Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik

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Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik
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Annette Leonhardt, Prof. Dr. habil., seit 1992 Professorin an der Ludwig-Maximilians- Universität München; etliche internationale Forschungsaufenthalte (u. a. Japan, Kanada, Slowakei, Tschechien, Äthiopien und USA); zahlreiche Veröffentlichungen zu verschiedenen Teilgebieten der Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik; 2010 Hear the World Award, 2012 Preis der Pädagogischen Stiftung Cassianeum, 2012 Bundesverdienstkreuz, 2016 Erhalt des Signets „Bayern barrierefrei – Wir sind dabei“ als Anerkennung der wissenschaftlichen Arbeit zur Umsetzung der Barrierefreiheit.

Außerdem im Ernst Reinhardt Verlag erschienen:

Truckenbrodt, T., Leonhardt, A.: Schüler mit Hörschädigung im inklusiven Unterricht.

Praxistipps für Lehrkräfte (2. Aufl. 2016, ISBN 978-3-497-02613-5)

Leonhardt, A. (Hg.): Frühes Hören (2012, ISBN 978-3-497-02288-5)

Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autorin große Sorgfalt darauf verwandt hat, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-ISBN 978-3-8252-5062-1

ISBN 978-3-846-35062-1 (EPUB)

© 2019 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Cover unter Verwendung eines Fotos von © iStock.com/artisteer

Satz: ew print & medien service gmbh, Würzburg

Printed in EU

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Vorwort zur vierten Auflage

Vorwort zur ersten Auflage

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

1 Wer ist hörgeschädigt?

2 Ziel und Gegenstand der Hörgeschädigtenpädagogik

2.1 Pädagogische Kennzeichnung von Gehörlosigkeit, Schwerhörigkeit und Ertaubung

2.2 Ziele der Hörgeschädigtenpädagogik

2.3 Gegenstand der Hörgeschädigtenpädagogik

2.4 Übungsaufgaben zu Kapitel 2

3 Hörschäden im Kindes- und Jugendalter

3.1 Anatomische und physiologische Vorbemerkungen

3.2 Arten und Ausmaß von Hörschäden

3.3 Ursachen

3.4 Häufigkeit

3.5 Übungsaufgaben zu Kapitel 3

4 Beschreibung des Personenkreises

4.1 Schwerhörige

4.2 Gehörlose

4.3 Postlingual schwerhörig gewordene Erwachsene

4.4 Ertaubte

4.5 Cochlea Implantat-Träger

4.6 Einseitig Hörgeschädigte

4.7 Kinder und Jugendliche mit AVWS

4.8 Übungsaufgaben zu Kapitel 4

5 Audiometrische Diagnostik

5.1 Orientierende Hörprüfung

5.2 Audiometrie

5.3 Übungsaufgaben zu Kapitel 5

6 Hörsysteme

6.1 Individuelle Hörgeräte

6.2 Höranlagen

6.3 Übungsaufgaben zu Kapitel 6

7 Cochlea Implantate

7.1 Übungsaufgaben zu Kapitel 7

8 Lautsprache

8.1 Lautsprache in mündlicher Modalität

8.2 Lautsprache in schriftlicher Modalität

8.3 Manualsysteme / Lautsprache in daktyler Modalität

8.4 Übungsaufgaben zu Kapitel 8

9 Gebärdensprache und Gebärdensprachbewegung

9.1 Übungsaufgaben zu Kapitel 9

10 Besondere Bildungs- und Erziehungsaufgaben

10.1 Hörerziehung

10.2 Rhythmisch-musikalische Erziehung / Rhythmik

10.3 Entwicklung von Sprechfertigkeiten

10.4 Visuelle Lautsprachperzeption

10.5 Gebärdenspracherwerb

10.6 Übungsaufgaben zu Kapitel 10

11 Bedeutung und Aufgabenfelder der Frühförderung

11.1 Übungsaufgaben zu Kapitel 11

12 Spezielle Institutionen und Maßnahmen für die Bildung und Erziehung

12.1 Pädagogisch-Audiologische Beratungsstelle

 

