Das Schicksal eines gestohlenen Lebens

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Das Schicksal eines gestohlenen Lebens
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Annegret Schulz

DAS SCHICKSAL EINES GESTOHLENEN LEBENS

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2019

Bibliografische Information durch die Deutsche

Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2019) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Titelzeichnung © Konstantin Kornel

konstantin-kornel@gmx.de

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

Das geschenkte Leben begann im Mai 1910, es war ein niederschlagsreiches Frühjahr. Die Natur erstrahlte im satten Grün. Ein kleines Städtchen irgendwo in Mitteldeutschland lag ruhig und verschlafen eingebettet in der Goldenen Aue. Ihre Einwohner ruhten noch. Es war Sonntagmorgen. Irgendwo bellte ein Hund, ein Hahn krähte dazu und ergänzte das morgendliche Konzert. Mitten durch die Kleinstadt schlängelte sich ein Fluss. Man konnte beinahe den Frühling schmecken. Nur in dem prächtigen Einfamilienhaus ging es gar nicht ruhig zu. Seit Mitternacht hielt eine hübsche junge Frau die alte Hebamme auf trapp. Die schwarze Johanna, so wurde sie nur im Ort genannt, bekam ihr fünftes Kind. Und ihre sonst so strahlend blauen Augen waren mit Tränen gefüllt. Zwischen den Wehen betete Johanna zu Gott, er möge ihr doch noch ein Mädchen schenken.

So kämpften Johanna und die alte Hebamme mit der natürlichsten Sache der Welt, mit der Geburt. Inzwischen war auch der Vater auf den Beinen und versorgte die drei kleinen Söhne. Denn die Älteste, Marta, war schon zwölf Jahre alt und half tüchtig mit im Haushalt. Der Vater war Steinbildhauer von Beruf, Fritz hatte es zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht.

Das zweistöckige Backsteinhaus war schuldenfrei. Jedes Kind hatte sein eigenes Bett und war wohl genährt. Gar nicht so selbstverständlich in der wirtschaftlichen schweren Zeit. Der Vater zog die Vorhänge auf, er schaute in den Garten, verträumt blieb sein Blick an den Mandelbäumchen hängen. Der Tau haftete noch an den Blüten. Auch Fritz konnte sich dem Zauber des Frühlings nicht entziehen. Die Fenster des Wohnraumes öffnete Fritz stets zuerst, sie erlaubten einen beruhigenden Blick in den Garten.

Die Frontseite des Hauses zeigte zum Fluss. Und in diesem Jahr führte der sonst so kleine Fluss reichlich Wasser mit sich. Alle Einwohner schauten besorgt auf den Pegelstand.

Ein kräftiger Kinderschrei riss ihn aus seinen Träumen. Marta stürzte in die Wohnstube und rief ganz aufgeregt: „Vater, Vater, ein Junge ist da!“

Die Freude war groß, denn Mutter und Kind waren gesund. Diesen Satz rief die Hebamme durch das Haus. Wie oft mag sie, in ihrer vierzig jährigen Dienstzeit, diese Botschaft schon verkündet haben. Ein neues Leben beginnt und hat sein eigenes Schicksal. Wir schreiben das Jahr 1910, Deutschland gleicht einem Wintermärchen. Das Jahr hatte gerade erst begonnen, es war bitterkalt. Den Menschen im Land ging es nicht so gut. Denn die Wirtschafslage war alles andere als märchenhaft. Kaiser Wilhelm regierte das Volk.

Fritz und Johanna verstanden nicht viel von Politik. Sie waren fromm erzogen worden. In der Kirche wurde gepredigt. „Seid zufrieden mit dem, was ihr habt!“ Und in der Schule wurden sie zum unbedingten Gehorsam erzogen. In dem Sine erzogen sie auch ihre Kinder.

Fritz war Steinbildhauer. Er machte die besten und schönsten Grabsteine. Gestorben wurde auch in Krisenzeiten. Und wer es sich leisten konnte, bestellte einen Stein bei Fritz Schirmer.

Das Nesthäkchen der Familie hatte sich wunderbar entwickelt. Paul hatte die schönen blauen Augen von seiner Mutter geerbt und war längst der Liebling der Familie.

Vater Fritz bekam einen großen Auftrag. Kaiser Wilhelm ließ sich schon zu Lebzeiten ein Denkmal setzen. Vater Fritz bekam als erster Steinmetz die gesamte Leitung. Voller Stolz brachte er seiner Frau ein paar Goldstücke mit nach Hause, als Vorauszahlung. Wenn der Schnee restlos weg ist geht es los. Beide saßen in der guten Stube und berieten, was mit den Goldtalern dringend angeschafft werden müsste. Friede, Harmonie und ein bisschen Glück erfüllte die Herzen der jungen Eltern.

