Rechenschwäche

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UTB 3017

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Prof. Dr. Annemarie Fritz lehrt Pädagogische Psychologie

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Dr. Gabi Ricken lehrt Sonderpädagogische Psychologie

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Lektorat / Redaktion im Auftrag des Ernst Reinhardt Verlages:

Ulrike Auras, München

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-ISBN 978-3-8252-3017-3 (Print), 978-3-8385-3017-8 (E-Book) ISBN 978-3-497-01976-2

ISBN 978-3-838-53017-8 (E-Book)

© 2008 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Reihenkonzept und Umschlagentwurf: Alexandra Brand

Umschlagumsetzung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: Arnold & Domnick, Verlagsproduktion, Leipzig

Druck: Friedrich Pustet, Regensburg

ISBN 978-3-8252-3017-3 (UTB-Bestellnummer)

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Titel Impressum Einleitung 1 - Rechenschwäche oder Rechenschwierigkeiten? – Probleme bei der Eingrenzung und Bestimmung des Gegenstands 2 - Die Entwicklung früher mathematischer Kompetenzen – eine entwicklungspsychologische Beschreibung eines Niveaustufenmodells 3 - Meilensteine in der Kompetenzentwicklung – besondere Hürden für Kinder mit Rechenproblemen 4 - Diagnostische Erfassung von Rechenschwierigkeiten – Konzepte und Verfahren aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven 5 - Förderung des arithmetisch-mathematischen Wissens im Vorschul- und Grundschulalter – theoretische Grundlagen für eine Konzipierung Anhang Sachregister

Einleitung

Im Zuge der Teilnahme Deutschlands an den internationalen Bildungsgangstudien verständigte sich die erziehungswissenschaftliche, psychologische und fachdidaktische Diskussion auf ein neues Paradigma: den Begriff der Kompetenz. Als Kompetenzen bezeichnet man die Leistungsfähigkeiten einer Person in einem bestimmten Gegenstandsbereich (Domäne). Sie werden definiert als die spezifischen kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, die erforderlich sind, um Probleme in dem jeweiligen Gegenstandsbereich erfolgreich zu lösen. Damit geht der Kompetenzbegriff weit über das abprüfbare curriculare Wissen hinaus, da er vor allem die Anwendung des Gelernten auf „lebensweltliche“ Bezüge bzw. auf nicht im Unterricht behandelte neue Situationen impliziert. Das bedeutet, Kompetenzen zeigen sich darin, dass spezifische Kenntnisse zur Bewältigung unterschiedlicher Anforderungen und in unterschiedlichen Kontexten eingesetzt werden können.

Um den Umfang, in dem jemand über spezifische Kompetenzen (z. B. im Bereich Mathematik) verfügt, einzuschätzen, werden die Leistungen der Schülerinnen und Schüler mit einer Skala (bisher meist nur mit einer) nach Kompetenzstufen oder -niveaus unterschieden. Eine hohe Kompetenz steht für umfassende Kenntnisse im jeweiligen Wissensbereich, entsprechend bedeutet eine geringe Kompetenz, dass nur grundlegende „erste“ Kenntnisse vorhanden sind, um Anforderungen des Gegenstandsbereichs zu bewältigen.

Auf diese Weise kann einerseits die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems abgebildet und ein konzeptueller Rahmen für Bildungsstandards geschaffen werden. Andererseits ermöglicht die Einteilung von Leistungen in Kompetenzniveaus auch eine Abbildung individueller Unterschiede zwischen Kindern nach qualitativen Aspekten. Damit lassen sich auch rechenschwache Kinder hinsichtlich ihrer Fähigkeiten in ein Kompetenzraster einordnen, sodass auf das Niveau ihrer aktuellen Kompetenzentwicklung geschlossen werden kann. Da Kompetenzniveaus zugleich auch als Entwicklungsniveaus zu interpretieren sind, ist sodann der aktuelle Kenntnisstand mit der Zone der nächsten Entwicklung in Beziehung zu setzen. Damit steht ein individueller Bezugsrahmen für die Bewertung der Entwicklung, die Begründung von Förderzielen und die Bewertung von Veränderungen zur Verfügung.