12.2 Hausfrühförderung

12.3 Eltern-Kind-Kurse / Elternwochenenden / Familientage

12.4 Kindergarten-/Vorschulerziehung

12.5 Förderzentrum, Förderschwerpunkt Hören

12.6 Berufliche Bildung

12.7 Weitere Institutionen und Maßnahmen

12.8 Übungsaufgaben zu Kapitel 12

13 Bildung und Erziehung in inklusiven Settings

13.1 Inklusiver Kindergarten-/-tagesstättenbesuch

13.2 Inklusive Beschulung

13.3 Übungsaufgaben zu Kapitel 13

14 Jugend- und Erwachsenenalter

14.1 Berufliche Eingliederung, Aus-, Fort- und Weiterbildung

14.2 Erwachsene mit Hörschädigung

14.3 Altersschwerhörige

14.4 Übungsaufgaben zu Kapitel 14

15 Überblick über die Geschichte der Hörgeschädigtenpädagogik

15.1 Erziehung Hörgeschädigter von den Anfängen bis zum Mittelalter

15.2 Hörgeschädigte im Mittelalter

15.3 Aufklärung und Neuzeit: Die Entstehung einer institutionalisierten Bildung Gehörloser

15.4 Konzeptionen und Bewegungen Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts

15.5 Hörgeschädigtenpädagogik im Dritten Reich

15.6 Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart

15.7 Übungsaufgaben zu Kapitel 15

Anhang

Glossar

Literatur

Bildquellennachweis

Fachzeitschriften

Organisationen für Hörgeschädigte

Sachregister

Vorwort zur vierten Auflage

Wenn die vierte Auflage eines Buches erscheint, ist das einerseits erfreulich und andererseits zugleich die Möglichkeit, den Inhalt des Buches zu aktualisieren, damit er zum Zeitpunkt der Drucklegung dem gegenwärtigen Erkenntnisstand entspricht sowie die Gegebenheiten und fachlichen Diskussionen der Zeit widerspiegelt. Die Entwicklungen und Veränderungen im Bereich der Hörgeschädigtenpädagogik sind weiterhin rasant, geprägt werden sie derzeit durch die schulpolitisch angestrebte Umsetzung von schulischer Inklusion.

Die Hörgeschädigtenpädagogik kann dabei nicht nur auf eine lange Tradition als Fach, das sich für Menschen mit Hörschädigung stets über die Lebensspanne zuständig fühlte, sondern auch auf eine solche in der (speziellen) (Aus-)Bildung von Pädagogen, hohe Interdisziplinarität und breite internationale Ausrichtung verweisen.

Entsprechend der Erstkonzeption des vorliegenden Buches, auch wenn es jetzt unter dem neuen Titel „Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik“ erscheint und dadurch eine Erweiterung des Umfangs möglich wurde, setzt die Schrift kein spezielles Wissen voraus und möchte Grundlagen vermitteln. Für Detailwissen wird spezielle, weiterführende Fachliteratur empfohlen. Die gute Akzeptanz der ersten drei Auflagen bestätigt, dass der eingeschlagene Weg richtig war.

Auch bei der vierten Auflage stand Frau Hannelore Raudszus in gewohnter Weise bei der technischen Bearbeitung des Manuskriptes hilfreich zur Seite. Ihr gilt mein besonderer Dank ebenso wie Frau Annika Löffler vom Ernst Reinhardt Verlag, die die Überarbeitung des Manuskriptes mit viel Geduld begleitete.

Meinem Lehrstuhlteam danke ich für die Anregungen und Impulse, die dazu beitrugen, das Manuskript weiterzuentwickeln.

München, im August 2018

Annette Leonhardt

Vorwort zur ersten Auflage

Hildegard Wehler vom Ernst Reinhardt Verlag hatte eine Idee – und ich war begeistert! Meine Begeisterung normalisierte sich, als ich mich im universitären Alltag zwischen Lehre, Forschung, Symposien, Drittmitteleinwerbung und universitärer Selbstverwaltung wiederfand. Dennoch: Die Idee, eine UTB-Reihe „Einführung in die X-Pädagogik“ mit Lehrbuchcharakter für Erstsemester bzw. Studienanfänger herauszugeben, empfand ich als derart sinnvoll, dass ich diese nicht den alltäglichen Aufgaben opfern wollte.

