Die dritte Hälfte des Lebens

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Die dritte Hälfte des Lebens
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Anna Herzig

DIE DRITTE HÄLFTE EINES LEBENS

Roman

OTTO MÜLLER VERLAG

Die Drucklegung dieses Buches wurde gefördert durch die Kulturabteilungen des Landes Niederösterreich, der Stadt Wien sowie Stadt und Land Salzburg.


www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1293-1

eISBN 978-3-7013-6293-6

© 2022 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

Alle Rechte vorbehalten

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český Těšín

Umschlaggestaltung: Leopold Fellinger

Inhalt

Was man gehört hat

Was die Leute sagen

In zärtlicher Erinnerung an das Lucky Pub in Waidhofen/Ybbs.

Der Ort Krimmwing sowie das Grausame Weib sind fiktiv. Ebenso die dortigen Begebenheiten, Geschehnisse und seine BewohnerInnen.

„Die Quechua haben ein Rätsel: El que me nombra, me rompe. Wer mich benennt, derbricht mich. Die Lösung ist natürlich Schweigen.Aber in Wirklichkeit kann jeder, der deinenNamen kennt, dich brechen.“ Carmen Maria Machado, „Das Archiv der Träume“ (Tropen Verlag, 2021)

„Einsam macht die Krankheit.

Im Kopf und außerhalb.“

Andreas Moster,

„Kleine Paläste“ (Arche, 2021)

Alles könnte ich

Alles könnte ich erzählen. Über Krimmwing und die Menschen. Die Schmerzen, die sie einem zufügen. Dass es keinen Unterschied macht, was man gehört hat, was die Leute sagen oder wie sehr man sich bemüht.

Die Übung besteht darin, sich nicht in Nebensätzen zu verirren.

Was man gehört hat
Es sind die kleinen Verbrechen

Es sind die kleinen Verbrechen an der Seele, die die inneren Blutungen ausmachen.

Welche Linie muss er-funden, ver-messen und an-erkannt werden, die klar definiert: Wegen diesem, jenem und weil die Planetenkonstellation äußerst un-günstig war, hat sich der Steinlachner Sepp, einziger Sohn der ledigen Rosa Steinlachner, vor über zwanzig Jahren am Krimmwinger Kirschkernhügel aufgehängt. Seither hat es ein Dorf mehr in Österreich gegeben, das bewohnt war mit den freundlichen Geistern jener, die gern geholfen hätten, wenn sie nur gewusst hätten wie.

Es ist schwer, Vermutungen darüber anzustellen, weshalb sich der Sepp damals zu einer derart verzweifelten Tat genötigt sah. Vielleicht ist es möglich, sich anhand einer Rekonstruktion den wahrscheinlichsten Ereignissen anzunähern, ähnlich der Annäherung an eine zerrüttete Beziehung: mit intensiv-melancholischer Zerklüftung der Anfänge.

Der Hängende, der Unerwünschte und der Vertriebene. In gewissen österreichischen Gemeinden ist das oft ein und dieselbe Person.

Lorenz Karl Ignatius Rathbauer

Lorenz Karl Ignatius Rathbauer ist wenige Tage vor seinem zwölften Geburtstag eine Frau aus der Seele gewachsen.

Ein Glücksfall, eigentlich. Weil Frauen ihn seit jeher und alles zart-glühende im Besonderen honigtopfartig angezogen haben. Wenn er über Feminines in seinem Inneren stolpert, dann sieht er sich am ehesten als Braunbärchen mit einem regenbogenfarbenen Propellerhut. Mit der Pranke in die Süße, das Unbekannte, das Magische tauchen, um darin vollends zu verschwinden. Und dann, lange Zeit später – wenn sich die ersten Tauchgänge als erfolgreich erwiesen haben – als etwas anderes Magisches und Unbekanntes wieder emporsteigen.

Der Spiegel in seinem Zimmer zeigt ihm eine formbare Alternative, wenn er und der Spiegel gleichzeitig die Augen schließen. Langes, volles kastanienbraunes Haar, das man sich lachend über die Schulter werfen kann, so wie die Frauen in der Werbung. Der Spiegel zeigt ihm, wie er mit dem gestohlenen Make-up-Köfferchen aus dem Einkaufszentrum seine Lippen noch stärker zur Geltung bringen kann. Mit dem Körper außerhalb dieses Spiegels kann er nichts anfangen. Weder angezogen noch nackt. Die Worte, die er braucht, um zu beschreiben was er fühlt, lassen sich ohne Wanderlust nicht finden. Und dieser Junge hat bereits alles in seiner Reich- und Griffweite mit penibler Geduld und Konsequenz untersucht. Gefunden hat er nichts. Nicht unter Felsen und auf keinen noch so grünen Wiesen. An keinem Feldweg und erst recht nicht bei den Eltern. Er ist auf der Suche nach Geschwärztem.

