Triangel

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Ein Häuschen im Grünen, eine Zuflucht, eine kleine heile Welt. Viele haben diesen Traum. Dass man das Unheile aber in sich trägt und an den Zufluchtsort mitnimmt, das ist der Stoff, aus dem intelligente Thriller sind. Hitchcock wusste das filmisch in Szene zu setzen, Anne Goldmann erzählt es literarisch, als Geschichte von heute – sinnlich, sehr direkt, ja intim. Feinfühlig und akkurat zeigt sie beschädigte Egos, die sich in eine abgesicherte Identität zu coachen versuchen, wie man es heutzutage als braver Konsument tun soll. Männer und Frauen in verzweifeltem Rollentanz: Regina Aigner wählt den Rückzug und sucht einen Schutzwall aus Wohnqualität zu errichten, Paul Marek strebt nach einer Bindung, die ihm Sinn verleiht. Angst, nicht zu genügen, Versagensangst, Angst vor Nähe, Angst vor Verlust: das Hier und jetzt als Puzzle aus Selbstentfremdung, Vereinzelung und Ohnmachtsverhältnissen. Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst. Und der Einzige, der sich dem inneren Gefängnis zu entziehen vermag, ist ein Mörder … Anne Goldmanns klarer, melancholischer Thriller späht in die Kluft innerhalb des gesellschaftlichen Subjekts, und sogar angesichts all dieses selbstgestrickten Elends ist ihre Erzählkunst einfach ein Genuss.

Else Laudan

Die Autorin:

Anne Goldmann, geboren 1961, wuchs in einer Großfamilie auf dem Land auf. Sie jobbte als Kellnerin, Küchenhilfe und Zimmermädchen, um sich die Ausbildung zur Sozialarbeiterin zu finanzieren. Einige Jahre arbeitete sie in einer Justizanstalt, derzeit betreut sie Straffällige nach der Haft. Anne Goldmann begann früh zu schreiben, gewann zwei Literaturwettbewerbe, veröffentlichte ein paar Texte, verwarf dann alles und entdeckte erst vor wenigen Jahren das Schreiben wieder neu. Für ihr Romandebüt Das Leben ist schmutzig (2011 bei Ariadne) erhielt sie hymnische Kritiken. Triangel ist ihr zweiter (im weitesten Sinn) Kriminalroman.

Anne Goldmann

TRIANGEL

Ariadne Krimi 1202

Argument Verlag

Ariadne Krimis

Herausgegeben von Else Laudan

www.ariadnekrimis.de

Deutsche Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten

© Argument Verlag 2012

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

Umschlag: Martin Grundmann

Fotomotiv: © Findus2000 – Fotolia.com

Lektorat: Else Laudan

Satz: Iris Konopik

ISBN 9783867549363

Zweite Auflage 2012

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

Inhaltsverzeichnis

Cover

Vorwort

Titel

Impressum

Triangel

Weitere Werke

Der Bagger frisst sich durch die Wiese zum Haus hin. Er senkt und hebt die Schaufel, beißt Rasenstücke heraus und wühlt in der weichen Erde. Wie ein beharrlicher kurzbeiniger Köter schnappt er zu und stößt nach. Mit messerscharfen Zähnen. Wurzeln dehnen sich, zerreißen. Er heult auf, packt die Beute und setzt zurück. Längs des abgesteckten Gevierts, in dem er wütet, türmt sich ein frischer Erdwall. Eine große offene Wunde, eine wulstige Narbe mitten im Paradies.

Das Häuschen steht am Ende einer locker bebauten kleinen Straße. Süß duftendes Geißblatt, Rosen und weiße Clematis ranken am Torbogen. Man sieht Obstbäumchen und weiter hinten, zum unbebauten Nachbargrundstück hin, wiegt sich ein Holunderstrauch im leichten Wind. Dahinter liegt der Wald. Links vom Haus, neben dem alten Brunnen, ein ordentlicher kleiner Gemüsegarten. Im Hochbeet wachsen Kräuter. Über Lavendelwolken schwebt das Summen der Bienen. Der Blick streift schaukelnde Lupinen, Rittersporn und dicht gefüllte Rosen, blassrot und schon ein wenig müde. Im Halbschatten unter dem Birnbaum eine grün lackierte Bank. Ein Tisch. Flirrendes Licht. Sperlinge tschilpen und plustern sich. Eine kleine getigerte Katze sonnt sich auf dem warmen Holz. Ihre Pfötchen zucken. Sie träumt. Langsam rollt sie sich auf den Rücken, hält den Bauch in die Sonne und beginnt leise zu schnurren.