Ein Duft von frisch gebrühtem Kaffee erfüllte den Raum, vermischt mit feinem Tabakrauch. Plötzlich wurde der Friede gestört durch heftiges Klopfen an der Haustür. „Bleib sitzen, Hanne, ich schau mal nach“, sagte Fritz zu seiner Frau. Ein stolzer und fröhlicher Mann verließ die Stube. Völlig apathisch, versteinert wie seine eigenen Statuen kehrte er mit einem Gendarmen zurück.

Hanne wusste sofort, es musste etwas Schreckliches passiert sein. Fritz war nicht mehr fähig seiner Frau eine Erklärung zu geben. Der Gendarm bemühte sich pietätvoll aufzutreten. Er begann mit den Worten: „Eure Marta“, ein tiefes Durchatmen war nicht zu überhören, „eure Marta ist mit ihrem Schlitten gegen einen Baum geprallt.“

„Wo ist sie?“, rief die Mutter dazwischen, gleichzeitig griff sie nach ihrem Mantel, die Tür schon im Blick.

„Setzen sie sich Frau Schirmer“, er versuchte die junge Frau aufzuhalten. „Sie können nichts mehr für ihr Kind tun, der Aufprall war so heftig, dass es schwere Kopfverletzungen gab.“ Der Polizist nahm seine Pickelhaube ab und wischte den Schweiß von der Stirn. Der Vater stand noch immer wie versteinert am Tisch.

Die Mutter glaubte an einen schlechten Spuk, der gleich vorbei sein müsste. Martchen sollte doch in diesem Frühjahr konfirmiert werden, schoss es der Mutter durch den Kopf. Wie konnte das nur geschehen?

Tausend Fragen nach dem Wieso und Warum fanden keine Antwort. Das Schicksal ist grausam und kann erbarmungslos zuschlagen. Nur ganz langsam konnten die Eltern die Nachricht überhaupt wahrnehmen.

Der Gendarm nahm erneut Anlauf, um den Eltern zu schildern, was genau passiert war: „Euer Mädchen ist mit hoher Geschwindigkeit kopfüber gegen einen Baum geprallt, sie war sofort tot.“

Der Gendarm gab den Eltern die Hand, sprach sein Beileid aus, teilte noch mit, dass sich der Leichnam schon in der Friedhofskapelle befinde. Hanna war in den nächsten Tagen nicht mehr ansprechbar. Fritz musste eine Haushälterin einstellen. Die vier Jungs mussten ja versorgt werden.

Fritz stürzte sich in seine Arbeit. Ein wunderschöner Grabstein sollte entstehen. Die Frage: „Was soll mit den Goldstücken angeschafft werden?“, fand nun eine traurige Antwort.

Der Volksmund sagt: „Die Zeit heilt alle Wunden.“ Genau mit diesen Worten wollte Großmutter Hahn ihre Tochter Johanna trösten. Diese hielt sich stundenlang auf dem Friedhof auf. Für alle die sie kannten, war es furchtbar mit anzusehen, wie Johanna litt. Sie wirkte blass, die Augen waren ohne Glanz und sie hatte stark an Gewicht verloren. Nur die vier Jungs hielten sie am Leben. Der kleine Paul legte so gern seinen Kopf in Mamas Schoß. Ungeahnt heiterte er das Gemüt der Mutter etwas auf. Sie strich dem Kleinen über den Kopf und nahm ihn dann ganz fest in ihre Arme

Doch der Schmerz und die kalten Wintertage gingen an Johanna nicht spurlos vorbei. Johanna kränkelte. Noch immer war die Wirtschafterin im Haus. Und das war gut so. Johanna bekam eine schwere Lungenentzündung. Wieder waren es Wochen voller Bangen. Zumindest für ihren Mann und ihre Mutter. Die Buben vermisten ihre Mutter sehr, machten sich aber über den Ernst der Lage keine Gedanken. Dafür waren es eben noch Kinder. Doch Johanna wollte leben. Bei guter mütterlicher Pflege erholte sie sich schnell. Fritz ließ es an nichts Fehlen, er arbeitete wie besessen und gab viel Geld für teure Medizin aus. Endlich schien alles wieder ins Lot zu kommen. Johanna zeigte wieder Interesse am Geschehen. Ihre Mutter war bereits wieder abgereist. Zur Freude der Jungs, denn Großmutter Agnes war eine resolute Person. Außerdem musste sie sich um ihren eigenen Mann kümmern. Großvater Hahn war ein alter Fleischermeister und kippte gern ein Gläschen hinter die Binde. Der Großvater führte noch Hausschlachtungen durch, es kam oft vor, dass Agnes ihren Hannes am Abend mit der Schubkarre abholen musste. Dann setzte es den gesamten Heimweg Schelte. Aber der alte Metzger machte sich nichts daraus, verstand er doch in seinem Rausch nur die Hälfte der Schimpfwörter.