Der Vater sagt:

 – Leg die Bücher in die Ecke. Die bringen kein Essen auf den Tisch. Mach dich nützlich und hilf am Hof.

Die Mutter sagt:

 – Such dir eine Frau und mach ein paar Kinder. Kochen soll sie können, hörst du. Bring mir keine Unfähige nach Hause.

Einen Verdacht, dass der El-Kah-Ih – wie er von seinen Mitschülern der Einfachheit halber genannt wird – anders ist als alles bekannt Andere, haben die Eltern nicht. Wie alle Verwundeten versteht er es, sich zu verstecken. Nachts liegt er wach, versucht, sich ein Leben außerhalb dieser Ortschaft vorzustellen und wünscht sich große Gefühle.

Seine erste, große Liebe: Claudia Cardinale. Die schönste aller Schönen. Das wundersamste Wunderwesen, das jemals auf dieser Erde gewandelt ist, dazu bestimmt, die Welt des Lorenz Rathbauer aus Krimmwing für immer zu erhellen.

 – Bitte nach Italien. Zu meiner Claudia, hat er zum Schulbusfahrer gesagt.

 – Dummer Bub, hat der Busfahrer geantwortet, steig ein und setz dich gefälligst hin, sonst kannst du zu Fuß in die Schule gehen.

 – Claudia, hat der Junge beharrt.

 – Muss ich aufstehen?, fragt der Busfahrer und hebt drohend einen Finger.

 – Frei sein. Das müssen Sie, antwortet der Junge.

Der Weninger hat seelenruhig den Motor abgestellt und sich umgesehen. Dabei hat er sich Zeit gelassen, als würde er den Geruch des Busses – ein Potpourri aus Schulranzen, zerdrückten Pausenbroten, Sommer und Winterschuhen, nasser Kleidung – zum Abschied noch ein letztes Mal in sich aufnehmen.

Er hat den El-Kah-Ih sanft beiseitegeschoben, ist aus dem Bus gestiegen und davongegangen. Vom Weninger Eduard hat man nie wieder etwas gehört. Zumindest nicht in Krimmwing. Wochenlang wurde etwas von abstrakten Dingen wie Selbstverwirklichung und in Wien und völlig übergeschnappt und es würde Zeit, dass er sich wieder zusammenreißt und zurückkommt et cetera geflüstert.

Die an diesem zweiundzwanzigsten Juni im Bus zurückgebliebenen Mitschüler haben gedacht: Der El-Kah-Ih, schon jetzt ein echter Mann.

 – Ooooh, hat der El-Kah-Ih geantwortet, als man ihn Tage danach über seinen wegen der Bus-Sache erworbenen Ruhm unter den Schülern aufgeklärt hat.

 – Ooooh, hat er geflüstert und die Gesichtszüge im richtigen Ausmaß angeordnet, wenn Schulfreunde in den Besitz eines expliziten Hochglanzheftes gekommen sind.

 – Ooooh, hat er zugestimmt, wenn ebendiese Freunde lange, laut und ausgiebig darüber fabuliert haben, was sie mit jenen Damen in jenen Heften alles anstellen würden.

Und – Ooooh, hat er gesagt und betont selbstsicher gelacht, als man ihn gefragt hat, ob und wie viele Mädchen er schon gefingert habe.

Die Jungen haben sich untereinander erzählt: Der El-Kah-Ih, das ist ein wilder Hund. Dem sind Bart- und Beinhaare früher gewachsen als uns. Die Stimme mit vierzehn schon so tief, dass die Mädels reihenweise umfallen, wenn er nur in deren Richtung blinzelt.