Die Frau im hellblauen Hemd streicht eine Haarsträhne hinters Ohr. Sie ist mit ihrer Arbeit zufrieden. Zum Haus hin ist das Erdreich einfacher zu bewegen. Keine Bäume, kaum Wurzeln. Der kleine gelbe Bagger ist wendig. Er wühlt und gräbt, fasst nach, streckt die Schaufel hoch, wendet und knickt sie dann abrupt nach vorne. Erbricht Erde. Erdbrocken. Rasenstücke. Steine. Die Frau blinzelt. Ihr Gesicht ist auf Nase und Stirn leicht gerötet. Um die grünen Augen feine Linien, um den Mund ein entschlossener Zug. Sie streckt sich. Steine? Das Hemd klebt ihr am Rücken. Dunkle Flecken unter den Achseln. Sie hebt den Hintern leicht an und beugt sich vor. Mit einem schmatzenden Geräusch lösen sich die Schenkel vom Sitz. Ihre Augen verengen sich. Sie hält die Hand hoch als schützendes Schild gegen die Sonne: nichts. Irrbilder. Mit einem Mal ist die alte Angst wieder da. Nun stellt sie den Motor ab. Massiert sich den Nacken. Sie steigt vom Bagger. Ein paar steifbeinige Schritte. Die Füße stecken in festen Arbeitsschuhen. Sie nagt an der Unterlippe und stemmt die Hände ins Kreuz. Dann macht sie drei Schritte nach rechts, und der Übergang in den Schatten lässt sie unversehens frösteln. An den gebräunten Unterarmen stellen sich feine goldene Härchen auf.

In der Erde vor ihr schimmert es weiß. Ihr rechter Fuß tritt nach dem Hellen. Knochen! Tierknochen. Ein großes Tier. Sie geht langsam in die Knie und schiebt mit der flachen Hand die Erde beiseite. Rippenbögen. Vielleicht ein Schaf? Ein Hund? Ein großer Hund. Ihre Knie schmerzen. Der Rücken. Die Sonne verbrennt ihr den Nacken. Mit einem Stöhnen kommt sie wieder hoch. Mechanisch schaut sie auf die Uhr. Kurz nach drei. Müde ist sie. Jetzt etwas trinken. Ein wenig rasten, bevor sie weitermacht. Mit dem rechten Fuß pflügt sie einen großen Kreis. Stößt an etwas Hartes, Rundes. Beugt sich noch einmal hinab, greift in die Erde. Geht auf die Knie. Wühlt, gräbt. Greift in eine scharfkantige Höhlung. Zieht reflexartig ihre Hand zurück.

Ein Totenschädel starrt sie an.

Zehn vor drei. Mit einem Schlag kam alles in Bewegung. Die Gruppe rottete sich zusammen. Hände griffen sich Sporttaschen, Rucksäcke, eine Jacke. Die Gespräche verebbten. Man spürte die Anspannung. Unruhiges Scharren. Wie am Start eines Wettlaufs kämpfte jeder um die beste Position, den Blick nach vorne gerichtet. Das Ziel war keine dreißig Meter entfernt.

Die meisten trugen Freizeitkleidung, einige wenige ein Radfahrdress. Man sah grelle, wild gemusterte Hemden und den einen oder anderen Bierbauch. Offene Bikerjacken, Leder. Reginas Blick glitt über ausrasierte Nacken und gut definierte Oberarme. Knackärsche. Die Rambos! Überdosen von Duschgel und Testosteron. Reginas Problem war ihre sehr empfindliche Nase. Und nicht nur das.

Wenig später stürzte sich die Horde wie auf Kommando in das schmale Stiegenhaus, Schulter an Schulter. Reibung, Stoßen, Gedränge. Lachen. Wie Buben am letzten Schultag. Dann eine Wendung. An der Torwache vorbei. Weit offene Türen. Und das gleißende Licht, die Hitze wie ein Schlag.

Regina richtete sich auf den Dienst ein, zog sich um, holte ihren Schlüsselbund. Die Glock wurde nur bei der Ausführung von Insassen zu Gericht oder in ein Spital, bei Überstellungen in eine andere Anstalt und für Schießübungen ausgefasst. Einige Kollegen führten aber auch privat eine Waffe.