Wieder war es Frühling, wieder blühte das Mandelbäumchen hinter dem Haus. Paul spielte im Garten. Seine Mama hatte ihm erzählt, dass er bald Geburtstag habe. Dieses Ereignis sei etwas Wunderbares und er dürfe sich etwas wünschen. Noch verstand der Kleine nichts von den politischen Unruhen. Zunächst wurde erst einmal gefeiert. Dann durften noch drei glückliche Monate ins Land ziehen, bevor das Unheil seinen Lauf nahm.

Österreich erklärte Serbien den Krieg, weil der Thronfolger Franz Ferdinand von serbischen Extremisten ermordet worden war. Der erste Weltkrieg begann. Vater Fritz arbeitete gerade voller Hingabe an dem Grabstein für Marta, als sein Einberufungsbefehl kam. An den Tag des Abschiedes wollten die Eltern noch nicht denken, ein klein bisschen Zeit verblieb ihnen ja noch.

Sie verlebten die abgezählten Tage voller Liebe und mit viel Spaß. Der Vater scherzte so gern mit seinen Kindern, er konnte so spannende Geschichten erzählen, selbst wenn er dabei angestrengt arbeitete. Zwei kleine Täubchen sollten gerade entstehen, aus feinstem Marmor. Grob waren die Figuren schon gehauen. Auch, dass einmal eine größere und eine kleinere Taube entstehen sollten, war schon zu erkennen. So war es nicht weiter verwunderlich, als ein Sohn fragte: „Papa, werden das Täubchen für unsere Marta?“

 

„Aber ja“, sagte der Vater zu seinem Sohn. „Unser Martchen liebte doch die Täubchen so sehr.“

Der Vater vertiefte sich wieder in seine Arbeit, die Jungs spielten auf der Wiese „Blinde Kuh“ und Paulchen pflückte für seine Mama ein paar Blümchen, wahllos und viel zu kurze Stiele, aber voller Hingabe.

Seine Mama hatte mit dem Frühjahrsputz begonnen. Die Küchenfenster zeigten zur Straßenseite, sie waren weit geöffnet, denn Johanna seifte die Rahmen ab. Sie schaute ab und zu von ihrer Arbeit auf, wischte sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. Schaute auch ab und zu auf den Fluss, der auch dieses Frühjahr wieder gewaltig viel Wasser mit sich führte. Gerade als Johanna ihren Putzlappen wieder nehmen wollte, stockte ihr der Atem. Sie riss ihre Augen auf und konnte deutlich erkennen, in den lehmigen, gelblichen Wassermassen schwamm ein Kind. Keine einzige Sekunde zögerte sie und sprang in den Fluss. Kein Mensch hätte je erklären können, wo diese kleine zierliche Frau, erst von einer Lungenentzündung genesen, die Kraft hernahm. Sie kämpfte wie eine Löwin um ihr Junges. Es gelang ihr das Kind zu packen. Ihre verzweifelten Hilfeschreie wurden gehört. Passanten waren am gemauerten Ufer zusammengelaufen.

Irgendein Mann rief immer wieder: „Am Wehr finden sie halt!“ Inwieweit ein Mensch in einer derart schweren Rettungsaktion zugerufene Ratschläge wahrnimmt, kann niemand so genau sagen. Vielleicht wusste Hanna selbst, dass ein paar Meter Flussabwärts das Stauwehr der Mühle kam. Müllermeister Tölle hatte kurz vor dem Wehr ein stabiles Eisengitter angebracht, um sämtlichen Unrat aufzuhalten, dass sein Mühlrad schädigen könnte. Schutz und Halt gab das Gitter auch Johanna und dem fremden Kind. Hilfe kam nun von allen Seiten.