Während es mittlerweile vielfältige, oft sehr spezifische Publikationen zu Teilgebieten der Hörgeschädigtenpädagogik – welche letztendlich für eine vergleichsweise kleine Personengruppe zuständig ist – gibt, ist es für Studienanfänger und ebenso für Personen, die sich kurz über das Fachgebiet informieren wollen, noch immer recht schwierig, auf Literatur zu stoßen, die nicht oder kaum auf Vorwissen aufbaut. Hier besteht ein Mangel! Eine Ausnahme bildet das Buch von Wisotzki: „Grundriß der Hörgeschädigten pädagogik“ (1994). Ergänzend sei noch auf Pöhle: „Grundlagen der Pädagogik Hörbehinderter“ (1994) verwiesen, das jedoch als Studientext der Universität Potsdam keine Verbreitung über den Buchhandel erfährt.

Das vorliegende Buch soll der konzipierten UTB-Reihe gemäß einen Überblick über das Fachgebiet geben. Sein Inhalt konzentriert sich auf Themen, die für die Hörgeschädigtenpädagogik in einer gewandelten Wirklichkeit grundlegend wichtig sind und aktuelle Anforderungen und Herausforderungen für sie darstellen. Es ist der Versuch einer zusammenfassenden Beschreibung, die theoretische Positionen ebenso wie Aspekte der praktischen Arbeit einschließt. Gleichzeitig wird die Absicht verfolgt, das Spezifische in der (sonder-)pädagogischen Arbeit mit Hörgeschädigten zu kennzeichnen. So soll jedem Leser zugleich eine grundlegende Orientierung über die Tätigkeit eines Hörgeschädigtenpädagogen gegeben werden. Durch die neuen Entwicklungen, u. a. im Bereich der Pädoaudiologie, der Cochlea Implantat-Versorgung, der Spracherwerbsforschung und der Linguistik, kristallisieren sich heute neue Aufgabenfelder für die Hörgeschädigtenpädagogen heraus. Sie verlassen mehr und mehr die traditionelle Rolle als Lehrer einer Gehörlosen- und Schwerhörigenschule und finden sich in Bereichen wie der Frühförderung, der mobilen Dienste sowie der vor-, neben- und nachschulischen Betreuung wieder. Auch die Andragogik und die Gerontologie sind Gebiete, die hörgeschädigtenspezifisches Wissen erforderlich machen – sei es in der bisher noch zu sehr vernachlässigten Weiterbildung hörgeschädigter und ertaubter Berufstätiger oder in der Arbeit mit Senioren, die der pädagogischen Unterstützung bedürfen, um die sozialen Folgen ihrer häufig erst im höheren Alter eingetretenen Hörschädigung zu bewältigen und weiterhin ein sinnerfülltes Leben zu führen.

Die Hörgeschädigtenpädagogik befindet sich gegenwärtig (noch immer) – wie keine andere sonderpädagogische Fachrichtung – in einem Spannungsfeld der Meinungen und Auseinandersetzungen, deren Polarisierung sich (optimistisch gesehen) gerade etwas „aufzuweichen“ beginnt. Um dieses Spannungsfeld und die Hintergründe, die dazu geführt haben, verständlicher werden zu lassen, schien es geboten, die historische Entwicklung vergleichsweise umfänglich aufzubereiten. Eine spezifische Diskussion kann jedoch nur im Rahmen von wissenschaftlichen Fachbeiträgen geführt werden, die die Ebene einer „Einführung“ verlassen hat.

Das Bestreben, die Teilaspekte des Fachgebietes möglichst in ihrer Gesamtheit zu erfassen, und andererseits die Notwendigkeit, sich hinsichtlich des Umfanges auf ein vertretbares Maß zu begrenzen, erlauben nicht, auf Detailfragen einzugehen. Hier sei auf ergänzende und fortführende Literatur verwiesen.

