte mit den traurigsten Gedanken an seines Weibes Verrat, und brennende Seufzer drangen ihm aus der gequälten Brust. Und als er so fortfuhr, da tat sich ein Türchen im Palaste auf, das sorgfältig geheim gehalten wurde, und heraus traten zwanzig Sklavenmädchen mit seines Bruders Weib in ihrer Mitte, das herrlich schön war, ein Wunder an Schönheit und Lieblichkeit, an Ebenmaß und vollkommener Anmut; und sie schritt daher mit der Anmut der Gazelle, wenn sie nach dem kühlenden Strome lechzt. Da zog Schah Zaman sich von dem Fenster zurück, aber er behielt die Schar im Auge, indem er von einem Orte nach ihr ausspähte, an dem man ihn nicht erspähen konnte. Sie gingen unter eben dem Gitter vorüber und dann ein wenig in den Garten hinein, bis sie zu einem Brunnen kamen, der in ein großes Wasserbecken floß; dort zogen sie ihre Kleider ab, und siehe, zehn von ihnen waren Frauen, Nebenfrauen des Königs, und die anderen zehn waren weiße Sklaven. Nun ordneten sie sich alle zu Paaren; aber die Königin, die allein blieb, rief alsbald mit lauter Stimme: »Her zu mir, o mein Herr, Saîd«, und es sprang aus einem der Bäume ein großer, täppischer Mohr mit rollenden Augen, in denen man das Weiße sah, ein wahrhaft scheußlicher Anblick. Er schritt kühn auf sie zu und schlang die Arme um ihren Hals, und sie umschloß ihn ebenso warm; dann küßte er sie und wand seinen Körper um sie, wie ein Knopfloch einen Knopf umschlingt, und warf sie nieder und liebkoste sie. Ebenso aber taten die anderen Sklaven mit den Mädchen, bis alle ihrer Lust genug getan hatten; und sie hörten nicht auf, sich zu küssen und zu umarmen und zu paaren und zu liebkosen, bis der Tag zu sinken begann; da aber standen die Mamelucken vom Busen der Mädchen auf, und der Mohr erhob sich von der Brust der Königin; die Männer nahmen ihre Verkleidung und alles wieder auf (außer dem Neger, der den Baum hinauf floh), kehrten in den Palast zurück und schlössen das Türchen wie zuvor. Als nun Schah Zaman dies Betragen seiner Schwägerin sah, sprach er zu sich selber: »Bei Allah! Mein Unglück ist geringer als dieses! Mein Bruder ist ein größerer König unter den Königen als ich, und doch geht diese Schmach in seinem eigenen Palaste vor sich, und sein Weib ist verliebt in diesen schmutzigsten aller schmutzigen Sklaven. Aber dies zeigt nur, daß sie alle so tun, und daß es keine Frau gibt, die nicht ihren Mann zum Hahnrei macht; und drum den Fluch Allahs auf eine und alle, und auf die Narren, die sich um Stütze an sie lehnen oder die Zügel der Lebensführung in ihre Hände geben.« So legte er seine Melancholie und Verzweiflung, das Bedauern und die Reue ab und linderte seinen Gram, indem er sich diese Worte beständig wiederholte und noch hinzufügte: »Ich bin überzeugt, daß in dieser Welt niemand vor ihrer Schändlichkeit sicher ist!« Als aber die Zeit zum Nachtmahl kam, brachte man ihm die Tische, und er aß mit gierigem Appetit, denn lange hatte er sich der Speise enthalten, da er sich außerstande fühlte, auch die leckerste Schüssel zu berühren. Dann sagte er Allah, dem Allmächtigen, reichen Dank, pries ihn und segnete ihn und verbrachte eine höchst ruhige Nacht, denn es war lange her, seit er die süße Erquickung des Schlafes gekostet hatte. Am nächsten Tage frühstückte er herzhaft, denn Gesundheit und Kraft begannen zurückzukehren, und er war alsbald wieder bei vortrefflichem Befinden.