Der Müllermeister fischte die beiden „Wasserratten“ heraus und ließ seine Braunen anspannen. Er wickelte Johanna und das Kind in Decken und machte sich auf den Weg ins Hospital. Noch wusste niemand, wer das Kind war und woher es kam. Aber es lebte. Im Hause des Steinbildhauers vermisste man schon die Mutter. Die offenen Fenster ließen nichts Gutes ahnen. Vater Fritz suchte vor dem Haus nach Spuren. Eine aufgebrachte Menschenmenge verstärkte seine schlimmen Befürchtungen. Mit gekonntem Blick schätzte Fritz den Abstand zwischen Fenster und Ufer. Selbst wenn Hanne aus dem Fenster gefallen wäre, seine Gedanken hämmerten im Schädel, dann sah und hörte er das Pferdegespann.

Von fremden Leuten erfuhr Fritz, was gesehen war. Der Müller hielt kurz bei Fritz an und rief ihm zu: „Ich bringe die beiden sofort ins Hospital!“ Wieder begannen Tage voller Sorge. Die Großmutter und die Wirtschafterin übernahmen wieder den Haushalt und die Kinderpflege.

Fritz saß im Hospital am Bett seiner Frau. Sie hatte erneut eine Lungenentzündung. Sie konnte sich nicht wieder erholen. Hohe Fieberschübe ließen sie fantasieren. Bis sie in den Armen ihres Mannes starb. Es war ein auseinanderreißen zweier Herzen, die sich liebten und verstanden, die nur ein bisschen glücklich sein wollten. Ein Kind wurde gerettet und vier Jungs hatten keine Mutter mehr. Das kleine Mädchen war längst in der Obhut seiner Eltern und freute sich am Leben. Bei Fritz aber drehte alles im Kopf. Wie sollte es weitergehen. Seine Beine waren schwer wie Blei. Seine Brust drohte zu zerreißen.

Und das Leben ging weiter, was bedeutet schon ein Menschenschicksal, wenn Monarchen Krieg führen. Es blieben gerade mal ein paar Tage zum trauern, dann musste Fritz ins Feld ziehen. Er hatte nicht einmal mehr Zeit für seine Frau einen Grabstein zu hauen. Fritz fühlte sich wie ein japanischer Bonsai, ja nicht aus sich herauswachsen, immer schön klein bleiben und was das Schicksal nicht schafft, den Rest gibt der Krieg. Gerade jetzt hätten ihn die Jungs gebraucht. Und der Stein für Marta war auch noch nicht fertig. So fand das eine Täubchen Platz auf einem schlichten Holzkreuz.

„Nun zieh ich dahin, mit Gottes Segen, und was wird Daheim?“ Fritz konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er ließ sich treiben, der Strom der hundert Soldaten zog ihn mit, hinein in die Wagons und ab die Front.

Zu Hause herrschten die Schwiegermutter und die Wirtschafterin. Das ging nicht lange gut. Zwei Frauen unter einem Dach. Es gab nur Zank und Streit.

Fritz hatte der Wirtschafterin alles anvertraut. Aber auch alles. Das Haus, die Schlüssel, die Kinder und das kleine Vermögen. Rund um, die Generalvollmacht.

Er hatte ja keine andere Wahl. Fritz hatte ihr blind vertrauen müssen, zumal Rosa sich schon einmal als sehr nützlich erwiesen hatte. Aber die beiden Frauen kamen bei aller Liebe nicht miteinander zurecht.

Ein Jahr war vergangen, der Frühling bringt wie eh und je seine zauberhaften Blüten hervor. Die vier Jahreszeiten sind ein Naturgesetz und lassen sich von den Menschen, die sich ihre Gesetze selbst auferlegen, nicht beeindrucken. Frühlingshaft und blumig war es an der Front ganz und gar nicht. Unser Vater Fritz wurde verwundet.

Nach ein paar Wochen Lazarett bekam er Heimaturlaub. Wie ein böser Traum war das letzte Jahr im Kanonenhagel an ihm vorübergezogen. Der Seelenschmerz war etwas verheilt. Viel stärker waren die körperlichen Schmerzen. Endlich zu Hause. Fritz musste vor Freude blind gewesen sein, er bemerkte nicht, wie blass und mager die Jungs waren. Wie ängstlich und verstört sie dreinschauten. Niemals hatten sie zerrissene Kleider tragen müssen. Sollten schon nach dem ersten Kriegsjahr alle Vorräte aufgebraucht sein?

Wahrscheinlich ist sein feines Gefühl, sein Sinn für Ästhetik, dass er als Künstler immer hatte, im Dreck an der Front verloren gegangen.