Die Kompetenzperspektive ist im vorliegenden Buch für die Einordnung und Interpretation von „Rechenschwächen“ leitend und soll Rechenschwächen als unterschiedlich stark ausgeprägte Entwicklungsrückstände verstehbar machen: Rechenschwache Kinder bleiben im Prozess der Entwicklung von Konzepten und Kompetenzen auf bestimmten Niveaustufen „stehen“.

Ausgehend von frühen Kompetenzen steht die Frage im Mittelpunkt, wie diese aufeinander aufbauen, welche Niveaus sich unterscheiden lassen und ob „Nadelöhre“ oder „Meilensteine“ auszumachen sind, die eine besondere Bedeutung für die Entwicklung von Rechenkompetenzen bzw. Rechenschwächen haben. Wir verstehen Rechenstörungen also aus einer entwicklungsorientierten Perspektive heraus. Unter dieser Perspektive werden schließlich diagnostische Ansätze systematisiert und hinsichtlich ihrer Aussagen bewertet sowie Fragen der Entwicklung von Förderkonzepten diskutiert.

Dafür werden zunächst Ansätze, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit der Erkennung von Rechenschwierigkeiten bzw. mit der Förderung rechenschwacher Kinder befassen, ausgewertet. Über eine rein additive Darstellung der unterschiedlichen Perspektiven hinaus wird dann in diesem Buch der Versuch unternommen, ein einheitliches Konzept zu entwickeln, mit dem ein Bogen von den wesentlichen Meilensteinen der Entwicklung zu diagnostisch brauchbaren Aufgaben geschlagen wird, deren Auswertung zugleich Ansatzpunkte für die Konzipierung der Förderung liefert. Diagnostik und Förderung werden in einen gemeinsamen entwicklungstheoretischen Bezugsrahmen gesetzt.

Diese theoretische Orientierung soll Lehrerinnen und Lehrern einen Zugang bieten, eigene Beobachtungen und Kenntnisse einzuordnen und als Basis für das eigene pädagogische Handeln zu nutzen.

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Rechenschwäche oder Rechenschwierigkeiten? – Probleme bei der Eingrenzung und Bestimmung des Gegenstands

Schwierigkeiten beim Erlernen von Mathematik gelten im Unterschied zum Erlernen der Schriftsprache als gesellschaftsfähig. Ohne einen Verlust des Ansehens befürchten zu müssen, kann man Probleme im Mathematikunterricht und schlechte Zeugnisnoten in diesem Fach zugeben. Trotz dieser eher geringschätzigen Haltung gegenüber der Mathematik werden die schwachen mathematischen Leistungen deutscher Schüler und Schülerinnen in den internationalen Vergleichsstudien aber mit Erschrecken zur Kenntnis genommen: 49,9 % der 15-jährigen Hauptschüler und 23,4 % der Gesamtschüler der gleichen Altersstufe verfügen nicht über die elementarsten Grundkenntnisse in Mathematik (Pisa-Konsortium 2004). Bedeutet dieses Ergebnis, dass alle diese Schülerinnen und Schüler eine Rechenschwäche oder Rechenstörung haben, oder sind ihre geringen Leistungen lediglich auf ein mangelndes Interesse am Fach Mathematik zurückzuführen?

Da Angaben zu Häufigkeiten immer davon abhängen, welche Kriterien zur Bestimmung dieser Häufigkeiten herangezogen werden, soll es zunächst um die Frage gehen, wie „Rechenschwächen“ oder „Rechenstörungen“ definiert werden, um im Anschluss daran zu überlegen, wie die große Zahl von Schülern mit massiven Rechenschwierigkeiten einzuordnen ist.

 

Definition „Rechenschwäche“

Um Krankheiten und Störungsbilder weltweit einheitlich zu diagnostizieren, wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (ICD-10, Dilling et al. 1993) erstellt und im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit ins Deutsche übertragen. In der ICD-10-Klassifikation wird eine Rechenschwäche unter der Kategorie „umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten“ als „umschriebene Entwicklungsstörung des Rechnens“ bezeichnet. Der Begriff „umschrieben“ bedeutet hier, dass sich die Problematik ausschließlich auf den Bereich des Rechnens, insbesondere auf grundlegende Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division bezieht.