Die Entstehung eines Buches bedarf stets der Zusammenarbeit mit Helfern im Hintergrund: Danken möchte ich Frau Hannelore Raudszus. Sie übernahm, wie schon so oft, die schreibtechnische Herstellung des Manuskripts. Ihre Ausdauer und ihre Geduld scheinen stets unerschöpflich. Immer behält sie den Überblick und ist gleichermaßen „Seele und Motor“ unseres gemeinsamen Vorhabens. Frau Cornelia Kapfhammer, wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München, erwies sich als unermüdliche Helferin bei den Literaturrecherchen. Ihr sei herzlich gedankt dafür! Von der Bibliothek für Hör- und Sprachgeschädigtenwesen, Leipzig, möchte ich Frau Leichter, Herrn Müller und Herrn Winkler danken. Ebenso sei Frau Hildegard Wehler vom Verlag für die zuverlässige und so wichtige Verlagsarbeit gedankt. Danken möchte ich ihr aber auch dafür, dass sie mich von Anfang an in die neue UTB-Reihe einbezog. Es war mir eine Freude, hier mitwirken zu können.

München, im August 1999

Annette Leonhardt

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Dieses Lehrbuch soll das notwendige Basiswissen für eine Hörgeschädigtenpädagogik vermitteln. Am Ende jedes Kapitels sind Übungsaufgaben angefügt zur eigenen Lernkontrolle. Ein Glossar ist im Anhang abgedruckt. Zur schnelleren Orientierung wurden in den Randspalten Piktogramme benutzt, die folgende Bedeutung haben:


Definition
Beispiel
Informationsquelle
Übungsaufgaben am Ende der Kapitel

Online-Zusatzmaterial

Die Antworten zu den Übungsaufgaben gibt es unter www.utb-shop.de und www.reinhardt-verlag.de.

1 Wer ist hörgeschädigt?

Hören ist eine Fähigkeit, deren Bedeutung der Mensch mit einem voll funktionsfähigen Gehör fast immer unterschätzt. Spontan macht sich kaum jemand Gedanken darüber, in welchem Maß die Beziehung zwischen Individuum und Umwelt beeinträchtigt wird, wenn das Hören ausfällt oder nur eingeschränkt möglich ist. Je länger man jedoch über eingeschränktes oder ausgefallenes Hören nachdenkt, umso mehr wird die Tragweite bewusst: Der zwischenmenschliche Kontakt erlebt erhebliche Beeinträchtigungen; die Kommunikation mit anderen Menschen kann nicht ungehindert ablaufen.

Für den Normalhörenden ist es in der Regel etwas Selbstverständliches, dass er die Sprache anderer Menschen hören und verstehen kann, dass er sein eigenes Sprechen und Singen zu hören und zu kontrollieren vermag und dass es ihm zu jeder Zeit möglich ist, eine Vielzahl von Klängen und Geräuschen (z. B. Tierlaute, Naturerscheinungen, Warnsignale, Maschinenlärm) wahrzunehmen. Den Wert des Hörens für die Entwicklung eines Menschen erkennt man eigentlich erst dann, wenn die Funktionstüchtigkeit des Hörorgans herabgesetzt oder wenn es gänzlich funktionsuntüchtig ist.

 

Einige Fallbeschreibungen sollen erste Informationen bieten und mögliche Auswirkungen illustrieren. Lassen wir – um eine konkrete Anschauung der Situation zu vermitteln – fünf sehr unterschiedliche Beispiele wirken:


Fallbeschreibung 1: Johannes L., 4;6 Jahre, hochgradig schwerhörig beiderseits

Johannes kam als erstes Kind nach komplikationsloser Schwangerschaft auf die Welt. Er entwickelte sich zunächst außerordentlich gut. Er war gleichaltrigen Kindern in vielen Entwicklungsschritten überlegen, so konnte J. mit 6 Monaten krabbeln und mit 9 Monaten frei laufen. Er war aufgeweckt und freundlich.