Er lebte, er war zu Hause, die Buben an seiner Seite, das alles war unbeschreiblich wertvoll. Leider nur für bestimmte Zeit. Es gab wirtschaftliche Dinge zu besprechen. Die Wirtschafterin trat konkret an Fritz heran: „Wie lange bleiben sie, die Bankvollmacht müssen sie mir noch geben, wenn ich weiterhin im Hause bleiben soll, außerdem steht mir noch für ein ganzes Jahr der Lohn zu!“

„Ich wollte sie gerade darum bitten zu bleiben“, antwortet Fritz demütig.

„Dann sollten sie mich heiraten!“, kam eine Antwort, sachlich wie auf dem Pferdemarkt. Es muss dem Mann die Sprache verschlagen haben. Er hatte sie noch nie bei ihrem Vornamen genannt. Mit solchen Gedanken hatte er sich noch nie beschäftigt. „Es wird wohl die beste Lösung sein“, antwortete Fritz wie hypnotisiert.

Noch während des Genesungsurlaubes kam es zu einer Vernunftehe. Fritz fiel es verdammt schwer, seine neue Frau Rosa zu nennen. Seine Hanne würde niemand verdrängen können. Immer wenn er in die blauen Augen von seinem Jüngsten schaute, sah er seine Johanna.

Die wenigen friedlichen Tage waren schnell vorüber. Fritz musste wieder ins Feld rücken. Von nun an hatte Rosa die Macht. Großmutter Agnes bekam Hausverbot. Den Jüngsten durfte sie mitnehmen. Der taugt noch nicht zur Arbeit und außerdem sah er seiner Mutter zu ähnlich.

Paulchen zählte fünf Lenze als er zu seinen Großeltern kam. Liebe, Geborgenheit, Kleidung, Essen und Trinken waren für eine Weile gesichert. Die Großeltern liebten den Jüngsten von ihrer Tochter Johanna von ganzem Herzen. Doch waren ihre Herzen nicht mehr so jung, um für Paulchen ewig da zu sein.

Paul blühte richtig auf an der Seite seines Großvaters. Der Alte nahm ihn mit zur Hausschlachtung. Die Bauern hatten nichts dagegen. Jeder hatte Mitleid mit dem Kleinen und jeder verwöhnte ihn. Paul trabte immer mit, von Früh bis Spät. Spät hieß vor allem, Großmutter kam mit der Schubkarre und holte ihren Mann nach Hause. Weil der Selbstgebrannte den alten Fleischermeister nicht mehr auf den Beinen hielt. Dieses Ritual gab es in den Wintermonaten Tag für Tag, das halbe Dorf lachte schon darüber.

Die Schlachtsaison ging meist im Frühjahr zu Ende Hier und da hatte manch ein Bauer so kurz vor Ostern noch eine Bitte an den alten Metzger Hahn. Zum Beispiel einen Hammel schlachten, von dem der Metzger ein Stück abbekam. Der Großmutter von Paul konnte das nur Recht sein, hatte sie doch in diesem Frühjahr ihren Enkel einzuschulen. Und so ein Lammbraten war eine Delikatesse. Auf dem Schwarzmarkt hatte der Großvater schon ein paar echte Lederschuhe gegen einen Schinken eingetauscht. Auch ein Militärtornister, die Klappe aus echtem Affenfell, war schon besorgt. Paul sollte sich freuen, das lag den Großeltern sehr am Herzen.

Stolz marschierte der kleine Große an der Hand der Großmutter auf dem Weg zum ersten Schultag. Frau Tölle brachte ihre Älteste auch zur Einschulung. Die kleine mollige Else.

Vor dem alten Schulhaus hatten sich eine Menge Leute eingefunden, alles Frauen. Die Männer waren im Krieg.

Der Lehrer war ein alter grauhaariger Mann, mit strengem Blick und zerfurchtem Gesicht. Seinen schwarzen Gehrock hatte er schon viele Dienstjahre auf dem Buckel. Eigentlich war der Lehrer schon längst in Pension, aber der Krieg zeigte schon deutlich seine Ausmaße. Er mähte die jungen Männer aus den Reihen der Bevölkerung, wie der Bauer sein Gras zum Füttern. Als Kanonenfutter sahen sich die Soldaten selbst. Die meisten Soldaten wussten nicht einmal, wofür sie kämpften.