Definition

Analog zur Diagnose der umschriebenen Entwicklungsstörung des Lesens und Schreibens (Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Legasthenie) wird eine Rechenschwäche dann diagnostiziert, wenn die Leistungen des Kindes in einem standardisierten und normierten Rechentest weit unter dem Wert liegen, der aufgrund des Alters und der Intelligenz zu erwarten wäre. Das zentrale Kriterium für die Diagnose ist die Diskrepanz zwischen den Leistungen im Intelligenztest und den Leistungen im Rechentest.

Begründet wird das Diskrepanzkriterium damit, dass von Kindern mit einer durchschnittlichen Intelligenz zu erwarten ist, dass sie angemessen vom Unterricht profitieren und im gleichen Tempo wie ihre Klassenkameraden lernen. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die Kinder weder durch Krankheiten lange Fehlzeiten in der Schule hatten noch durch Sinnesbehinderungen in ihrem Lernen eingeschränkt sind.

Die Diskrepanz zwischen den Testergebnissen muss deutlich sein, gefordert wird ein Unterschied von 1½-2 Standardabweichungen. Bei einer sehr schwachen Rechenleistung (PR ≤ 15 in einem Rechentest) soll die Leistung im Intelligenztest ungefähr im Durchschnittsbereich liegen (IQ > 85 oder 70). Außerdem müssen die Schwierigkeiten von Anfang an bestehen und die schulische Entwicklung behindern.

Diese Definition ist nicht unumstritten, insbesondere das Diskrepanzkriterium ist vielfach problematisiert und kritisiert worden (Fritz/Ricken 2005; Lorenz 2003; Schipper 2003). Bei Klassifikationen von Lernstörungen stellt sich immer die Frage, wie zuverlässig und stabil solche „Diagnosen“ getroffen werden können (Mazzocco / Myers 2003). Dies insbesondere dann, wenn erst die Erfüllung dieser Kriterien zur Förderung berechtigt bzw. erst unter diesen Bedingungen personelle und finanzielle Ressourcen bereit gestellt werden (z. B. Finanzierungen außerschulischer Förderungen in einigen Bundesländern). Es müssen dafür die „richtigen Kinder“ erkannt und Kinder, die nur vorübergehend und in einzelnen Bereichen Schwierigkeiten im Rechnen haben, von Kindern mit umfassenderen Rechenstörungen unterschieden werden.

Die Einhaltung des Diskrepanzkriteriums bei der Diagnose bedeutet aber auch, dass bei einigen Kindern die Schwierigkeiten nicht erkannt werden, weil die Differenzen zu klein sind. In der Folge wären diese Kinder aus der spezifischen Förderung ausgeschlossen (Schipper 2003). Hinzu kommt, dass Intelligenztests in der Regel Aufgaben (z. B. Klassenbildungen, Reihenfortsetzungen, Vergleichen von Mustern) beinhalten, die auch für die Entwicklung mathematischer Kompetenzen als relevant gelten (Lorenz 2005). Bearbeiten rechenschwache Kinder nun solche Aufgaben, wird unter Umständen ihr Intelligenzwert so weit nach unten gedrückt, dass sie keinen durchschnittlichen Intelligenzwert mehr erreichen. Damit würden sie das Diskrepanzkriterium nicht erfüllen und wären von einer gezielten Förderung ausgegrenzt (Schipper 2003).

Neben diesen Kindern würden auch jene keine spezielle Förderung erhalten, deren Intelligenzwerte im unterdurchschnittlichen Bereich liegen, obwohl sie für den mathematischen Bereich eine spezifische Unterstützung benötigen. Die für diese Kinder üblicherweise realisierte behindertenpädagogische Förderung schließt jedoch eine spezifische mathematische Förderung nicht automatisch ein.