Wie ein Aquarium stand die Schaltzentrale mit den Überwachungsmonitoren im Zentrum des Wachzimmers. Die Uniformierten, Männer und Frauen, bewegten sich langsam, wie unter Wasser. Es roch nach Rauch, Essen und Schweiß. Niemand achtete auf das Radio, das im Hintergrund plärrte. Telefone schrillten durcheinander. Kowalsky nickte ihr zu. Sein Blick folgte ihr. Er lehnte am Pult, bereits in Uniform, senkte die Augen wieder auf den Bildschirm, während er ins Telefon bellte und zwei junge Kollegen zu sich winkte. Plötzlich freute sie sich auf den Dienst. Sie fasste sich in den Nacken, angelte nach einem Haargummi und band sich die feuchten Strähnen hoch. Trotz weit geöffneter Fenster stand die Luft. Die Sonne knallte auf den hellgrauen Zellentrakt gegenüber, der die Hitze zurückwarf. Die Fenster einiger Hafträume waren mit feuchten Tüchern verhängt. Statt sie abzukühlen machten sie die Zellen zu Dampfkammern und die Häftlinge aggressiv. Im Hochsommer glichen die Hafträume Backöfen, und aus den geringsten Anlässen kochten Konflikte unter den Insassen hoch. In eineinhalb Stunden, nach dem Abendessen, gegen halb fünf, begann die Nacht. Die Abteilungsbeamten verließen die Trakte. Die Gefangenen, zusammengepfercht in den überfüllten Hafträumen, waren unter sich.

Die Stunden krochen dahin. Regina war unkonzentriert und verließ sich auf ihre Routine. In der Schleuse herrschte Hochbetrieb. Laufend wurden neue Verhaftete eingeliefert. Die meisten von ihnen rochen übel. Knapp zwei Tage ohne frische Wäsche auf der Polizeiinspektion und der Stress mehrfacher Vernehmungen hinterließen Spuren. Starke Raucher und Alkoholiker stanken noch tagelang nach der letzten Zigarette, dem letzten Schnaps. Mehrere Männer und eine apathisch wirkende Frau mit stark verfilzten Haaren wiesen Blessuren auf, die auf eine wilde Schlägerei hindeuteten. Die Kollegen von der Polizei und vom Zugang waren nicht zu beneiden. Es erforderte Autorität, Gelassenheit und einen robusten Magen, die notwendigen Formalitäten abzuwickeln. Die Neuzugänge mussten sich entkleiden und duschen. Danach wurde ihnen ihre Kleidung wieder ausgehändigt. Nach dem Lungenröntgen ging es zum Arzt.

 

Ein kleiner sehniger Mann, der die Aufnahmeprozedur bereits hinter sich hatte, wirkte hoch aggressiv. Als Micko und sie sich näherten, begann er unflätig zu schimpfen und spuckte ihnen vor die Füße. Micko warf ihr einen Blick zu. Sie nickte.

»Machen Sie keine Schwierigkeiten«, mahnte sie ruhig und trat auf den Mann zu. Manchmal war es besser, wenn eine Frau übernahm. Der Sehnige schnaubte wütend. Er dünstete Schnapsgeruch aus, seine Kleidung roch muffig und verschwitzt. Regina überwand ihren Ekel und berührte ihn leicht am Oberarm. »Kommen Sie.« Ohne Probleme verfrachteten sie den Mann in eine der Zugangszellen. Er würde morgen dem Haftrichter vorgeführt werden, der über die Verhängung der Untersuchungshaft zu entscheiden hatte.

Die anderen Delinquenten waren um nichts angenehmer. Ein Junkie mit auffallend schlechten Zähnen kratzte sich den Arm blutig. Er dämmerte immer wieder kurz weg, fuhr unvermittelt hoch und fragte im Minutentakt nach der genauen Zeit. Dann verlangte er einen Anruf bei seiner Mutter. Sein linker Handrücken war von knotigen, schlecht verheilten Narben entstellt. Die verwahrlost wirkende Frau hatte nun leise zu weinen begonnen und wiegte sich vor und zurück. Regina freute sich auf ihre Ablöse und eine kurze Pause.

Gegen halb zehn winkte Kowalsky sie zu sich. »Ich hab niemanden für die Spitalsbewachung. Springst du ein?« Bis dahin hatten sie kaum ein Wort gewechselt.