Der kleine Aufmarsch vor der Schule war auch die Gelegenheit, einer anderen Frau „Grüß Gott“ zu sagen. Ihr die Hand zu schütteln und sich nach dem Gatten zu erkundigen. Gefallen, vermisst oder keine Post, das waren wohl die häufigsten Worte, die man hätte belauschen können. Auch Großmutter Agnes und Frau Tölle kamen ins Gespräch. Das Schicksal der Familie Schirmer bewegte vor zwei Jahren den ganzen Ort und war noch nicht vergessen. Die Sorgen liegen wie eine schwere Last auf den Schultern derer, die sie Tragen müssen.

Die Begegnung einer bestimmten Person mieden alle Frauen des Ortes. Das war der ausgemusterte Landrat, der die Todesnachricht ins Haus brachte Für die kleinen Sechsjährigen hingegen war jener Tag ein aufregendes Ereignis. Zumindest für Paul Schirmer. Hatte doch die Großmutter sogar eine kleine Zuckertüte zusammengestellt. Der Inhalt waren Plätzchen aus Haferflocken, gestrickte Sachen, eine Schiefertafel, Griffel und Glasmurmeln, welch ein Reichtum. Für Paul begann nun der Schulalltag. Schnell hatte der Lehrer erkannt, dass der kleine Schirmer ein ganz pfiffiges Bürschchen war.

Er war aufmerksam und spielend schnell erfasste er die Zusammenhänge. So war es nicht weiter verwunderlich, dass Paul bald auf die begehrte erste Reihe kam. Die kurioserweise ganz hinten in dem Klassenzimmer stand. Dort saßen nur die besten Schüler.

Für die nächsten zwei Jahre brauchte Paul seinen Platz nicht mehr zu räumen. Bis das Schicksal das Blatt wieder wendete.

Man schrieb das Jahr 1918, der Krieg war aus. Der Kaiser hatte seine Macht verloren, die Regierung übernahm die sogenannte Weimarer Republik. Deutschland stürzte in eine Wirtschaftskrise, die Menschen kämpften ums überleben. Die wichtigste Frage war doch sicherlich, wer hat überlebt, wer kehrt Heim. Der Landrat ließ verkünden, wo und wann die Transporte mit den ersten Heimkehrern eintreffen sollten.

Stunden zuvor standen Angehörige auf dem Bahnsteig. Meist junge Frauen. Zwei widersprüchliche Merkmale, eng miteinander verbunden waren die kleinen Blumensträuße und die dicken Tränen. Sie wären jedem Betrachter aufgefallen. Die Tränen flossen für die Vermissten. Denn die Hoffnung stirbt zuletzt.

Endlich trafen die Viehwagons ein, vollgestopft mit Soldaten. Abgemagert, verlaust und zerlumpt. Sie waren nicht mehr die gleichen Männer, die einst vor vier Jahren in den Krieg zogen. Ihre Seele war gebrochen. Für unseren Vater Fritz war niemand zum Empfang gekommen. So bemerkte auch niemand, dass er überhaupt nicht dabei war.

Viel später, als die Männer aus seinem Heimatdorf längst zu Haue waren, fuhr bei Schirmers ein altes Vehikel von Krankenwagen vor. Zwei Sanitäter brachten Fritz vom Lazarett direkt nach Hause. Der Verwundete konnte sich kaum noch selbst bewegen. Doch war es keine offene blutige Wunde, die nur ein bisschen Pflege gebraucht hätte und dann wieder geheilt wäre. Ein Granatsplitter steckte in der Wirbelsäule. Mehr wusste Fritz auch nicht. Er spürte nur, dass sein Körper von einer Lähmung gefangen war.

Das Wiedersehen mit Rosa fiel nüchtern und sachlich aus. Eine eisige Kälte erfüllte plötzlich den Raum. Die Sanitäter packten den Heimkehrer auf dem Sofa im Wohnzimmer nieder. Denn in Fritz’ Bett lag ein fremder Mann. Es war Rosas Vater, sie hatte ihn bei sich aufgenommen.

„Wo sind meine Jungs?“, fragte Fritz. Suchend irrte sein Blick durch den Raum. Rosa zählte fein der Reihe nach auf: „Der Älteste ist auf dem Gut arbeiten, die beiden Mittelsten sind im Garten graben. Und deinen Liebling hat die Alte mitgenommen.“

 

Während Fritz überlegte, wie er in den Nachbarort zu seiner Schwiegermutter gelangen könnte, trat ein weiterer fremder Mann in die Stube. Rosa stellte ihn als ihren Bruder vor. Welcher sich ebenfalls häuslich niedergelassen hatte. „Mein Bruder schläft in Ottos Kammer“, fügte Rosa noch hinzu.