Die Frage, ob rechenschwache Kinder mit durchschnittlicher Intelligenz von rechenschwachen Kindern mit unterdurchschnittlicher Intelligenz in Bezug auf ihre Rechenleistung qualitativ zu unterscheiden sind, wurde bislang kaum untersucht. Jiménez González und García Espinel (2002) z.B. publizierten eine Studie mit Kindern im Alter von 7 bis 9 Jahren, die in drei Gruppen eingeteilt waren: Rechenschwache Kinder mit einer Diskrepanz zwischen Intelligenz- und Rechenleistungen, rechenschwache Kinder ohne Diskrepanz sowie Kinder mit durchschnittlichen Intelligenz- und Rechenleistungen. Zu lösen waren einfache Sachaufgaben im Zahlenraum bis 20 mit verschiedenen gesuchten Mengen (Ausgangsmenge, Teilmenge, Endmenge). Wie erwartet, war die Lösungswahrscheinlichkeit bei den im Rechnen unauffälligen Kindern höher als in den anderen beiden Gruppen. Die beiden Gruppen der rechenschwachen Kinder unterschieden sich aber weder in der Lösungshäufigkeit noch in den Lösungsstrategien voneinander.

Auch die Annahme, dass Rechenschwächen „umschriebene Entwicklungsstörungen“ sind und sich ausschließlich auf den Bereich des Rechnens beziehen, wurde durch Untersuchungen in jüngerer Zeit infrage gestellt. Schwenck und Schneider (2003) konnten belegen, dass sich Rechenstörungen durchaus in Verbindung mit Lese-Rechtschreib-Schwächen bei durchschnittlicher Intelligenz entwickeln können.

Dies spricht dafür, in künftigen Untersuchungen eher nach Gemeinsamkeiten in der Entwicklung rechenschwacher Kinder zu suchen, als durch weitere Kriterien weitere Differenzierungen vorzunehmen (Stanovich 1999; Grube 2008). Insofern bedürfen alle Kinder mit Schwierigkeiten im Rechenerwerbsprozess einer gezielten Unterstützung, damit sich nicht Schwierigkeiten beim Erwerb des Basiswissens zu massiven mathematischen Problemen ausweiten (Schipper 2003).

Neben diesen kritisch zu sehenden Aspekten enthält die ICD-10-Definition einen sehr wesentlichen Gedanken: Probleme im Rechnen sollen „von Anfang an“ bestehen. Neuere Untersuchungen sprechen für die Bedeutung dieses Kriteriums: Bereits im Kindergartenalter können Prädiktoren bestimmt werden, aus denen die Entwicklung von Rechenstörungen vorherzusagen ist. Was „von Anfang an“ bedeutet und um welche Prädiktoren es sich handelt, wird weiter unten in diesem Kapitel und in Kapitel 2 noch genauer ausgeführt.

Prävalenz der Rechenschwäche

Nach den ICD-10-Kriterien kommen Rechenstörungen etwa gleich häufig vor wie Lese-Rechtschreib-Schwächen, nämlich bei 4,5 % bis 6% der Kinder (Hein et al. 2000). Je nach der Strenge der verwendeten Kriterien schwanken die Angaben zwischen den Studien, die in verschiedenen Ländern durchgeführt wurden (Jacobs/Petermann 2007). Neben den reinen Rechenstörungen werden auch Kombinationen mit anderen Problemen beschrieben. So entwickeln 2,3 % bis 2,7 % aller Kinder eine Rechenschwäche und eine Lese-Rechtschreib-Schwäche (Gross-Tsur et al. 1996).