Regina nickte. »Ist gut.«

Das Krankenhaus lag am Stadtrand. Der Fahrer parkte unweit des Pavillons, und Regina ging die letzten Schritte zu Fuß. Trotz ihrer Abneigung gegen Krankenhausgerüche mochte sie die seltenen Dienste, die Nächte hier ganz gern. Früher hatte sie meist ein Buch mitgenommen. Eine Thermoskanne mit Milchkaffee. Der Getränkeautomat lag ein Stockwerk tiefer. Damals hatte sie sich nicht getraut, ihren Posten zu verlassen. In den ersten Jahren war das Klima zwischen den Schwestern und der Wache denkbar schlecht gewesen. Sie erinnerte sich an den rauen Umgangston, die Zurechtweisungen und Revierkämpfe, zumal nach dem Vorfall mit den beiden älteren Beamten, die kurz danach abgelöst worden waren. Es hatte lange gedauert, bis der Ton freundlicher wurde. In den letzten Jahren wurden hier vor allem junge Beamte eingesetzt, was dem Klima ausgesprochen zuträglich war. Die Schwestern waren offen und freundlich. Ihr Alltag ähnelte sich in vielem.

Regina kontrollierte am Handy die Zeit und schaute dann zurück über das sanft ansteigende Gelände, auf dem auch die Psychiatrie untergebracht war. Die Stadt glitzerte unter einem leichten Schleier. Hier im Grünen war es angenehm kühl. Es duftete nach Heu. Fledermäuse witschten durch die Luft, und irgendwo in den Bäumen schrie ein Käuzchen. »Totenvogel« nannte ihn Johanna. Sie schlief wohl schon. Regina seufzte.

Die Eingangstüre zum Pavillon öffnete sich automatisch. Dahinter stand die Luft. Der Gang lag still vor ihr. Niemand war zu sehen. Der Geruch verdichtete sich. Die Welt stank. Sobald sich mehrere Menschen in einem Raum aufhielten, begann es unangenehm zu riechen. So leicht es Regina fiel, sich andere vom Leib zu halten, so hilflos war sie den Gerüchen ausgeliefert, die sie unentwegt ausströmten. Vor allem im Sommer litt sie wie ein Hund. Sie mied, so gut es ging, Menschenansammlungen und fuhr ausschließlich mit dem Auto. Zielstrebig schritt sie den Gang entlang. Das Dienstzimmer war hell erleuchtet. Niemand im Raum. Ein Bildschirm flimmerte, und irgendwo piepste es leise, aber beharrlich. Sie sah einen vollgepackten Medikamentenwagen, Patientenakten lagen offen auf dem Tisch. Regina hörte Schritte und wandte sich um. Eine junge Schwester, groß, in einem etwas zu kurzen Kittel, der bleiche runde Knie sehen ließ und über dem Bauch aufklaffte, stürmte auf sie zu. Die leicht vorstehenden Schneidezähne im langgezogenen Gesicht mit dem starken Kinn und die funkelnden Augen unter dicken blonden Stirnfransen gaben ihr das Aussehen eines wütenden Pferdes.

»Guten Abend, Revierinspektorin Aigner. Ich löse meinen Kollegen –«

»Was zum Teufel machen Sie hier? Sie haben im Dienstzimmer nichts zu suchen. Raus da. Aber rasch!«, herrschte die Schwester sie an.

Regina straffte sich und schob das Kinn vor. »Hören Sie«, blaffte sie, »ich bin hier nicht zu meinem Vergnügen. Ich bin wie Sie im Dienst.«

Keine Reaktion. Die Schwester wandte sich nicht um. Mit aufreizender Langsamkeit durchquerte sie den Raum und setzte sich vor den Bildschirm. Der Schreibtischstuhl ächzte. Ihr dicker Hintern floss in die Breite. Dann hackte sie in die Tasten. Die Uhr über dem Schreibtisch ließ ein metallisches monotones Ticken hören. Plötzlich schnellte die Frau herum. »Raus, sagte ich!«

Mit drei Schritten war Regina bei ihr. Elendes Miststück! Na warte!

Eine ruhige dunkle Stimme ließ sie beide herumfahren: »Jutta, gehst du bitte auf A 4. Frau Pavouk braucht die Schüssel, und ihre Nachbarin –« Die zweite Schwester, älter, dunkelhaarig und gleichfalls mollig, blieb an der Tür stehen. »Was ist hier los?«

Regina atmete aus.

»Jutta?«

»Die da«, die junge Schwester wies mit dem Kinn in Reginas Richtung, »hat hier herumgeschnüffelt. Ich hab sie hinausgebeten. Aber sie geht nicht. Sollte besser den anderen Wärter ablösen.«

Die Ältere schüttelte den Kopf. Sie näherte sich rasch und streckte Regina eine erstaunlich kleine, feste Hand entgegen. »Ich bin Schwester Hedi.« Dann wandte sie sich um. »Jutta, gehst du jetzt bitte auf A 4. Danke. «

Irgendwo weiter hinten im Gang hörte man lautes eindringliches Jammern. Die blonde Schwester erhob sich langsam und schob sich ganz nahe an Regina vorbei. Ihr mädchenhaftes Blumenparfum vermischte sich mit ihrem leicht säuerlichen Schweiß und dem penetranten Geruch ihres Haarsprays. Regina erschrak über den Hass in ihren Augen.

