Das Leben ist schmutzig

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Das Leben ist schmutzig
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa


Krimis ohne Ermittler, formal experimentierende Spannungsromane erfreuen sich wachsender Akzeptanz, was wiederum das Genre befruchtet und bereichert. Doch selten entsteht mit wenig Action und viel Ruhe ein solcher Sog wie bei diesem Buch. Das Leben ist schmutzig kommt auf leisen Sohlen daher und geht nachhaltig unter die Haut. Es ist eine schräge Mischung aus Episoden- und raffiniertem Kriminalroman: ausgesprochen ­originell, merkwürdig intim, etwas schwermütig, aber auch humoresk. Anne Goldmanns sinnlich-literarische Erzählweise zieht rasch hinein in den charmant realistischen Mikrokosmos eines alten Hauses, dessen Bewohner anmuten wie leuchtende Facetten eines Kaleidoskops des Menschlichen. Mit sicherer Hand wechselt Goldmann die Perspektive: Jeder Erzählstandpunkt öffnet sich wie ein Schatzkästchen, enthüllt seine Abbildungsweise der Wirklichkeit wie eine historische Führung durch die Köpfe der anderen, mit denen wir Kultur und Gesellschaft teilen. Das Buch lebt ganz von der unterschwelligen Spannung – und die speist sich nicht wie beim typischen Thriller primär aus einer unbekannten Bedrohung, vielmehr entwickelt man ein unbändiges Interesse an den Figuren und der Art, wie sie die Welt erleben. Man will ­dringend erfahren, wie es mit ihnen und für sie weitergeht. Der lakonische Blick des 15-jährigen Markus Wawerka auf seine Umwelt ist so unverbraucht, wie die Perspektive der einsamen Marie klaustrophobisch wirkt: Die sehr vielfältigen und ungeheuer lebendigen Charaktere nehmen einen mit ins Innere des Hauses, ins Innere ihres Lebens. Eine zeitlose, erstaunlich wahre Geschichte mit nur einem Hauch von unaufdringlichem Lokalkolorit und schön melancholischem Nachgeschmack: Anne Goldmann ist ganz entschieden eine eigene neue Stimme im Spannungsgenre.

Else Laudan

Anne Goldmann, geboren 1961, wuchs in einer Großfamilie auf dem Land auf. Sie jobbte als Kellnerin, Küchenhilfe und Zimmermädchen, um sich die Ausbildung zur Sozialarbeiterin zu finanzieren. Einige Jahre arbeitete sie in einer Justizanstalt, derzeit betreut sie Straffällige nach der Haft. Anne Goldmann begann früh zu schreiben, gewann zwei Literaturwettbewerbe, veröffentlichte ein paar Texte, verwarf dann alles und entdeckte erst vor wenigen Jahren das Schreiben wieder neu. Das Leben ist schmutzig ist ihr erster Roman.

Anne Goldmann

Das Leben ist schmutzig

Ariadne Krimi 1194

Argument Verlag

Ariadne Krimis

Herausgegeben von Else Laudan

www.ariadnekrimis.de

Deutsche Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten

© Argument Verlag 2011

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

Umschlag: Martin Grundmann

Fotomotiv: © Dream-Emotion, Fotolia.com

Lektorat: Else Laudan

Satz: Iris Konopik

ISBN 9783867549424

Erste Auflage 2011

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

Inhaltsverzeichnis

Cover

Klappentext

Titel

Impressum

Das Haus

Die Bewohner

Das Leben ist schmutzig

Weitere Werke

Das Haus

wurde um 1870 in der für die damalige Zeit charakteristischen L-Form errichtet. Hinter den in Ringstraßenmanier seriell gefertigten, reich verzierten Fassadenornamenten gibt es nur noch im Erdgeschoss – von der Hausbesorgerwohnung abgesehen – die typischen kleinen Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnungen mit einer Bassena (Wasserentnahmestelle) und Toilette am Gang. Die Fassade zum Hinterhof ist karg und schmucklos. In den oberen Stockwerken wurden mehrere Wohnungen – hohe Räume mit Flügeltüren und altem Eichenparkett – zusammengelegt und aufwändig saniert.

Die Bewohner

Im Parterre

Julia Wawerka

ist Ende dreißig, hat den Hausbesorgerposten inne und geht nebenher putzen, bevor sie ihr Leben von Grund auf umkrempelt.

Markus Wawerka

ist noch nicht sechzehn, Julias Sohn und Schüler an einer Höheren Technischen Lehranstalt. Er lebt mit seiner Mutter in der Hausbesorgerwohnung.