Otto kam schon lange nicht mehr nach Hause. Er schlief auf dem Gut im Pferdestall. Dort war er als Knecht angestellt.

Fritz überlegte immer noch fieberhaft, wie er ins Nachbardorf kommen könnte. Wer hat noch Pferd und Wagen? Selbst der klapprigste Gaul war an der Front gelandet. Spätestens jetzt wusste Fritz, dass er für immer auf fremde Hilfe angewiesen sein würde.

Unendliche Traurigkeit machte sich in seinem Herzen breit. Eine Traurigkeit, die so richtig schmerzte. Das ist nicht mehr mein zu Hause. In nur vier Jahren war das gesamte Vermögen aufgebraucht. Das Hauptkapital bestand vorwiegend aus Granit, Marmor und Alabaster. Alles weg, dafür bestimmten jetzt fremde Menschen in seinem Haus. Die Vitrinen waren ebenfalls leer. Kein Porzellan, kein Kristall war mehr zu sehen. Auf die Frage, wo denn all die wertvollen Sachen geblieben sind, brach bei den Eindringlingen großes Gelächter aus. „Dann muss der große Meister erstmal seine Werkstatt sehen!“, sagte ironisch Rosas Bruder.

Fritz biss die Zähne zusammen und kniff die Augen zu, um nicht zu schreien oder gar Tränen zu zeigen. Ihm war plötzlich die Tragweite seiner Lage bewusst. Er wird dieser Frau für immer ausgeliefert sein. Ohne eigene Kraft, sich zu wehren. Er litt wie ein kleiner zugelaufener Hund, der nur noch einen kleinen Platz zu beanspruchen hatte. Wie ein verjagter, kleiner Hund litt auch sein jüngster und liebster Sohn, nur wenige Kilometer von ihm entfernt.

Für den Jungen stürzte seine heile Welt zusammen. Zersplittert wie ein zerbrochener Spiegel und mit Scherben konnte der Achtjährige nichts anfangen.

Eines Morgens lag die Großmutter tot im Bett. Einfach so, ohne Voranmeldung. Das ist nun schon eine Woche her, vielleicht auch länger, wer zählt schon die Stunden so genau, wenn es drunter und drüber geht. Seitdem war Großvater nicht einen Tag mehr nüchtern. Paul ging nicht mehr zur Schule, er konnte sich einfach nicht mehr orientieren.

Der disziplinierte Tagesablauf, wie ihn die Großmutter immer gestaltete, war abrupt weggefallen. Jeden Abend zeitig und gründlich gewaschen zu Bett gehen, das gehörte zwar zur Ordnung, ist aber für ein völlig verstörtes Kind zum Überleben nicht unbedingt von Nöten. Seine ganz natürlichen Bedürfnisse zum Überleben konnte Paul zumindest selbst instinktiv sichern. Lebensmittelvorräte gab es genug im Haus. Auch konnte der Junge verdorbene von essbaren Lebensmitteln unterscheiden.

Im ganzen Haus machte sich ein furchtbarer Gestank breit. Großvater lag meist auf dem Boden zwischen leeren Schnapsflaschen und seinem Erbrochenen. Die Kleider hatten beide schon Tagelang nicht mehr gewechselt. Im Gegensatz zum Großvater benutzte der Junge noch das Plumpsklo im Garten. Diese Hürde vermochte der alte Metzger nicht mehr zu schaffen. Wie oft der Junge versucht haben mag dem Alten auf die Beine zu helfen, weiß niemand mehr so genau.

Außer dem Vater Fritz machte sich noch eine andere Person Gedanken um Paul. Es war sein Lehrer, er hatte den kleinen pfiffigen Kerl in sein Herz geschlossen. Dem alten Lehrer war es längst zu viel geworden zu unterrichten. Das Leben hatte ihn verbittert gemacht. Er erfüllte nur noch seine Pflicht. Es ging einfach gegen seine Ehre, dass er viele Dummköpfe für ein Stück Speck versetzen musste. Auch ein Lehrer kann nicht allein vom Idealismus leben. Denn ein Lehrergehalt gab es schon lange nicht mehr. Alles sträubte sich gegen seine Natur. Aber der kleine Schirmer hatte sein Pädagogen-Herz noch einmal berührt.

Den Schulalltag konnte der alte Veteran auch nicht mehr mit konsequenter Regelmäßigkeit durchführen. Mal plagte ihn das Rheuma, mal fehlten ein paar Schüler. Der Lehrer wusste dann genau, die Kinder wurden als Arbeitskraft gebraucht, oder die Familien hatten einen gefallenen Angehörigen zu beklagen.