»Jutta, die Beamtin macht nur ihre Arbeit«, ließ sich die Dunkle vernehmen und schob den Medikamentenwagen zur Seite.

»Tolle Arbeit. Sind Sie stolz drauf, Wärterin zu sein, ja? Sie sperren sie ein wie die Tiere. Lassen sie nicht einmal zum Sterben heim. Aber sich davonschleichen, wie der feine Kollege, wenn einer dann abkratzt. Nicht hinschauen, nicht dabei sein wollen. Feiges Pack.« Sie sah Regina an, als wollte sie sie anspucken.

»Jutta!«

Mit einem verächtlichen Schnauben stürmte die Blonde aus dem Raum.

»Entschuldigen Sie«, sagte Schwester Hedi wieder und berührte Regina leicht am Unterarm. Die erstarrte. »Tut mir leid. Sie ist wohl einfach überarbeitet. Sie ist ein nettes Mädchen. Zwei ihrer Patienten sind diese Woche gestorben. Sie war jedes Mal dabei. Wir sind unterbesetzt. Da gibt es kaum Pausen zwischen den Diensten. Man kann nicht abschalten. Sich nicht erholen. Es wird einem alles zu viel …«

»Hm«, machte Regina und würgte an ihrem Zorn. Sie hatte Mühe zuzuhören. Sollte der Trampel eben was anderes machen, wenn sie es nicht aushielt. Was gab ihr das Recht, sie anzuschnauzen!

»Wissen Sie«, fuhr Schwester Hedi fort, »jede geht anders damit um. Die einen werden zynisch, die anderen verdrängen, aber das geht nicht gut. Man macht sich kaputt. Die philippinischen Kolleginnen kommen wahrscheinlich am besten damit klar. Die sind gläubig, da gehört der Tod zum Leben. Der Tod als Erlösung. Und Sie, glauben Sie an Gott?«

Regina schüttelte den Kopf. Sie trat einen Schritt zurück. Die andere folgte ihr. Wieder stand sie viel zu nahe. Sie roch ihren Atem: einen Hauch von Zwiebeln. Kaffee. Regina spürte die Wand im Rücken und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ich auch nicht. Wissen Sie – ich, ich muss reden. Mit den Kranken. Den Kollegen. Mit den Sterbenden. Sie nicht allein lassen, das ist das Wichtigste. Und selber jemanden zum Reden haben. Einen lieben Partner. Freunde. Nicht allein bleiben. Wie ist das bei Ihnen? Entschuldigen Sie.« Sie hielt kurz inne. »Es ist nur, weil – Ihre Arbeit ist auch nicht einfach. Da ist es gut, wenn jemand auf einen wartet.«

»Hm«, machte Regina.

»Herr Moser liegt im Sterben. Ich glaube nicht, dass er die Nacht überlebt. Die Kollegin hat sich die ganze Zeit sehr um ihn gekümmert. Es kommt ja niemand zu ihm.«

Regina schaltete ab, während die Schwester weiter auf sie einredete. Sie dachte an Johanna. An ihr Vorhaben. Sie musste Micko nochmals wegen der Baumaschine fragen. Sie ging im Kopf ihren Dienstplan für die kommenden vier Wochen durch. Ende des Monats, beschloss sie dann. Sie hatten lange genug zugewartet. Die Bewilligung war so gut wie sicher. Raufer würde das Nachsehen haben.

Eine Bewegung riss sie aus ihren Gedanken. »Kommen Sie!« Schwester Hedi legte ihr neuerlich die Hand auf den Arm. »Ihr Kollege wartet schon.«

Paul Marek war sehr blass. Sie kannte ihn nur vom Sehen. Er war neu im Haus. Er schien erleichtert, dass seine Ablöse endlich da war. Sie begrüßten einander mit Handschlag. »Mach ich sonst nicht, den Dienst abgeben, aber mir geht’s beschissen. Ein Virus wahrscheinlich.«

Regina grinste. »Ich werde mir sofort die Hände waschen.«

»Ja, du kannst dich sonst gleich zu mir legen«, grinste er. Er wirkte ein bisschen aufgedreht.

»Es geht dir noch nicht schlecht genug«, stellte sie trocken fest.