Mit ca. 9 Monaten begann er zu lallen und babbelte Silben wie „dadada“. Mit 1;6 Jahren sprach er einige (wenige) Wörter, z. B. Auto, hei (heiß), gah (Kran) oder dada (Papa). Sein Wortschatz vergrößerte sich jedoch nicht. So konnte J. mit knapp 2 Jahren noch immer keine weiteren Wörter sprechen. Da J. sich aber in allen anderen Bereichen gut weiterentwickelte, waren die Eltern zunächst nicht beunruhigt und dachten, wie auch Verwandte und Freunde der Familie, dass er zum Sprechenlernen etwas länger brauche.

Da J. aber auch nicht auf das Zurufen seines Namens reagierte, wurden die Eltern zunehmend verunsichert, und es kam ihnen der Gedanke, dass er vielleicht nicht gut hören könne. Sie stellten J. daraufhin dem Kinderarzt vor, der ihnen zunächst riet, noch ein Vierteljahr abzuwarten und, falls J. dann noch nicht spricht, einen Hörtest machen zu lassen.

Da J. nach diesen 3 Monaten immer noch nicht mehr sprach, überwies der Kinderarzt die Eltern an die für den Wohnort zuständige Universitätsklinik, um dort einen Hörtest und eine BERA (Hirnstammaudiometrie) durchführen zu lassen.

Der Verdacht der Schwerhörigkeit bestätigte sich: J. war beidseitig hochgradig schwerhörig.

J. bekam mit 2;6 Jahren die ersten Hörgeräte. Zeitgleich setzte die Früherziehung mit einer Stunde pro Woche ein. Die Hörgeräte wurden von J. von Anfang an gut akzeptiert; es zeigte sich sehr bald, dass er mit ihnen etwas wahrnehmen kann. Er reagierte auf Zurufe und sprach nach zwei Monaten Wörter nach. Sein Wortschatz begann rasch anzuwachsen.

Im folgenden halben Jahr wurden noch andere Hörgeräte ausprobiert. Die Hörgeräte, die er heute trägt (mit 4;7 Jahren), besitzt er seit dem 3. Lebensjahr.

Mit 3;6 Jahren kam J. in einen Waldorfkindergarten. Seit dieser Zeit wuchs sein Wortschatz rasch an. Er kommt im Kindergarten gut zurecht, kann sich mit den anderen Kindern verständigen und wird von ihnen akzeptiert. Für sein Alter hat er einen vergleichsweise umfänglichen Wortschatz und spricht vollständige Sätze. Seine Aussprache ist oft noch verwaschen, sein Sprachverständnis ist gut.

Die Entwicklungsperspektiven sind gegenwärtig noch offen. Die Eltern hoffen auf einen Besuch der allgemeinen Schule (nach: HörEltern 1998, 7 – 9).


Fallbeschreibung 2: Kristina Sch., hochgradig schwerhörig, an Taubheit grenzend, Studentin des Lehramts an Sonderschulen mit der vertieft studierten Fachrichtung Gehörlosenpädagogik

Sie beschreibt ihr Leben so: „Der Hörverlust ist auf der rechten Seite etwa 95 dB und auf der linken Seite 110 dB. Ich habe nur sehr geringe Hörreste, die ich aber mit meinen HdO-Geräten beiderseits sehr gut verwerten kann.

Als ich ungefähr 9 Monate alt war, bekamen meine Eltern langsam den Verdacht, dass ich nicht hören könne. Sie bemerkten, dass ich immer weniger und monotoner lallte, anstatt in die 2. Lallperiode zu gelangen. Außerdem habe ich immer seelenruhig weitergeschlafen, obwohl in der Nachbarschaft die Kinder sehr laut waren. Daraufhin experimentierten meine Eltern selbst mit mir, ob ich auf Geräusche reagieren würde. Das war sehr schwierig, da ich relativ schnell mit den Augen bin. Da sich ihr Verdacht bestätigte, wurden sie vom Kinderarzt zu einem HNO-Arzt vermittelt. Nach dessen Diagnose, dass ich ,stocktaub’ sei, wurde ich in die Universitätskliniken in Würzburg überwiesen. Dort wurde dann die Diagnose ,hochgradige, an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit’ gestellt. Für meine Eltern war es natürlich ein großer Schock. Dennoch fassten meine Eltern den Entschluss, dass sie mich nicht als Behinderte behandeln wollten, sondern wie ein normales hörendes Kind. So war für sie der wichtigste Grundsatz: ,Wir werden unser Kind so behandeln, als ob es nicht behindert wäre.’ Damit ist gemeint, dass sie mich nicht übermäßig behüten wollten oder mir etwas erlaubten, was sie mir normalerweise nicht erlaubt hätten, und dies nur taten, weil sie Mitleid mit mir hatten, so nach dem Motto: ,Ach, lass das Kind, es kann ja nicht hören.’