Sedlak

dessen genaues Alter und Vornamen auf Anhieb keiner der Bewohner nennen kann, ist als kleiner Beamter beim Magistrat beschäftigt.

Wagner

ist Briefträger. Er ist zweiundvierzig, lebt allein und ist mit Markus befreundet. Mit seinem Nachbarn Pöhz verbindet ihn tiefe Feindschaft, die sich auch auf dessen Hund erstreckt.

Herr Pöhz

hat schon immer hier gelebt. Er ist seit Jahren in Pension und kennt das Haus und seine Bewohner wie kein Zweiter. Obwohl er sich oft ärgern muss, arrangiert er sich erstaunlich gut mit den Veränderungen. Eine Bedienerin, Frau Maria, und der Hund der alten Frau Novak, Wastl, spielen bald eine wichtige Rolle in seinem Leben.

1. Stock

Mona Bergmann

ist Langzeitstudentin, Kellnerin in einem Szenelokal, Chaotin, ca. dreißig Jahre alt und noch immer nicht erwachsen.

Bernhard Färber

ist etwa vierzig, sportlich und dem Vernehmen nach Journalist. Er legt keinen Wert auf näheren Kontakt mit den Nachbarn.

Daniela Brandlhofer

ist noch keine dreißig. Sie ist mit der Hausbesorgerin befreundet, weitgereist, Lehrerin, und schafft es, Herrn Pöhz zum Lächeln zu bringen.

Frau Novak

kennt Markus von Kindheit an. Hat einen Hund, Wastl.

2. Stock

Frau Radl

die Hausbesitzerin, hat zwei Katzen und verbringt viel Zeit in ihrem Haus am Land.

Marie Berger ist zweiunddreißig, Single und gesundheitlich nicht ganz stabil. Markus kümmert sich um ihre Pflanzen.

Wagner ist Briefträger, und ich beneide ihn um die vielen Frauen, die er morgens schon sieht: schlaftrunken noch und bettwarm, mit rutschenden Hemdchen, zerzausten Haaren und nacktem Mund. Natürlich, sagt Wagner, geht auch hin und wieder was, und ich stelle mir vor, wie eine Rothaarige mit schweren Lidern sich an ­Wagners Reißverschluss zu schaffen macht. Oder eine Blonde haucht: Kommen Sie doch weiter. Und auf ihr großes Doppelbett weist. Wie eine stupsnasige Kurzhaarige ihre Hand in ­Wagners Haar wühlt und ihn sanft an sich zieht.

Wagner sieht voll Durchschnitt aus, finde ich. Er ist nicht viel größer als ich, obwohl ich ja noch wachse, und hat keine richtige Frisur, bloß so Haare, die irgendwie länger werden und dann wieder geschnitten, die er gelb färbt und die noch nie mit Gel oder so was in Berührung gekommen sind. Ob da wirklich eine drin wühlen will oder vor seinen engen schmutzigen Jeans auf die Knie gehen? Sein Ding herausschälen und es ihm so richtig besorgen?

Wagner bemerkt meinen Blick und grinst, weil ich ja von nichts eine Ahnung habe, er aber schon: »Irgendwas geht immer, Markus«, sagt er. »Glaub mir.«

Diesmal geht aber definitiv nichts mehr. »Definitiv« ist eines von Wagners Lieblingswörtern, die er auch dort einsetzt, wo sie definitiv nichts verloren haben.

»Der ist schon länger tot«, sagt Wagner nun in mein erschrockenes Gesicht und geht neben der Leiche in die Knie. »Definitiv tot.«

Ich wäre jetzt gerne irgendwo anders. Bei meiner Oma auf der Veranda. Oder weit weg an einem Strand, wo die Luft flimmert vor Hitze und die Mädchen ganz rot sind im Gesicht und Schweißperlen auf der Oberlippe haben. Und knappe Bikinis an. Und schlapp im Sand liegen. Egal, was du machst, um ihre Aufmerksamkeit zu kriegen. Oder sich absichtlich so bewegen, dass man aus dem Takt kommt. Und sich dann gemeinsam halbtot kichern.

Ich wäre gerne Aushilfsbriefträger geworden, während der Ferien. Das geht, klar, machen viele, aber Wagner sagt, dass ich noch zu jung bin für den Job. Ich gieße also für ein bisschen Taschengeld die Blumen der Nachbarn, die im Urlaub sind, und gehe mit dem dicken Hund der Oma aus dem ersten Stock zweimal am Tag um den Block. Der Hund hasst mich. Ich sehe das daran, wie der mich anschaut, wenn ich ihn über die Treppen hoppeln lasse, weil ich bald wieder zurück sein will. Es wäre voll peinlich, wenn mich einer von den Freunden sieht, wenn ich den Moppel durch die Gegend schleife.