Aber bei Paul war es doch was anderes, er lebte doch bei den Großeltern, und Großmutter Hahn war eine resolute Person, die immer alles im Griff hatte So manche leckere Schlachtschüssel hatte sie ihm zugesteckt. Fragen über Fragen, ließen sich durch Vermutungen nicht beantworten.

Also entschloss sich der Lehrer seinen Schüler Paul Schirmer zu besuchen. Sechs Kilometer mit dem Drahtesel würde er schon noch bewältigen, denn Geld für eine Droschke hatte er nicht. Der Lehrer machte sich also auf den Weg. Das klapprige Fahrrad und der holprige Feldweg ließen die morschen Knochen schmerzen. Es war ihm plötzlich so ein starkes Bedürfnis geworden nach dem Jungen zu sehen. Der Lehrer ahnte nichts Gutes, es hämmerten die schlechten Gedanken im Kopf und ließen die Schmerzen vergessen.

Der Lehrer fragte sich durch, den alten Metzger kannte jeder im Dorf. Dessen Haus lag ziemlich weit draußen am Waldesrand. Vor einer Woche wurde seine Frau beerdigt, dies und vieles mehr erfuhr der Lehrer schon auf dem Weg dorthin. Das Bild, welches sich dem alten Schulmeister beim Eintreffen dann tatsächlich bot, war viel schlimmer als er vermutet hatte.

Das Taschentuch vor Mund und Nase gehalten, verschaffte er sich schnell einen Überblick. Der alte Metzger machte seine letzten Atemzüge. „Tot gesoffen“, schoss es dem Lehrer durch den Kopf. „Wo ist der Junge?“, fragte der Schulmeister sich selbst, denn der Sterbende gab ihm keine Antwort mehr. Er suchte das gesamte Haus ab. Dann die Nebengebäude. Er fand den Jungen schließlich im Ziegenstall. Paul war ganz ruhig, aber auch völlig verwahrlost und apathisch vor sich hin starrend. Schmutzig, übel riechend, das schöne schwarze Haar verfilzt, so fand ihn der Lehrer vor. Er reichte Paul seine Hand, aber der völlig verwirrte Junge reagierte nicht. Jetzt war die Kunst des Pädagogen gefragt, um den Jungen ohne Gewalt aus diesem verdammten Stall rauszubekommen.

„Ich muss Hilfe holen“, sprach er zu sich selbst. Sechs Kilometer zurück zum Landratsamt, das schaffte der alte Lehrer nicht. Also entschloss er sich, sich ins Dorf zu begeben. Um Hilfe und Zeugen zu finden, vielleicht sogar Pferd und Wagen aufzutreiben. Das wäre großes Glück. Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft. Und wieder führte er Selbstgespräche: „Ich werde den Jungen zurück in sein Vaterhaus bringen, zu seiner Stiefmutter. Vielleicht ist auch der Vater wieder zu Hause, es waren doch schon so viele heimgekehrt.“ Der Lehrer handelte klug, besonnen, zügig und ganz im Sinne eines Pädagogen. Vor allem zum Wohl des Jungen. Doch eine Wiedersehensfreude gab es nicht.

Es war bereits spät abends, als Paul und sein Lehrer vor dem Haus des Steinbildhauers standen.

„Ich will hier nicht rein“, mit diesen Worten sträubte sich der Junge mit all seiner Kraft gegen das Eintreten in sein Elternhaus.

Da drin war nicht mehr seine Mama, aber auch nicht mehr sein Vater, so wie ihn Paul in Erinnerung hatte. Paul konnte dem um Jahre gealterten, steifen Mann, der da auf dem Sofa lag, nicht um den Hals fallen, wie es der Lehrer erwartet hatte. Vater Fritz dagegen freute sich sehr, er konnte seine Tränen nicht geschickt verbergen. Hatte er es doch dem alten Schulmeister zu verdanken, dass Paul wieder daheim war. Die Männer fielen in ein tiefes Gespräch. Sie plauderten über Friedenszeiten, über den Krieg, die Inflation. Der Lehrer erwähnte noch, dass er Johanna Hahn auch schon als Schülerin hatte. Dann kam ein tiefer Seufzer aus seiner Brust. Und mit leiser Stimme erzählte er dann Fritz, was er im Hause Hahn vorgefunden hatte. Und von seiner Entscheidung, die Behörden einzuschalten. Als der Lehrer den kranken Mann so betrachtete, wusste er, dass er instinktiv richtig gehandelt hatte.

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