Ich war in meinen ersten Lebensjahren ein recht ,wildes’ Kind: Ich rannte oft durch den Garten oder spielte mit meinem Vater. Ich hatte auch viele hörende Spielkameraden. Mein Vater hat mich oft durch die Luft geworfen, auf dem Spielplatz habe ich wie jedes andere Kind herumgetobt. Mir kam damals nie ins Bewusstsein, dass ich nicht normal höre wie die anderen Kinder.

Mit etwa 11 Monaten habe ich mein erstes Hörgerät bekommen: ein Taschengerät. Ich habe es sehr oft getragen. Es ist so zum festen Bestandteil meines Lebens geworden, dass ich mich heute sehr unwohl und hilflos fühle, wenn ich nichts höre.

Zu diesem Zeitpunkt kam ich zur Frühförderung an die Frühförderstelle in Würzburg. So mussten wir regelmäßig nach Würzburg fahren, da wir damals noch in Hofheim in den Haßbergen wohnten.

Wenn ich (etwa mit 2 Jahren) etwas wollte, beispielsweise Limo, dann habe ich es mit einer Geste und einem Gesichtsausdruck ausgedrückt. Meine Mutter hat mir daraufhin Limo gegeben und dabei ,Limo’ gesagt und dabei meine Aufmerksamkeit auf ihren Mund gezogen. Immer wieder hat sie mir die Namen von den verschiedenen Dingen genannt. Immer, wenn ich zu ihr geschaut habe, hat sie mit mir gesprochen, auch wenn ich ,nichts’ hörte. Wenn ich nicht geschaut habe, hat sie nichts gesagt. So lernte ich allmählich das Absehen und mein Restgehör zu verwerten.

Auch hat meine Mutter mich auf diverse Geräusche aufmerksam gemacht, zum Beispiel auf Hammerschläge, wenn mein Opa etwas zusammengebaut hat. Oder auf den Krach der Bohrmaschine, wenn mein Vater ein Loch in die Wand gebohrt hat. Kurze Zeit später nahm ich den Bohrlärm sehr deutlich wahr.

Mit der Zeit habe ich versucht, das, was meine Mutter mir sagte, nachzuahmen. Ein Beispiel: Wir gingen oft spazieren. Immer, wenn meine Mutter uns fertig angezogen hatte, sagte sie: ,Ab die Post’, und wir gingen los. Etwa mit 2 Jahren sagte ich dann etwas, das wie ,abberpod’ klang. Dazu kam, dass ich mit 2 Jahren eine kleine Schwester bekam, die, wie sich später herausstellte, auch eine hochgradige, an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit hat. So bekam ich mit, dass meine Mutter sie genauso behandelte wie mich.

Ich möchte hier betonen, dass ich nichts anderes kannte als das, was mir meine Mutter beibrachte. Es fiel mir nicht auf, dass ich anders sprach als die anderen Kinder oder dass ich das Sprechen anders lernte als andere Kinder. Für mich war dies der ganz normale Alltag.

Zum Sprechenüben benutzten wir auch zu Hause einen Phonator. Einmal haben meine Schwester und ich mit unseren Puppen Sprechunterricht gespielt. Da war ich etwa 4 Jahre alt. Daran erkennt man ganz deutlich, wie sehr diese Geräte und das Sprechenlernen in unser Leben integriert waren, dass wir es als etwas ganz Normales angesehen haben.