Ein rascher prüfender Blick, dann ein leichtes Grinsen. Leidensmiene, die aber durchscheinen ließ, wie tapfer er sich trotz allem hielt. Lässigkeit. Er konnte sich nicht entscheiden. Er drückte die Knie durch, nahm den rechten Arm hoch, rieb sich den Nacken. Das alte Spiel. Sie sah, dass sie ihm gefiel, und ließ ihren Blick ein paar Herzschläge zu lang auf seinem Gesicht liegen. Spürte seine Nervosität und lächelte. Besser nicht – mit Männern war sie durch. Diesmal wirklich.

Marek bückte sich nach seinem Rucksack. »Sag, sind nicht Hacker und Micko heute im Dienst? Und ein paar von den ganz Jungen? Warum schickt der Kommandant dich?« Eine leichte Röte, als er sich aufrichtete.

»Eine Altgediente, meinst du?« Sie grinste und deutete auf ihre Distinktionen. »Muss im Training bleiben. Das hält jung.«

»Das hast du nicht nötig.«

Jetzt hatte er seine Lässigkeit wieder. Fescher Kerl, dachte Regina. Groß, dunkel, mit frisch geschorenen Haaren, wie ein hellerer Streifen Haut am Haaransatz verriet. Lachfältchen. Die weiche Kinnpartie ließ ihn jünger wirken. Ein sportliches Duschgel, nichts Besonderes. Nichtraucher, dachte sie.

»Du hast was gut bei mir«, sagte er.

Regina nickte. »Passt schon.« Sie schaute ihm tief in die Augen, als sie einander die Hand gaben. Paul Marek hakte den linken Daumen in der Gürtelschlaufe ein und grinste unsicher. Sie schaute ihm nach, als er betont lässig den Gang entlangschlenderte. John Wayne junior, dachte sie. Oder irgend so ein verdammter Comic-Held. Manche wurden nie erwachsen.

Sie wandte sich um und drückte mit einem Ruck die Türklinke zum Krankenzimmer nieder. Der Raum lag im Halbdunkel. Der Häftling schnaufte. Er war verkabelt, eine helle Flüssigkeit tropfte in seine linke Armvene.

Sie erschrak, als sein Atem aussetzte. Mit einem Keuchen atmete er weiter. Röcheln, Pfeifen, dann wieder flaches gehetztes Atmen. Anton Moser. Totschläger. Mörder.

»Halt durch«, flüsterte sie. »In drei, vier Stunden ist Tag.«

Was tat sie da? Ihr Platz war vor der Tür. Das hier ging sie nichts an. Das war Sache der Schwestern. Eine Leuchtstoffröhre begann wie verrückt zu flackern. Hatte er sich bewegt? Regina stützte sich auf die Bettkante und starrte auf ihn hinab. Ein eingefallenes Gesicht, aus dem eine spitze Nase hervorstach. Ein harter Mund. Bartschatten. Das Alter war unmöglich zu schätzen. Der Gefangene stöhnte, wurde unruhig, bewegte die trockenen, aufgesprungenen Lippen. Ein Gurgeln kam aus seinem Mund. Wieder schrie das Käuzchen. Der Kranke nestelte am Bettzeug. »Mama?« Ein Wort, ganz deutlich. Es klang angstvoll, flehend. Er röchelte.

Was tat sie hier, verdammt?

Der Tropfenzähler tickte. Ein lautes Knacksen, und die Leuchtstoffröhre starb. Das Krankenbett fiel ins Dunkel, etwas schlug gegen die Scheiben, und als Regina sich umwandte, krallte sich Mosers Hand in ihren Unterarm, dass sie aufschrie und Mühe hatte, sich wieder zu beruhigen. Ihr Puls jagte.

 

»Mama?« Moser keuchte, rang nach Atem, gurgelte, war still. Es stank nach Fäulnis. Nach Kot. Nach Urin.

Regina zerrte an ihrem Arm. Moser hing an ihr. Einem Sterbenden die Finger aufbiegen? Sie erstarrte. War er schon tot? Moser seufzte. Dann fuhr er unvermittelt fort zu atmen. Zwei, drei weitere tiefe Atemzüge. Pause.

Regina spürte Panik aufsteigen. »Ganz ruhig«, flüsterte sie. »Weiteratmen.« Seltsamerweise wurde ihr leichter. »Komm«, murmelte sie, »lass los.« Sie konzentrierte sich darauf, seine Finger, einen nach dem anderen, von ihrem Arm abzulösen. Es gelang ihr nicht. Er klammerte. Sein Handrücken war zerstochen, schwarzblau unterlaufen. Unermüdlich tropfte die Flüssigkeit. Eine kleine Erhebung hatte sich gebildet. Das musste wehtun.