Nach den eingangs zitierten PISA-Befunden wird der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit förderungsbedürftigen Rechenschwierigkeiten weit höher beziffert, nämlich mit 15 % (Schipper 2003, Lorenz 2003). Auch in der IGLU-Studie (Walther et al. 2003, Bos et al. 2003), in der Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern der 4. Grundschulklasse in den Fächern Mathematik, Lesen und Sachunterricht untersucht wurden, zeigten sich ähnlich hohe Anzahlen von Schülern, deren mathematische Fähigkeiten als außerordentlich problematisch zu beurteilen sind. Die Kenntnisse der Kinder werden in dieser Studie Kompetenzstufen zugeordnet (vgl. Tabelle 1). Kompetenzstufenmodelle basieren auf der Annahme, dass bessere Kenntnisse und Fertigkeiten mit höheren Kompetenzen einhergehen. Kinder mit höheren Kompetenzen sind demzufolge in der Lage, schwierigere Aufgaben zu bewältigen als Kinder mit geringeren Kompetenzen. Für den Bereich Mathematik wurden fünf Kompetenzstufen unterschieden:

Tabelle 1: Mathematische Kompetenzstufen nach IGLU (Walther et al. 2003, 202)


KompetenzstufenInhalte
IRudimentäres schulisches Anfangswissen
IIGrundfertigkeiten im Zehnersystem, der ebenen
Geometrie und bei Größenvergleichen
IIIVerfügbarkeit der Grundfertigkeiten und Arbeit mit einfachen Modellen
IVBeherrschung Grundrechenaufgaben, Beherr schung von Aufgaben der räumlichen Geometrie und begrifflicher Modellentwicklung
VProblemlösen bei Aufgaben mit verschiedenen mathematischen Kontexten

42 % der Viertklässler gehören zur Gruppe der guten und sehr guten Schüler in Mathematik und verfügen damit über ein solides Fundament für den Ausbau ihrer Kenntnisse an weiterführenden Schulen. Dagegen erreichten fast 20 % der Schülerinnen und Schüler im Rechnen nur Kompetenzstufe I oder II, was bedeutet, dass sie am Ende des vierten Grundschuljahres höchstens über die Kenntnisse von Zweitklässlern verfügen (Walther et al. 2003). Diese Kinder müssen als Risikokinder in dem Sinne betrachtet werden, dass die Entwicklung ihrer Fertigkeiten bereits gestört ist und auch gestört bleiben wird, wenn nicht gezielt Fördermaßnahmen erfolgen.

Die Hoffnung, dass die Leistungsschwächen der Schüler in der Sekundarstufe, nach der Einteilung in leistungshomogene Gruppen (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) ausgeglichen werden, erfüllt sich offensichtlich nicht. Die Ergebnisse der IGLU-Studie lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: „Was auf der Ebene der Grundschule nicht gelingt, lässt sich offenbar – dies zeigen die PISA-Befunde – auf der Ebene der Sekundarstufe I nicht mehr kompensieren. Vielmehr ist nach den PISA-Befunden davon auszugehen, dass sich die auf der Ebene der Grundschule nicht befriedigend gelösten Probleme auf der Ebene der Sekundarstufe weiter verschärfen“ (Schwippert et al. 2003, 300). Für die betroffenen Kinder bedeutet dies, dass sich ihre Entwicklungsprobleme in der Sekundarstufe verstärken und mit einer Kompensation nicht zu rechnen ist.

Was ist das Fazit dieser Definitions- und Häufigkeitsbetrachtung? Bestimmt man einen Förderbedarf lediglich für diejenigen Schülerinnen und Schüler, für die die ICD-10-Kriterien der Rechenstörung zutreffen, würden die Probleme vieler Schüler übersehen. Fragen wie –Wie viele Kinder sind rechenschwach? Anhand welcher Kriterien ist dies festzustellen? Welche Kriterien taugen? – sind wenig zielführend. Fragen der Klassifikation von Rechenstörungen sollten daher überwunden und ersetzt werden durch Fragen danach, ob ein Kind Schwierigkeiten beim Rechnenlernen und damit einen Bedarf an individueller Unterstützung und Förderung hat. In diesem Sinne wird im Folgenden auch nur noch der Terminus Rechenschwierigkeiten verwendet. Er schließt alle Kinder ein, bei denen sich Probleme beim Rechnenlernen bereits von Beginn der ersten Klasse an zeigen.