Der Frauenhaarfarn ist hin. So viel ist sicher. Die winzigen Blättchen könnte man locker rauchen, so trocken sind die, und auch der Rest schaut erbärmlich aus.

»Haben wir gleich«, sagt Wagner mitten in meine Verzweiflung. »Du tauschst ihn aus. Einen neuen«, sagt er. »Aus dem Baumarkt. Kostet nicht viel. Ein bisschen größer. Die Berger wird dich lieben. Weil er so gewachsen ist unter deinen Händen.« Und grinst schief.

 

Ich grinse zurück, dankbar. »Wagner …«, sage ich.

»Passt schon«, wehrt er ab. Boxt mich gegen die Schulter. »Schließlich sind wir Freunde, Markus. Oder?«

Man kann eine Geschichte an jedem beliebigen Punkt beginnen. Diese hier beginnt irgendwann im Sommer, am Anfang der großen Ferien. Oder auch ein paar Jahre vorher. Zu einer anderen Jahreszeit. Es schneit also vielleicht gerade, oder man schläft zum ersten Mal bei weit offenem Fenster und tiefer als sonst.

Die Gegend hat ihre beste Zeit längst hinter sich. Julia Wawerka wohnt mit ihrem Sohn in einem ganz gewöhnlichen Gründerzeithaus in der Vorstadt. Der Bezirk tut nichts zur Sache, obwohl die wenigen älteren Leute im Haus behaupten, der hier gesprochene Dialekt sei ein ganz besonderer, unverwechselbar und voller Redewendungen, die heutzutage kein Mensch mehr kennt. Schon ein paar Straßen weiter endet das Dorf. Man geht über den Markt, ein buntes Gewirr an Obst-, Gemüse- und Fetzenstandeln, steigt in die Tramway und fährt in die Stadt.

»G’sindl«, schnaufte Herr Pöhz und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ins Häfen hat sie ihn gebracht! Eingesperrt haben sie ihn. So ist das.«

Er stand auf dem Trottoir direkt vor der Hausbesorgerwohnung. Sollte sie ihn ruhig hören, die Wawerka. Erst vor kurzem hatte er Julia, die mitten in der Nacht am Gang stand und rauchte, ermahnt, die Zigarettenstummeln nicht einfach fallen zu lassen. Und das Luder hatte ihn angefahren, ganz unvermittelt: Sie räume den Dreck des ganzen Hauses weg, seit Jahren schon, und also auch die Tschik. Spätestens morgen. Er möge sich zum Teufel scheren! Pöhz war sprachlos gewesen. Bekam kaum Luft. Er hatte seine Pulver gebraucht. Eine Handvoll. Die Aufregung! Sein Herz! So ein Luder! So ein Luder!

Sie wird ihn schon auch gereizt haben, den Mann, sinnierte Pöhz. Weil: Von nichts kommt nichts. Und im Haus war zuletzt gar keine Ruh mehr gewesen.

Im Erdgeschoss in der Hausbesorgerwohnung ging es üblicherweise gegen Mitternacht los. Zuletzt mehrmals im Monat. Erst die Gegensprechanlage, nervtötend trööt-tröööt-tröööööt. Und wieder von Neuem, und noch einmal. Dann Ganglicht, schwere Schritte, ebensolche Flüche, lautes Klopfen, manchmal splitterndes Glas. Dann Julias besänftigende dunkle, heisere Stimme, sein Knurren, das Klappen der Tür. Unruhe, das Scheppern von Geschirr. Und nach Minuten ein Aufschrei, Klatschen, Gebrüll, das Schreien – oder schlimmer – das Schweigen des Buben.

Dann Julia, dann wieder er. Jemand knallt gegen ein Möbelstück. Stille. Minutenlang. Und dann legt der Mann los. Zerlegt keuchend die Küche, das Wohnzimmer, arbeitet sich systematisch ins Kabinett vor. Spätestens da ist das ganze Haus wach, verlangt jemand lautstark »Ruhe«, ruft schließlich jemand die Polizei.