Zum Beispiel dachte ich immer, dass Kinder nicht telefonieren können, nur die Erwachsenen, da ich ja keine Kinder telefonieren gesehen habe. Als ich dann ein Kinderlexikon zu meinem 8. Geburtstag bekam, sah ich unter dem Wort ,Telefon’ ein Bild, wie ein Junge mit seinem Vater telefonierte. Da wurde mir klar, dass andere Kinder telefonieren können bzw. später können werden. Ich habe dann meine Mutter gefragt und sie hat es bestätigt. Da war ich schon etwas traurig, und mir wurde meine Hörbehinderung richtig bewusst, vielleicht zum ersten Mal.

Der tägliche Umgang mit der Sprache hat mir sehr viel gebracht, da ich es nicht als ,Du musst’, sondern als etwas Alltägliches empfunden habe. Beim Essen zum Beispiel haben wir oft miteinander gesprochen. Dies war und ist immer noch für meine Eltern und mich das Wichtigste. Meine Mutter kannte mein Wortschatzniveau gut, und so verwendete sie Wörter, die ich kannte, und fügte so nach und nach neue Wörter hinzu. Dabei bewegte sie sich an der obersten Grenze meines Wortschatzes.

Was auch ganz wichtig war, ist, dass wir oft Bilderbücher angesehen haben. Meine Mutter hat mir oft vorgelesen, so sah ich, dass die Geschichten aus den Büchern kamen. Oft waren wir in der Stadtbücherei, um Bilderbücher anzusehen. Hinzu kommt, dass meine Eltern beide sehr gern lesen und so zu Vorbildern für mich wurden. Zuerst waren da die reinen Bilderbücher, dann die Bilderbücher mit Text, dann verschwanden die Bilder allmählich, dann hatte ich Bücher, die noch einige Bilder beinhalteten, zum Beispiel Enid-Blyton-Bücher, schließlich las ich dann auch bilderlose Bücher.

Als ich in die Dr.-Karl-Kroiß-Schule Würzburg kam, besaß ich bereits einen sehr großen Wortschatz, ich konnte auch sprechen, aber sehr verwaschen. Das richtige Artikulieren habe ich dann in der Schule gelernt. Dort wurde lautsprachlich unterrichtet, aber für mich war das nichts Neues und somit auch nicht so anstrengend und mühevoll wie für andere gehörlose Kinder.

Als ich in der Schule lesen lernte, konnte ich meinen riesigen Wortschatz noch besser verwenden. Und ich las gern! Dies hat höchstwahrscheinlich zu einem relativ guten Grammatikverständnis und einer weiteren Verbreiterung meines passiven Wortschatzes beigetragen. Lesen tue ich immer noch sehr gerne. Und ich finde, es hat mir sehr viel gebracht.

Nach der Schule war immer ,Erzählstunde’ beim Mittagessen. So erfuhr meine Mutter auch, wie weit ich in der Schule gekommen bin und hat an dem neu Gelernten angeknüpft, um das Gelernte zu vertiefen.

Wichtig war: Ich wurde ganz normal behandelt und erzogen, als ob ich keine Hörbehinderung hätte, und nebenbei wurde mir im normalen Alltag die Sprache beigebracht, ich kannte also nichts anderes. Ich empfand das Sprechenlernen nicht als ,Du musst’, sondern als etwas ganz Normales, Spielerisches. Die Bücher waren mir bei der Erlernung und Vertiefung der deutschen Sprache und Grammatik eine sehr große Hilfe“ (aus: Schunk 1998, 198ff).

Mit dem Aufkommen des Neugeborenenhörscreenings kommt es zu Veränderungen:


Fallbeschreibung 3: Die Mutter von Matthias, 16 Jahre, im Säuglings-/Kleinkindalter beidseitig mit Cochlea Implantaten versorgt, berichtet:

Matthias erkrankte an seinem ersten Lebenstag an einer Neugeboreneninfektion, die durch eine Therapie mit Antibiotika behandelt wurde. Wahrscheinlich ist durch diese antibiotische Behandlung das Innenohr beidseits geschädigt worden. In der Universitätsklinik W., in der Matthias auf die Welt kam, wurde damals bei allen Neugeborenen bereits eine BERA durchgeführt, obwohl das Neugeborenenhörscreening zu dieser Zeit noch nicht verpflichtend war. Er war in der Untersuchung auffällig, die Verdachtsdiagnose einer hochgradigen Schwerhörigkeit wurde gestellt.