Ursachen von Rechenschwierigkeiten

Die Frage nach den Ursachen für das Zustandekommen von Rechenschwächen oder Rechenschwierigkeiten ist letztlich nicht eindeutig zu beantworten. Aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven wurde versucht, Aufschluss über die Problematik zu gewinnen. Aus neuropsychologischer Perspektive wurde nach funktionalen Besonderheiten während der Bearbeitung von Aufgaben gesucht. Mathematikdidaktik, Psychologie und Sonderpädagogik haben nach spezifischen Leistungsbeeinträchtigungen geforscht. Es wurden unspezifische (Wahrnehmung, Arbeitsgedächtnis) und spezifische Fähigkeiten (Zahlwortkenntnis, Mengenverständnis) in ihrer Bedeutung für das Rechnenlernen untersucht. Es wird sicher zu Recht vermutet, dass motivationale und emotionale Prozesse eine große Rolle spielen und Unterrichtsbedingungen an der Entwicklung von Schwierigkeiten beteiligt sind, auch wenn empirische Studien dazu fehlen.

Überblick

Die meisten Autoren gehen davon aus, dass Rechenschwierigkeiten multifaktoriell bedingt sind, zumindest die Ausprägung der Schwierigkeiten von einer Vielzahl von Faktoren abhängt, die sich wechselseitig beeinflussen.

 

Als Kern der Problematik werden eine verzögerte Entwicklung rechenrelevanter Lernvoraussetzungen bzw. Beeinträchtigungen im Verständnis mathematikspezifischer Inhalte angenommen. Bereits zum Zeitpunkt der Einschulung verfügen rechenschwache Kinder über geringere Kenntnisse als ihre Mitschüler und sind damit weniger auf die Anforderungen des Mathematikunterrichts vorbereitet (Mazzocco / Thomson 2005; Jordan et al. 2006; Weißhaupt et al. 2006). Es besteht also von vornherein eine Diskrepanz zwischen den schulischen Anforderungen und den Vorkenntnissen bzw. der Leistungsfähigkeit des Kindes (Selter/Spiegel 1997).

Aufseiten des Kindes tragen über die fertigkeitsspezifischen Probleme hinaus die Lernmotivation und die emotionalen Erfahrungen beim Rechnenlernen wesentlich zur Ausprägung der Problematik bei. So wie sich gute Leistungen positiv auf das Selbstkonzept auswirken und zu Leistungssteigerungen beitragen können, können im umgekehrten Fall schlechte Leistungen das Selbstkonzept negativ beeinflussen und die bereits beeinträchtigte Leistungsfähigkeit weiter einschränken. Wird z. B. das eigene geringe Lerntempo als Versagen erlebt, beeinträchtigt dies bereits das Selbstkonzept der eigenen Leistungsfähigkeit. Schlechte Noten und falsche Ergebnisse, die auch durch Üben nicht verhindert werden konnten, unterstreichen das Gefühl, den Schwierigkeiten hilflos ausgeliefert zu sein. Aus diesen Erfahrungen kann eine Ablehnung dem Fach gegenüber entstehen, die auch die Ablehnung, für dieses Fach zu üben, einschließt.

Auf der Ebene der Familie tragen die Leistungserwartungen der Eltern und deren emotionale Reaktionen auf die Leistungen der Kinder wesentlich zur Ausprägung der Problematik bei. Haben Eltern bestimmte (gute) Leistungserwartungen an ihr Kind, werden sie von – unerwartet – auftretenden Schwierigkeiten überrascht. Die Erklärungen, die Eltern für diese Schwierigkeiten finden und die Maßnahmen, die sie ergreifen, haben wiederum Auswirkungen auf das Selbstkonzept des Kindes. Vertrauen in seine – grundsätzliche – Leistungsfähigkeit und gezielte unterstützende Maßnahmen beeinträchtigen das Selbstkonzept des Kindes nicht. Erklärungen hingegen, die darauf abzielen, dass die Problematik unveränderbar ist und sie als Eltern keine Möglichkeit der Unterstützung bieten können, sowie persönliche Betroffenheit über die Schulprobleme, wirken sich negativ auf die Motivation und das Selbstkonzept des Kindes aus und können die Angst vor dem Fach erhöhen.