Später steht Julia am Gang: blass, zerzaust, mit einer Platzwunde am Kopf oder Striemen und Rötungen von seinen Schlägen, und dennoch schön mit ihren großen hellen Augen, die ihrem Gesicht etwas Staunendes geben, den Buben an sich gedrückt, der sich anschmiegt und ganz leise wimmert, auch später noch, als er schon größer ist, während die Polizisten den Wawerka ein weiteres Mal mitnehmen, zum Ausnüchtern. Julia saugt an einer Zigarette, man bemerkt ein leichtes Zittern ihrer Hand, sonst nichts. Nur ihr Blick ist wie ausgelöscht, starr, geht ins Leere. Die Fragen, der Ärger der Nachbarn, selbst ihr Tröstenwollen erreichen sie nicht. Sie zieht die rauchblaue Strickweste fester um sich, murmelt dem Buben, der mit nackten Füßen auf dem kalten Steinboden steht und nun schluchzt, herzzerreißend schluchzt, beruhigende Worte ins Haar. Dann dämpft sie die Zigarette aus, schnippt sie weg und geht mit dem Kleinen in die Wohnung zurück.

Spätestens zwei Tage später war der Wawerka wieder da, jedes Mal. All die Jahre.

Frau Novak im ersten Stock, die wie Herr Pöhz und die Hausbesitzerin den Großteil ihres Lebens im Haus verbracht hatte, kannte den Wawerka schon lange. Ihr Hund war noch ganz jung gewesen, keine drei Monate alt. Verspielt, noch nicht stubenrein. Er flüchtete zitternd gleichermaßen vor dem Staubsauger wie vor dem Sohn der Hausbesorgerin, der sich jedes Mal mit schrillen Begeisterungsschreien auf den Wastl stürzte und versuchte ihn zu umarmen. Damals war der Bub noch keine drei Jahre alt, den Kasernenhofton seines Vaters aber bereits gewöhnt. »Markus, lass das Vieh! Pfui Teufel. Her da! Na wird’s bald!« Man roch seinen Alkoholatem. Er grüßte nie.

Der Wawerka war einmal fesch gewesen, ohne Frage. Groß, schlank, dunkel, mit einem leicht spöttischen Zug um den Mund. Für ihren Geschmack zu geschniegelt, aber der Julia hatte das wohl gefallen. Er war deutlich älter als seine Frau, ein erfahrener Mann. Sie war nicht die Erste, die mit ihm gesehen wurde, beileibe nicht. Sie war aber diejenige, die blieb.

Julia war auffallend hübsch, damals schon, ganz jung noch und unfertig. Große blaue Augen in einem herzförmigen Gesichtchen und lange helle Haare. Der Wawerka mochte es, wenn sie Kleider trug. Manchmal steckte sie sich die Haare hoch, und Frau Novak blieb jedes Mal stehen und schaute ihr nach, wenn sie sich bei ihm einhängte. Wenn sie Arm in Arm das Haus verließen – ein schönes Paar. Damals war die alte Dame mit Herrn Pöhz ausnahmsweise einer Meinung: ein Haderlump, der! Schon als Julia ein Jahr später mit schwerem Leib das Stiegenhaus kehrte, hatte der Wawerka sein altes Leben wieder aufgenommen: Wirtshaus, Wetten, Weiber. Den Gerüchten zufolge hat er es sogar bei der Hausbesitzerin probiert, und wer weiß, flüsterte Herr Pöhz, bevor ihn ein Hustenanfall am Weiterreden hinderte. Aber auf solchen Tratsch konnte Frau Novak gern verzichten, zumal der Pöhz in jungen Jahren selbst kein Guter gewesen war. Sie mochte ihn nicht.

Herr Pöhz begriff als Erster, dass sich etwas im Haus verändert hatte. »Der Wawerka«, raunte er der Hausbesitzerin zu, aber die verstand nicht. Tatsächlich lag der letzte Polizeieinsatz schon drei, vier Wochen zurück.

Die Tage vergingen. Und kein Wawerka. Man munkelte, er habe eine andere. Aber, ereiferte sich der Alte, wer nimmt denn so einen: aufgeschwemmt vom Alkohol, rotgesichtig, cholerisch? Einen, der entweder stempeln geht, im Krankenstand ist oder im Gasthaus. Letzteres vor allem! Dem Herrn Pöhz konnte man nichts vormachen.

Man gewöhnte sich an die Ruhe. Der Bub verbrachte die Ferien und die ersten Wochen im Herbst bei der Großmutter im Zweiundzwanzigsten. Die Wawerka sah blass aus und angespannt. Sie entrümpelte die Wohnung, renovierte, möblierte neu. Sie nahm einen Nebenjob an, als Putzfrau in einer Versicherung, was sonst? Als Ungelernte. Herr Pöhz wusste Bescheid. Obwohl – dumm war sie nicht, die Julia.