Im Alter von gut vier Monaten fand eine Untersuchung in Narkose statt und die Verdachtsdiagnose bestätigte sich. Matthias war hochgradig schwerhörig, an Taubheit grenzend.

An diesem Tag ging für meinen Mann erst einmal die Welt unter. „Wie wird das mit der Schule, der Ausbildung, dem Studium, der Arbeit, dem Leben für ihn?” Er dachte in ganz anderen Dimensionen als ich. Aber wir hatten viel Glück im ‚Unglück’. Wir waren in der HNO-Universitätsklinik W. sehr gut aufgehoben. Die Vernetzung zur Frühförderstelle für Hörgeschädigte war ausgezeichnet und wir bekamen dort zeitnah einen Termin. Matthias erhielt seine ersten Hörgeräte. Unsere ‚Frühförderin’ war wieder ein Glückstreffer! Sie hat uns vor allem in den ersten Monaten in unserem normalen Umgang mit Matthias bestärkt und Hilfestellungen gegeben. Er hat sich trotz der Hörschädigung zu einem äußerst fröhlichen und aufgeweckten (im wahrsten Sinne des Wortes) Säugling entwickelt. Im Alltag, der Frühförderung und den Hörtests in der Pädaudiologie hat sich dann schon relativ schnell gezeigt, dass er nicht ausreichend von den Hörgeräten profitieren konnte. Wir wurden über die verschiedenen Möglichkeiten, u. a. eine Versorgung mit Cochlea Implantaten (CI) informiert. Für diese Möglichkeit haben wir uns dann relativ schnell entschieden. Im Alter von gut acht Monaten erhielt Matthias sein erstes CI, was damals noch eher ungewöhnlich war. Die nächsten sechs Wochen waren geprägt von erwartungsvoller Unruhe, dann war der große Tag der Erstanpassung des Sprachprozessors gekommen: der ‚Anschluss an die akustische Umwelt‘. Das war für uns ein unvergesslicher Moment! Das CI wurde eingeschaltet, Matthias hob den Kopf und schaute erstaunt. Er hat das CI von da an am Kopf belassen, war aufmerksam bei den Anpassungen und begeistert von seinem ‚geräuschvollen‘ Alltag, vor allem aber von der Frühförderung. Die Sprachentwicklung verlief rasant. Nach ein paar Wochen das erste bzw. die ersten Wörter: ‚Dreht sich‘. Dann kam eigentlich fast täglich ein neues Wort, schnell kleine Sätze, zum Teil schneller als bei gleichaltrigen Normalhörenden. Etwa zeitgleich begann die Rehabilitationsmaßnahme im CIC in W. Anfangs war er in einer Gruppe mit lauter Kindergarten- und Schulkindern. Kleinkinder mit CIs gab es damals noch kaum.

Ein halbes Jahr nach der ersten CI-Operation sollte die OP auf der anderen Seite folgen. Intraoperativ stellte sich jedoch heraus, dass Matthias eine versteckte Mastoiditis (Entzündung des Warzenfortsatzes) hatte und die Implantation zunächst nicht erfolgen konnte. Knapp ein Jahr nach seinem ersten CI erhielt er dann sein zweites. Unsere Rehagruppe verjüngte sich, es waren endlich mehr Gleichaltrige wie Matthias mit CIs versorgt.

Aus beruflichen Gründen mussten wir zu Beginn der Kindergartenzeit unsere gewohnte Umgebung und unser gutes Netzwerk hinsichtlich der Versorgung von Matthias verlassen. Der Kindergarten in unserem neuen Wohnort war bereit, ihn als ‚Integrationskind‘ aufzunehmen und es hat wunderbar geklappt. Die Frühförderung lief in größeren Abständen weiter, ebenso die Reha in W. Die regelmäßigen Treffen mit ‚Gleichgesinnten‘ und Betroffenen war und ist für ihn genauso wie für mich sehr wichtig. Freundschaften sind entstanden.