Sein Penis, ein Kuriosum, das ihm nichts bedeutet. Sachte dagegengeschnippt, gezogen, beobachtet, abgewartet. Vielleicht würde sich das unliebsame Stück Fleisch lockern, wenn ihm nur die richtige Technik aus Ziehen und Schnippen gelänge. Während der gesamten Pubertät und der einhergehenden Renitenz hat er sich im Schnippen, Ziehen und Taxieren geübt. Das unliebsame Stück Fleisch ist trotz aller Verwünschungen gewachsen und hat besonders aufgeregt auf Schnippen reagiert. Nicht einmal zum Verrichten für die Notdurft wollte er ihm Verwendung zukommen lassen, hat ihn lediglich mit rauem Klopapier berührt, um sich zu erleichtern. Die Folge waren Harnwegsinfekte, Bauchkrämpfe und Bettnässen. Zum fünfzehnten Geburtstag hat er sich Brüste und eine Vagina gewünscht. Diese Bitte in langsamen, klaren Worten an die Eltern herangetragen. Bekommen hat er einen Bluterguss auf der linken Wange und geprellte Rippen auf der rechten Seite, weil der Rathbauer Senior – überfordert mit dem Leben im Allgemeinen und den Veränderungen der Nachkriegszeit im Besonderen – mit der Empathie eines Traktors ausgerüstet war.

Die alte Rathbauerin, eine gänzlich in sich hineingefallene, fromme Frau mit Kopftuch, begleitet von einem ständig benutzten Stofftaschentuch in der einen oder anderen Hand, hat den Sohn mehrmals täglich sehr gebückt und sehr wimmernd vor den Sünden der Welt gewarnt. Drei Jahre später ist der Rathbauer Senior einundsiebzigjährig mitten auf dem Feld umgefallen und nicht mehr aufgestanden. Es war der vorhergegangene Geburtstagswunsch des spät ins Leben geholten Sohnes, der ihn bis in die Knochen erschüttert, letztendlich das Leben gekostet hat, so wird es erzählt.

 

An jenem Geburtstag, der seine Volljährigkeit eingeläutet hat, hat sich herausgestellt, dass sich diesem Dorf, seinen Mechanismen und der immer wiederkehrenden Monotonie zu ergeben, die einzige Gefahr für den jungen Bäuerinnen-Sohn darstellt.

 – Wo willst denn hingehen, hat ihn die Mutter nach dem Abschluss einer wenig Möglichkeiten bietenden Ausbildung gefragt und mit zittrigen Fingern das Stofftaschentuch aus der Schürze gezogen.

Es hat dem El-Kah-Ih jahrelange, eiserne Selbstbeherrschung abverlangt, sie nachts nicht mit eben diesem Stofftaschentuch auf den Nasenlöchern und einer Hand über dem Mund zu ersticken.

 – Nach Italien, hat er geantwortet, eine gepackte Tasche in jeder Hand.

Ein Rucksack im Vorzimmer, der mit jedem weiteren Wort der Mutter schwerer, belastender und schließlich untragbar geworden ist. Ein paar Jahre bleib ich noch, hat er gedacht und die Mutter war wieder froh. In Krimmwing gibt es viele von ihnen, jene, die ihre Kinder weder gern haben noch gehen lassen können. Und wer soll sich dann bitte noch auskennen bei all dem Hin und Her. Eines Tages wird vom El-Kah-Ih samt seinen Träumen nur mehr „der Rathbauer“ übrig bleiben und er, die Mutter bereits lange verstorben, noch immer in Krimmwing sein. Aber da ist noch lange hin. Für jetzt begnügt er sich damit, vor dem Spiegel zu stehen, langsam und mit unsicherer Hand zuerst beim rechten, dann beim linken Auge einen tiefschwarzen Lidstrich zu ziehen, den Mund zu einem O geformt. Die alte Rathbauerin hinter ihm stehend, sich im Spiegelbild offenbarend und bekreuzigend, ihr Stofftaschentuch faltend, faltend, immer weiter faltend.

Die einem zugeteilte Lebenszeit hat nur eine Aufgabe: zu rinnen, unaufhörlich. Die Störgeräusche um einen herum lassen unempfindlich werden für das, was wirklich wichtig ist. Und bis man das merkt, steht man bereits knietief im eigenen Lebenssand.

Durch das Fenster in seinem Zimmer

Durch das Fenster in seinem Zimmer beobachtet der El-Kah-Ih die Rosa. Nicht bei allem und nur bei vertretbaren Sachen. Die Art, wie sie sich an- und auskleidet hält sein Interesse nicht. Eher, wie sie seitlich vor dem Spiegel steht, um sich die Haut einzucremen, die Haare lange und gewissenhaft zu bürsten und Kosmetika aufzutragen. Manchmal streichen ihre Finger behutsam über ein Frühlings- oder Sommerkleid, Blusen mit gestickten Blumen, eine Schürze, ihre Haarbürste.