Das Haus blitzte wie nie zuvor, ständig war sie am Putzen, grüßte jeden freundlich wie immer, aber der Herr Pöhz grüßte nie zurück, sondern tappte mit vorgerecktem Hals wie eine Schildkröte, die Hände hinter dem Rücken ineinandergelegt, ganz langsam mitten über den frisch gewischten Boden. So ein Luder! So ein Luder!

Herr Pöhz war nicht blöd. Schon seinerzeit, als er noch sein kleines Blumengeschäft betrieben hatte drei Gassen weiter, hatte er gleich gewusst, ob einer ein Guter war oder nicht. Der Wawerka war kein Guter, und so wunderte es ihn nicht, dass der die Veränderungen nicht einfach so hinnahm. Nach wenigen Monaten zeigte er sich wieder im Haus, zuerst noch mit Blumen, großen, protzigen Sträußen in Zellophan, wie sie auf den Bahnhöfen verkauft werden, eine Schande, später unter Drohungen und Beschimpfungen, gegen seine Frau, die Polizei, die Gerichte und schließlich das ganze Haus. Man fürchtete sich und ging ihm aus dem Weg. Die Wawerka rief jedes Mal sofort die Polizei, jedes Mal, sobald sie ihren Mann sah, und irgendwann verstand auch der Wawerka, dass er hier auf verlorenem Posten stand. Es wurde wieder ruhig im Haus.

Julia konnte im Nachhinein sehr genau sagen, wann es begonnen hatte. Oder in diesem Fall geendet. Sie würde nie vergessen, wie er zum ersten Mal auf Markus losgegangen war. Der Bub war damals elf, dünn, aber groß für sein Alter und viel zu still, wie alle fanden. Er trug die Haare seit einigen Wochen ganz kurz, weil er nicht mehr wie ein Mädchen aussehen wollte. An einem Dienstag war er von der Schule heimgekommen, hatte die große Haushaltsschere genommen und sich vor dem Spiegel im Badezimmer Strähne für Strähne die langen blonden Haare abgeschnitten. Julia fuhr sich mit der Hand an den Mund, als sie ihn so sah, mit schartig geschnittenen Haarbüscheln, die seltsam abstanden. Wie ein aus dem Nest gefallener Vogel sah er aus. Sie stellte die Einkaufstasche ab, die Milch in den Kühlschrank und ging mit ihm zum Friseur. Er kam ihr fremd vor, ihr Bub, älter, aber plötzlich sehr verletzlich mit seinem aus­rasierten Nacken. Julia sah ihn mit gebeugtem Hals über seinen Aufgaben sitzen, konzentriert, die schmalen Schultern ein bisschen nach vorne gezogen, wie er es oft tat. Er nagte an einem gelben Kugelschreiber und hatte die Füße um die Sesselbeine gehakt.

Julia räumte die gebügelte Wäsche in den Schrank. Sie reparierte einen eingerissenen Nagel, und Acetongeruch breitete sich aus. Markus schnüffelte und sah hoch. Das Zimmer war sehr warm, fast überheizt. Sie musste lüften. In diesem Moment ging die Türklingel. Alarm! Er muss völlig betrunken sein, dachte sie. Er lag augenscheinlich mit der ganzen Hand auf dem Klingelknopf. Julia drückte den Türöffner und wappnete sich. Manchmal ging es ja gut: Er kam, lallte, brach auf dem Sofa nieder und schlief seinen Rausch aus.

Sie sah sofort, dass es diesmal nicht so war. Er war laut, schon am Gang, und voller Wut. Gleich an der Tür nannte er sie eine Hure, eine Schlampe, ein Flittchen, fasste sie an den zusammengebundenen Haaren und riss ihren Kopf nach hinten, unterstellte ihr einen Liebhaber und einen zweiten, schnauzte den Buben an, nannte ihn einen Bankert, ein Kuckucksei, das er durchzufüttern hatte, höhnte dann wieder Julia, die ihn bat, doch aufzuhören, Ruhe zu geben, etwas zu essen. »Die ficken dich alle, gib’s zu, die ganze Zeit schon, und nur ich Trottel darf nicht drüber. Du Schlampe. Du Schlampe.« Und er schlug zu, mitten in ihr Gesicht.