Von besonderer Bedeutung auf der Ebene der schulischen Prozesse sind die methodisch-didaktischen Bedingungen des Unterrichts, die Lehrer-Schüler- sowie die Schüler-Schüler-Interaktionen. Insbesondere die Unterrichtsbedingungen sind hier in den Blick zu nehmen. Erhalten betroffene Kinder einen Unterricht, der nicht an ihren individuellen Lernvoraussetzungen ansetzt, sondern zu hohe Anforderungen stellt und zu schnell vorgeht, werden die Probleme weiter vergrößert. Dies gilt auch für einen Unterricht, in dem die individuellen Lernwege des Kindes nicht berücksichtigt werden und das Kind keinen Zugang zum Verständnis der Lerninhalte findet (didaktogene Ursachen der Rechenschwäche). Gaidoschik (2004) benennt als ungünstige Unterrichtsbedingungen:

• Zeitverluste, die entstehen, wenn nicht das Rechnen, sondern allgemeine Voraussetzungen wie verschiedene Wahrnehmungsübungen im Mittelpunkt stehen;

• Üben, das ausschließlich als Bewältigung von noch mehr Aufgaben verstanden wird;

• Arbeiten mit Material, wenn sich dies nur auf den Umgang mit dem Material bezieht und gedankliche Verarbeitungen zu kurz kommen;

• Verwendung unstrukturierten Anschauungsmaterials, durch das Zählstrategien unterstützt werden.

Umgekehrt kann ein Unterricht, der die individuelle Problematik berücksichtigt und die Kinder durch angemessene Aufgabenstellungen Schritt um Schritt fördert, dem Entstehen einer tiefgreifenden Rechenschwäche bzw. der Ausweitung von Schwierigkeiten vorbeugen (Gerster / Schultz, 2000).

Das Zustandekommen von Schulleistungsproblemen in solch komplexe Zusammenhänge einzuordnen, ist einerseits zwar angebracht, andererseits sind wir weit davon entfernt, diese Zusammenhänge angemessen erfassen bzw. abbilden zu können (Bauersfeld 2003). Auch ist noch offen, welche Auswirkungen die Kombination verschiedener Faktoren auf die Entwicklung von Schwierigkeiten hat (Gifford 2005).

Diesem großen Zusammenhang nähert man sich mit unterschiedlich komplexen Theorien. Fertigkeitsspezifische Probleme der Kinder werden aktuell mit neuro-, kognitions- und entwicklungspsychologischen Störungskonzeptionen diskutiert. In der nachfolgenden Darstellung dieser Ansätze wird das entwicklungspsychologische Konzept den größten Raum einnehmen (siehe auch Kapitel 2), da dies der Ansatz ist, der auch Grundlage der hier vorgestellten Diagnostik und Förderung ist.

Neuropsychologischer Erklärungsansatz

Traditionell ging es in der neuropsychologischen Forschung zunächst um die Suche nach der Lokalisation eines Rechenzentrums analog zum Sprachzentrum. Befunde an hirngeschädigten Patienten ließen jedoch schon früh vermuten, dass unterschiedliche Hirnregionen an der Erbringung von Rechenleistungen beteiligt sind. So erfordert der Umgang mit Zahlen und Rechenoperationen letztlich die Integration einer Vielzahl von Teilfertigkeiten, die je unterschiedlich lokalisiert sind. Der Abruf von Regeln und Rechenfakten erfolgt aus dem semantischen Gedächtnis; den Aufbau der Zahlenreihe stellen sich viele als Zahlenstrahl visuell vor, die Durchführung schriftlicher Rechenverfahren macht eine visuell-räumliche Orientierung erforderlich, bei der Modellierung von Aufgaben werden verbale Informationen in visuelle überführt etc. Diese wenigen Beispiele machen die Komplexität von Prozessen der Zahlverarbeitung auf neuropsychologischer Ebene deutlich.