Er weiß, dass sie weiß, dass er sie beobachtet. Einmal nämlich ist der El-Kah-Ih einer fast fünfminütigen Schockstarre erlegen, als er sich weg-, dann wieder hingedreht hat und ihn zwei große, blaue Augen vom gegenüberliegenden Bauernhaus an- und nicht mehr weggeschaut haben.

 – Mir ist das egal. Aber wenn mein Papa dich erwischt, dann war es das mit dir, sagt sie und lächelt.

 – Du sagst Dinge anders, sagt der Rathbauer.

 – Was meinst?

 – Als wär das, was du sagst, nicht gefährlich.

 – Ich red immer so.

 – Du bist schön.

 – Ich hab einen Freund.

 – Den Jackson.

 – Woher weißt du das?

 – Alle wissen alles, antwortet der El-Kah-Ih und blickt zu Boden.

 – Also willst du nichts von mir?

 – Nur schauen.

 – Das ist komisch.

 – Aber gut, richtig?

 – Ich weiß nicht. Aber ich schätze schon. Vielleicht können wir Freunde sein. Wenn …

 – Wenn?

 – Du mich nicht angreifen willst.

 – Will ich nicht.

 – Wie kannst du da sicher sein?

 – Ich will niemanden angreifen. In der Küche steht ein frischer Kaiserschmarrn von der Mama. Du schaust aus, als ob du Hunger hättest. Und dein Bauch auch.

 – Okay.

 – Okay?

 – Okay, antwortet die Rosa und hakt sich in den Arm und das Leben des Lorenz Karl Ignatius Rathbauer ein.

Im darauffolgenden Herbst war

Im darauffolgenden Herbst war es so weit. Der Bauch von der Rosa ist gewachsen und gewachsen und dann sogar noch ein Stück weiter gewachsen. Der Watschelgang hat eingesetzt, der – kombiniert mit der nach außen gewölbten, prallen Kugel – ganz klar Auskunft gibt über eine baldige Niederkunft. Krimmwing, vor fünf Jahren prämiert als lebenswerteste Gemeinde Österreichs – wegen der guten Luft und der guten Berge und der exzellenten Wasserqualität –, hat sich trotz Unübersehbarem eine offizielle Verlautbarung von der Familie Steinlachner erwartet. Im Rahmen von Zusammenkünften der Gemeindemitglieder zum Beispiel. Eine Hofeinladung mit Most, Sturm und Speckbroten hätte niemand ausgeschlagen. Man hat versucht, näheres herauszufinden, über die Um- und Zustände von der Rosa. Also hat man den jungen Rathbauer traktiert, der sich gelegentlich auf ein Kartenspiel zu den anderen gesetzt hat:

 – Jetzt erzähl, sagt einer.

 – Wenn du der Kindsvater bist, kannst es ruhig zugeben, sagt ein anderer.

 – Fesches Mädl, die Rosa. Wir würden’s alle verstehen, pflichtet ein weiterer bei.

 – Seid’s mir nicht böse, aber das geht euch nichts an.

 – Und wenn doch?

 – Aber wenn nicht?

 – Stehst leicht nicht auf Weiber?, mischt sich der Schuster Anton ein.

Wenn der Rathbauer den Anton anschaut, was er meist vermeidet, weil an dessen Mund viele, gemeinsame Erinnerungsfunken kleben, durchströmt ihn ein buntes Gefühl. Eines, das zu seinem Braunbärchen-Propellerhut-Dasein gut passen würde. Wenn sich die Nacht über Krimmwing legt, wird der Anton zärtlich und zahm. Sanft und großzügig, leidenschaftlich und ein Krug voller Versprechen, der sich dreimal wöchentlich in seinen Körper ergießt.

Egal in welcher Zeit man lebt, es gibt immer ein gewisses Grundgespür dafür, was von der Gesellschaft toleriert wird und was nicht. Das diverseste, was Krimmwing je zu Gesicht bekommen hat, war die aneinandergereihte Platzierung von verschiedenem Obst und Gemüse am Krimmwinger Wochenmarkt. Und der Rathbauer hat gewusst, dass er den Anton früher oder später an eine Frau aus dem Dorf verlieren wird.

 – Lass gut sein, Anton, antwortet der Rathbauer ohne ihn anzuschauen, und dann tut der – zum großen Erstaunen seiner Freunde – genau das.