Der Kranke schnaufte, röchelte, seufzte, sog die Luft tief und rasselnd ein. Seine Finger wurden wieder lebendig und flatterten. Regina zog mit einem Ruck ihren Arm weg. Sie musste an sich halten, um nicht loszurennen.

Sollte man einem Sterbenden nicht die Hand halten? Sollte man nicht die Schwestern rufen? Die Nadel hatte sich gelöst, die Flüssigkeit tropfte ins Leere, Blut quoll aus der Vene und färbte das Leintuch. Vorsichtig, Moser nicht aus den Augen lassend, als könnte er sie unvermutet anspringen, tastete Regina nach der Klingel, die für den Kranken unerreichbar über dem Bett hing, und drückte den Knopf.

Ein tiefes Seufzen. Dann noch einmal – als presste man ihm die Luft aus den Lungen. Regina wich einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie fröstelte. Streichelte gedankenverloren ihren Unterarm. Ein Röcheln. Gurgeln. Das Blut quoll.

Am Gang waren eilige Schritte zu vernehmen, gleichzeitig quittierte jemand den Empfang der Klingel. Regina starrte auf Moser, dessen Kinn nach unten gekippt war. Er wird nicht durchhalten bis zum Morgen, dachte sie und wandte sich um, als ein Lichtstrahl ins Zimmer fiel. »Er hat sich die Nadel herausgerissen«, erklärte sie mit einer Stimme, die nicht ihr zu gehören schien.

Die üppige Schwester ignorierte sie. Sie eilte zum Bett, legte ihren Handrücken an die eingefallene Wange des Mannes, als ob sie ihn streicheln wollte. Sie blieb eine Weile so stehen. Ihr Blick ging ins Leere. Sie schluckte mehrmals. Dann beugte sie sich zu ihm hinab, tastete nach seinem Puls, nickte. Ihre Schultern sanken nach vorne. Eine Weile verharrte sie so. Dann wandte sie sich um, ging langsam zum Fenster und öffnete beide Flügel.

Regina fühlte sich fehl am Platz. Sie trat auf den Gang, telefonierte mit der Anstalt und verließ dann die Station, wo eine gut eingespielte Routine sich des toten Moser annahm, des Mörders, der zuletzt nach seiner Mutter gerufen hatte. Und da war nur sie gewesen, vor allem damit beschäftigt, gegen das Grauen anzugehen, das sie angefallen hatte. Sie, die niemanden halten konnte, gerade jetzt nicht.

Sie trat in den frühen Morgen hinaus, froh, den Spitalsgeruch hinter sich zu lassen. Unter ihr lag die schimmernde, langsam erwachende Stadt. Morgenröte am Horizont. Es würde ein schöner Tag werden. Der Kies unter ihren Füßen knirschte, als sie den Hügel hinab Richtung Ausgang eilte. Vögel saßen in den großen Bäumen zwischen den Ziegelpavillons. Das Gras glänzte vom Tau. Aus der Portierloge am Eingang des Krankenhausgeländes duftete es nach frisch gemahlenem Kaffee. Ein Bus fuhr vorbei. Regina fühlte sich leer. Sie suchte in den Taschen nach einem Kaugummi. Kontrollierte die Zeit. Der Fahrer sollte in zehn Minuten da sein.

Nun, in der kühlen Luft des beginnenden Sommertages, schien ihr das eigene Erschrecken, die Panik, nicht mehr nachvollziehbar. Moser war nicht der erste Tote, den sie gesehen hatte. Sie spürte, sie war angeschlagen. Es hatte sich also nichts geändert. Es reichte, dass sie zurückgewiesen wurde, dass einer sich für eine andere entschied, und alles ging von vorne los. Ablenkung half nicht. Routine half nicht. Regina kannte sich mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sich all das nur in ihrem Kopf abspielte. Sie verstand, wie es funktionierte, dass sie sich dann wieder ganz klein und wertlos fühlte, mochte auch all ihre Erfahrung der letzten Jahre dagegensprechen. Sie hatte sich Stück für Stück alles selber erarbeitet, wovon sie immer geträumt hatte. Sie war mit ihrem Leben zufrieden. Sie machte ihren Job gut, auch wenn es heute, gerade eben, nicht danach ausgesehen hatte. Energisch wischte sie den Gedanken beiseite. Es gab, verdammt, eine Reihe von Leuten, die sie mochten und schätzten, mit denen sie eine Freundschaft verband. Und es gab Johanna.