In dem Moment stand Markus auf und sagte ganz ruhig: »Hör auf, hör sofort auf. Lass die Mama.« Sein Gesicht war bleich und angespannt. Seine Stimme zitterte. Jetzt ging alles sehr schnell. Der Wawerka erstarrte, glotzte, taumelte kurz, drehte sich um und rang nach Worten. Dann machte er zwei, drei Schritte in den Raum und schlug unvermittelt zu. Markus ging zu Boden. Er knallte im Fallen mit dem Hinterkopf gegen einen Stuhl. Sein Gesicht verlor jede Farbe. Der Teppichboden unter ihm färbte sich dunkel. Der Wawerka verlor das Gleichgewicht, fasste sich aber rasch wieder. Er hob den Fuß. Sein Gesicht war wutverzerrt. Da griff Julia hinter sich, erwischte die gusseiserne Pfanne und zog sie dem Wawerka mit voller Wucht über den Schädel. Ihr Mann brach sofort zusammen. Julia griff zum Handy, alarmierte die Rettung, die Polizei. Ihre Nase lief, sie wischte das Feuchte weg und sah, dass sie blutete. Es tat nicht weh. Ihr Herz raste. Sie kniete sich auf den Boden, zu ihrem Sohn, vornübergebeugt, tastete nach seinem Puls. Sie legte ihr Ohr auf seine Brust. Sie spürte, dass er atmete, noch atmete. Julia drückte ein Geschirrtuch gegen die stark blutende Wunde und wimmerte leise. Den Wawerka ließ sie nicht aus den Augen. Sie hoffte, dass er tot war.

So fanden sie die Sanitäter. Die Polizei kam nach wenigen Minuten. Der hagere ältere Polizist mit der Narbe auf der linken Wange gab ihr ein Taschentuch und redete beruhigend auf sie ein, während der andere einen zweiten Rettungswagen anforderte und dem Wawerka, der langsam zu sich kam, die Handschellen anlegte.

Der Gang war wie ausgestorben, als der Wawerka, links und rechts einen Polizisten, in Handfesseln hinausgebracht wurde. Die Wohnungstüre von Herrn Pöhz klappte zu, aber Julia wusste, dass er hinter dem Türspion aus sicherem Abstand das Geschehen verfolgte. Das tat er immer. Sie war wie in Trance, als sie in den Ambulanzwagen stieg. Sie wartete Stunden auf einem gleißend hell erleuchteten Gang, ging auf und ab und folgte den vorbeieilenden Schwestern mit ängstlichen Blicken. Markus war geröntgt worden. Er musste die Nacht im Spital bleiben, zur Beobachtung. Damals hatte sie ihm und sich versprochen: Nie wieder. Der Wawerka kam ihr nie wieder ins Haus. Nie wieder. Sie stand, viel später in der Nacht, wieder am Gang vor der Wohnung und rauchte. Langsam sog sie den Rauch ein, inhalierte tief, starrte auf die Wand vor sich. Sie war bleich und müde, aber entschlossen. Sie hatte so viel falsch gemacht. Das wusste sie. Sie würde alles ändern. Jetzt.

Die wirklich guten Zeiten begannen erst nach zwei, drei Jahren. Da wusste sie, es war ausgestanden. Der Wawerka würde nicht mehr wiederkommen. Sie waren geschieden, und er hatte endlich begriffen, dass es vorbei war. Julia trug die Haare längst kurz und fransig und färbte sie in einem hellen Braunton. Haselnuss, stand auf der Packung. Sie musste lächeln. Sie sah völlig verändert aus.

 

Das war das Erste gewesen – der Friseurbesuch. Ganz klassisch. Frau Novak hatte sie erst gar nicht erkannt. »Kind, die schönen Haare!« Sie war vor ihr gestanden, klein, rundlich, ein bisschen gebeugt, die große braune Einkaufstasche über dem Arm, und hatte sie forschend angeschaut. Und ihr dann den Arm getätschelt. »Freilich, Kinderl, nichts bleibt für immer. Sie haben recht, man muss sich verändern. Auch, wenn es einem schwerfällt. So und so.« Der Hund war ganz still danebengestanden und hatte zu Frau Novak hinauf­geschaut. Kein Ruckeln an der Leine, kein Herumspringen wie früher. Er stand ganz still und wartete auf ein Zeichen für den Aufbruch. Er ist nicht mehr jung, dachte Julia. Er hatte einzelne graue Haare im Fell und einiges an Gewicht zugelegt.

Alles hat sich verändert damals, denkt Julia. Nacheinander sind zwei Hausparteien verstorben, kurze Zeit später noch eine, und nach und nach zogen neue Mieter ein.

Der Lärm und die ständigen Renovierungen hatten allerdings Herrn Pöhz zur Weißglut getrieben. Immer wieder zeterte er und beschwerte sich lautstark, dass alle es hören konnten.