Im Zentrum der aktuellen neuropsychologischen Forschung stehen daher auch Untersuchungen, die sich auf die Analyse zahlenverarbeitender Prozesse im Gehirn beziehen. Dabei werden gezielt unterschiedliche mathematische Anforderungen (Kopfrechenaufgaben, Aufgaben am Zahlenstrahl, Mengenschätzungen etc.) vorgegeben, um die Aktivität unterschiedlicher Hirnregionen anzuregen. Aussagen zu solchen Verarbeitungsprozessen enthalten neuere Modul-Ansätze, die Informationsverarbeitungsmodelle des Rechnens auf der Ebene zahlenverarbeitender Hirnfunktionen präsentieren.

Der derzeit am häufigsten diskutierte und interessanteste Ansatz ist der von Dehaene (1992, 1997). In seinem „Triple-Code-Modell“ geht Dehaene davon aus, dass die Bearbeitung unterschiedlicher Aufgaben in je spezifischen neuronalen Funktionssystemen (Modulen) geschieht. Diese bilden sich auf der Grundlage der genetischen und biologischen Ausstattung des Gehirns durch die Lernerfahrungen in der Vorschul-und Grundschulzeit aus. Das bedeutet, biologische und genetische Dispositionen bereiten das Gehirn auf die Verarbeitung der ersten Umwelterfahrungen vor. Durch eine Vielfalt von Erfahrungen – durch eigene Erkundung oder vermittelt – entwickeln sich die Funktionssysteme zu immer „arbeitsfähigeren“ Modulen.

Dehaene unterscheidet drei Hirnfunktionseinheiten, die spezifisch sind für den Bereich der Zahlverarbeitung und die sich in verschiedenen Arealen des Gehirns ausbilden. Jede Funktionseinheit steht für eine Repräsentation der Zahlverarbeitung (Code):

• In dem abstrakt-semantischen Code geht es um allgemeine Vorstellungen und Einschätzungen von Größen und Mengen. Dieser Code entwickelt sich sehr früh, da bereits Säuglinge anfangen, Mengen zu vergleichen. Bevor die Kinder sprechen können und über Zahlwörter verfügen, beurteilen sie Mengen daraufhin, ob diese mehr oder weniger geworden sind.

Mit dem Erwerb der Zahlwortreihe (eins, zwei, drei … ) werden hier Zahlen auf einer Art „innerem Zahlenstrahl“ abgebildet. Weiter entwickeln sich hier allgemeine Zahlraumvorstellungen, die es gestatten, Mengen zu schätzen und Rechenoperationen zu „überschlagen“, d.h., Mengen auf ihre Größe hin abzuschätzen.

• Ein sprachlich-alphabetischer Code leistet die sprachliche Verarbeitung von Zahlwörtern. In diesem Hirnareal werden vor allem Rechenfakten, die sprachlich kodiert sind, verarbeitet. Nachgewiesen ist die Verbindung dieses Codes zum kleinen Einmaleins.

• Der visuell-arabische Code leistet das Verstehen der geschriebenen Ziffernanordnungen und des arabischen Stellenwertsystems.

Die Hirnfunktionseinheiten (Module) sind über Transkodierungsrouten miteinander vernetzt und werden jeweils aufgabenbezogen aktiviert. An der Bearbeitung der meisten Aufgaben sind zwei oder gar alle drei Module beteiligt.

Kernaussage

Die Module und ihre Vernetzungen entwickeln sich in der Auseinandersetzung des Kindes mit der Umwelt, wobei jede Funktionseinheit eine allmähliche Differenzierung erfährt. Von Aster (2003) versteht diesen Abschnitt der allmählichen Moduldifferenzierung, der bis in die späte Primarschulzeit hineinreicht, als besonders vulnerable Phase. Die in diesem Zeitraum auftretenden Störungen der Modulreifung können zu Beeinträchtigungen der mathematischen Kompetenzentwicklung führen.

Welche Bedeutung Modul-Annahmen und ihre weitere Differenzierung (Kaufmann/Nuerk 2005) für die Erklärung von Störungen haben und ob daraus Maßnahmen für die Förderung begründet werden können, muss sich durch weitere Forschungen erweisen (Gerster/Schultz 2000).

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