Regina lächelte bei der Erinnerung an den Sommertag, an dem sie einander kennengelernt hatten: Seit knapp zwei Jahren bei der Wache, im Rang eines Inspektors und mit entsprechend geringem Gehalt, war Regina wild entschlossen gewesen, Karriere bei der Justiz zu machen. Aus ihrer Einzimmerwohnung in eine Eigentumswohnung oder – besser noch – ein eigenes Haus zu ziehen. Der erste Schritt war getan: eine sichere Anstellung. Nie wieder vor Kunden knien. Nie wieder Berge von Schuhkartons anschleppen und sich von frustrierten verwöhnten Weibern und genervten Kerlen sekkieren lassen. Regina wollte etwas Eigenes, ein Zuhause, aus dem sie niemand mehr vertreiben konnte. Sie meldete sich für jede Fortbildung an, pflegte sorgsam den Kontakt zu ausgewählten Kollegen, die sie weiterbringen konnten, und achtete darauf, ihre Anfängerfehler nicht zu wiederholen.

Sie war eine der ersten weiblichen Vollzugsbeamten im Haus und ihr war bewusst, dass jeder ihrer Schritte beobachtet wurde. Kollegial und zuverlässig zu sein genügte nicht. Zu viel Fleiß und Leistungswille war in den Augen der langgedienten Kollegen geradezu ein Nachteil. Der Spitzname »Miss Moral«, den man ihr schon nach wenigen Wochen verpasst hatte, klebte lange und hartnäckig an ihr, bis es ihr gelang, die anderen von einer Lockerheit zu überzeugen, die sie weder besaß noch haben wollte. Die Uniform bot einen gewissen Schutz und Autorität gegenüber den Insassen. Schuf eine Art von Distanz. Gegen den Umgangston der Beamten, ihre Witze, wurde Regina erst nach und nach immun.

Ungewohnt war freilich, wie sehr sie – damals ein eher burschikoser Typ mit Kurzhaarfrisur und etwas pummelig – plötzlich vor allem als Frau wahrgenommen und als solche behandelt wurde. Es änderte wenig, dass sie sich rasch einen ruppigen, kumpelhaften Ton aneignete und sich von Anfang an weigerte, die unbequem geschnittenen schmalen Röcke zu tragen, in denen man unmöglich einen Flüchtenden einholen konnte. Regina versah ihren Dienst ausschließlich in Hosen, und die anderen Kolleginnen zogen bald nach.

Es dauerte lange, bis sich die Männer an die neue Situation gewöhnt hatten und die »Weiblichen« als Kollegen annahmen. Erst nach und nach erfuhr Regina, dass es geradezu erbitterten Widerstand gegen die Eingliederung von Frauen in den Wachkörper gegeben hatte. Es galt, eine Männerbastion zu verteidigen. In den Dienststellenversammlungen war von einem erhöhten Sicherheitsrisiko die Rede gewesen. Man sah Geiselnahmen voraus und Unruhe unter den Gefangenen. Ordnung und Sicherheit seien in Gefahr, mahnte die Standesvertretung. Man befürchtete Liebesgeschichten zwischen Insassen und Beamtinnen und einen Autoritätsverlust der Wache.

Die Beamten waren allerdings die Ersten gewesen, die versucht hatten, bei den neuen Kolleginnen zu landen. Die schon seit langem in den Fachdiensten tätigen Frauen im Haus – Sozialarbeiterinnen und Psychologinnen, die Schwestern in der Krankenabteilung – bildeten eigene Gruppen. Sie blieben für sich und waren nicht in die Beamtenhierarchie eingegliedert, sondern unterstanden direkt dem Anstaltsleiter. Regina betrachtete sie wie viele ihrer Kollegen mit einiger Skepsis. Wie blauäugig musste man sein, anzunehmen, dass ein Gewaltverbrecher von seinem Tun abließ, weil eine Sozialhelferin in ihm das Gute sah und regelmäßig einfühlsame Gespräche mit ihm führte! Das war nicht ihre Welt.

In der ersten Zeit wurde Regina fast ausschließlich für die Vorführung von Gefangenen und in der Besucherzone eingeteilt. Sie hatte das Gefühl, auf einem Abstellgleis gelandet zu sein. Die Arbeit war eintönig. Sie überwachte auf der Besucherseite den Ablauf der Kontakte. Damals waren Nichtraucherzonen noch kein Thema. Der Wartebereich für Angehörige war ebenso verqualmt wie die Räume, in denen die Insassen warten mussten, bis sie in die Besucherzone vorgeführt wurden. Regina litt unter den Gerüchen der Männer, Gefangener wie Kollegen, mehr als unter der Hitze.