Was den Umbau betraf, trieb es die Kleine in der Wohnung über ihm am heftigsten, ein dünnes, ja mageres Ding. Schwer vorstellbar, dass sie Lehrerin war, kaum größer vermutlich als ihre Schüler. Ein Quirl! Er fragte sich, wie das gehen sollte: wie die sich Respekt verschaffen wollte. Höflich war sie aber, da gab es nichts zu sagen. Sie hatte sich den Nachbarn vorgestellt und ihm, dem Pöhz, lange zugehört. Sie hatte sich schon im Vorhinein für den Baulärm mit einer Flasche Rotwein entschuldigt. Das mochte er. Höflichkeit. Respekt. Und – sie war keine Ausländerin. Oberösterreich. Die Landmädchen, das wusste Herr Pöhz noch von seinen Lehrlingen seinerzeit, waren um vieles höflicher und williger als jede Junge aus der Stadt. Obwohl – auch das hatte sich zum Schlechteren gewendet, Land hin, Stadt her.

Der Umbau – das war für Pöhz die schwerste Zeit. Einerseits. Andrerseits aber in gewisser Weise auch eine schöne. Monatelang nichts als Baulärm, Stemmen, Graben, Hämmern. Säcke voller Bauschutt im Eingangsbereich und ständig fremde Leute im Haus. Das war das Schlechte. Die Hausbesitzerin, das geldgierige Weibsbild, erfreut über den Wertzuwachs ihres Hauses, sah man mit der Zeit kaum noch. Freilich, dachte der Alte, die tat sich leicht, fuhr einfach in ihr Haus ins Steirische, mit ihren beiden Katzen, und blieb dort, bis das Ärgste vorbei war.

Herr Pöhz, dem diese Möglichkeit nicht offen stand, versuchte das Beste aus der Situation zu machen. Er instruierte die Arbeiter hinsichtlich ihrer Befugnisse im Haus, zeigte ihnen aber vor allem ihre Grenzen auf. Er erntete gutmütiges Lachen und freundliches Gebell, das er freilich kaum je verstand. Man grüßte ihn aber, und so sah er sich respektiert. Immer wieder fand er sich auf der Baustelle ein, um den Gang der Arbeiten zu überwachen. Er stand im Weg, nickte fachmännisch und fühlte sich eingebunden. Es war sein Haus, er trug Verantwortung. Unverständlich, dachte Pöhz, wie die Hausbesitzerin, die Radl, einfach wegfahren, sich um nichts kümmern konnte. Ins gemachte Nest hineingeboren, selber nie etwas geleistet – da tat man sich leicht! Das war ihm, Pöhz, fremd. Dank war freilich keiner zu erwarten, das wusste er mit Sicherheit.

Der Polier war Radio-Burgenland-Hörer, ein stämmiger ruhiger Mensch – leutselig, gutmütig, Weißweintrinker. Zum Erstaunen des ganzen Hauses gelang es ihm, Herrn Pöhz binnen weniger Tage für sich einzunehmen. Er hörte ihm zu, ließ sich belehren und den Älteren den Gescheiteren sein. Immer wieder bot er ihm einen Schluck aus seinem Doppler an. Er interessierte sich für die Geschichten des alten Pöhz und versorgte ihn mit Witzen, die nicht ganz jugendfrei waren, Herrn Pöhz aber über die Maßen erheiterten, und über kurz oder lang störten den Alten weder die Risse in der Decke noch das ständige Hämmern und Bohren.

An einem denkwürdigen Freitagabend lud Herr Pöhz den Polier schließlich in seine Wohnung ein, die fast ein Jahrzehnt kein Fremder mehr betreten hatte, und im Laufe des Abends – der Burgenländer hatte zwei Doppler mitgebracht – zeigte ihm Herr Pöhz seine Alben, besorgt wegen der rauen Hände des Poliers, und forschte in dessen Gesicht, ob sie ihm gefielen. Pöhz sammelte alte Aktpostkarten, schwarzweiß, üppige nackte Mädchen und Frauen in allen möglichen Posen, häufig auch mit einem gut bestückten Galan zugange. Gewagt, aber doch auch künstlerisch wertvoll. Durchaus. Der Polier betrachtete derlei mit großem Vergnügen und gab das eine oder andere eigene Erlebnis zum Besten, und Herr Pöhz hielt tapfer mit. Männergespräche. Im Hintergrund dröhnte Volksmusik, bis der Abend ein jähes Ende fand: ein Stromausfall, der, wie der Polier recht schnell feststellte, durch eine herausgeschraubte Sicherung am Gang entstanden war. Kurz darauf waren die Bauarbeiten beendet. Man sah einander nie wieder. Daniela zog ein.

Julia mochte die Lehrerin sofort. Daniela war um zehn Jahre jünger, noch keine dreißig, hatte aber deutliche Lachfältchen um die Augen. Sie war viel gereist, meist auf eigene Faust, und erzählte davon, dass man Lust bekam, selber aufzubrechen. Nach ihren wilden Jahren, wie sie es nannte, hatte sie sich zum zweiten Mal verliebt, unerwartet und heftig. »Zeit, sesshaft zu werden«, grinste sie. »Für eine Weile wenigstens.« Die erste eigene Wohnung.

Julia mochte ihr Lachen. Ihre Stimme klang warm und schien zu groß für die kleine zierliche Person. Julia hatte gehört, wie sie mit dem Polier Änderungen besprochen hatte zu Beginn der Bauarbeiten. Sie war gut informiert und wusste, was sie wollte. Wenig später wurde sie energisch: »Auf keinen Fall. Sie machen das genau so, wie wir es besprochen haben!« Sie konnte sich durchsetzen. Es schien ganz einfach. Sie wurde nicht laut, erklärte nicht viel. Sie gab ihre Anweisungen, zog Grenzen, klar und sehr bestimmt. Später hörte Julia die Lehrerin ins Handy gurren am Gang. Sie klang sehr liebevoll, sehr zärtlich. Und sie sah sie unvermutet dem Herrn Pöhz in die Arme laufen, der stehen blieb, fragte, erzählte, die Mundwinkel hochzog, Daniela schließlich unbeholfen am Oberarm tätschelte und fast vergnügt davonwatschelte. Julia würdigte er wie immer keines Blickes. Daniela konnte Ungeheuer zähmen. Das wollte Julia auch lernen. Das und vieles andere. Nach und nach.

Julia hat diese Zeit als einziges großes Entrümpeln in Erinnerung. Sie hatte mehrere Arme voller Kleider in große Müllsäcke gestopft und zur Altkleidersammlung am Markt geschleppt. Wawerkas Sachen hatte sie zu seiner Mutter gebracht, wo er jetzt untergekommen war.

Die Renovierung dauerte länger, als sie gedacht hatte. Die Mauern waren schlecht. Der Teppichboden staubte und ließ sie fast verzweifeln. Er sah alt und schäbig aus in den nun fast leeren Räumen. Julia hustete und kämpfte mit dem sperrigen Ding, das festgeklebt schien für die Ewigkeit. Ihr stiller Nachbar, Herr Sedlak, erbarmte sich schließlich, brachte den Briefträger mit, der erst vor kurzem eingezogen und für sie ein völlig Fremder war, und nach einem Nachmittag war das Monster gebändigt und in kleine Teile zerlegt bereit für den Abtransport. Während Markus bei der Oma im Schrebergarten war, inserierte sie die Möbel in einer Gratiszeitung und freute sich über jeden Sessel, der aus der Wohnung getragen wurde. Vieles verschenkte sie, und Herr Sedlak brachte – er hatte seine Hilfe angeboten – den Rest, zwei Kofferraumladungen voll Kleinkram, auf den Mistplatz. Sie wollte nichts mehr von alledem behalten. Das war vorbei.

Julia schlief im Kabinett auf einer Matratze am Boden. Sie schlief schlecht. Überall war Staub, war Sand, und die Geräusche von der Straße hallten in den leeren Räumen wider und krochen in ihre Träume. Am Morgen war sie wie zerschlagen. »Julia«, sagte Daniela, »ich fahr heute Abend weg. Du kannst die nächsten zwei Wochen in meiner Wohnung schlafen, wenn du magst.« Julia nahm an.

Sie staunte, als sie die Tür aufschloss: durchgehende honiggelbe Holzböden, helle Räume mit weiß lackierten Flügeltüren und Fenstern. Zwei große Grünpflanzen und eine Wand voller Bücher, ein Sofa – das war das eine Zimmer. In einem zweiten stand das Klavier, lagen Notenblätter auf dem Boden, ein paar große rote, orange und lavendelfarbene Kissen, zwei lindgrüne, sonst nichts. Im Schlafzimmer eine Kommode, ein abgezogenes Bett und ein weiteres Sofa, auf dem frisches weißes Bettzeug lag. Bücher auf dem Boden, ein halb eingeräumtes Regal. Der Klavierhocker. Keine Möbel sonst. Das Kabinett war ein begehbarer Schrank, noch halb leer, und im größten Raum standen einige Stehlampen mit bunten Schirmen und mehrere Umzugskisten, einige schon ausgepackt, andere noch verschlossen.

Weitere Bücher von diesem Autor