Schneewärts

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Schneewärts
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Anna Cron



Schneewärts










Originalausgabe



Jede Ähnlichkeit mit realen Personen ist zufällig und nicht beabsichtigt.



© Schruf & Stipetic GbR, Berlin 2019



www.schruf-stipetic.de



Cover: JBC



Verwendetes Foto: Hanfried Schüttler



ISBN: 978-3-944359-57-1



Vervielfältigung und gewerbliche Nutzung nur nach ausdrücklicher



Genehmigung der Schruf und Stipetic GbR.




Inhalt





Teil 1







Nachtfrost 1-25







Nachtfrost 25-55







Teil 2







Das weiße Licht







Teil 3







Joëlle







Epilog







Lores Kochbuch









Erster Teil



NACHTFROST







1



Wie ein böses Tier stürzte der Orkan über die Gipfel der Bergkette ins Tal, um hier sein Unwesen zu treiben. Häuser wurden abgedeckt, Strommasten umgeknickt als wären sie aus Reisig geschnitzt; Stromleitungen hingen auf den Straßen oder über mitten durchgebrochenen Bäumen, die, noch fest im Boden verankert, ihre Stämme nach oben reckten, um sie, auf halber Höhe im spitzen Winkel gesplittert, auf die Erde abfallen zu lassen. Ihre Kronen lagen daneben, abgeschnitten von den Wurzeln, von denen sie nun nicht mehr versorgt werden konnten. Manche der Riesen waren gar entwurzelt und lagen zur Gänze über den Wegen. Vollständig, gesund und dennoch dem baldigen Tod geweiht, als hätte der nicht warten wollen und unter Zuhilfenahme des Sturms den Vorgang beschleunigt. Später würden die Stämme geschält und im Sägewerk zum langsamen Austrocknen aufgeschichtet. Nach dem Sturm traten die Menschen aus den Häusern und gewahrten das Ausmaß der Verheerung. Kaum waren die Aufräumarbeiten beendet, zog der Winter in die abgeschlossene Welt des Tals. Zuerst spürte man es in der Luft, die plötzlich still wurde. Es schlief der Wind, sammelte seine Kräfte, um bald schon die eisigen Schneestürme vor sich herzujagen. Die Zeit des Frosts begann. War man eben noch leicht und frei in den sonnigen Tag getreten, so zog man jetzt die Schultern hoch und hüllte sich in wollenes Tuch. Klirrende Kälte ließ die Gräser und Büsche erstarren, überstäubte sie mit matt schimmerndem Raureif und ließ sie für eine Weile wie gläserne Kostbarkeiten im Licht des aufgehenden Tages erstrahlen. Noch glitzerte es und blinkte; bald käme der Tod, der wenig beeindruckt von dieser Pracht schwarze Fäulnis ins Erdreich drücken würde, auf dass im Frühjahr nach der Schneeschmelze neues Leben daraus erwüchse. Auf den Schnee wartete man ungeduldig. Sehnte sich nach seiner weichen Sanftheit, der Ruhe, die er mit sich brächte. Er würde sein weißes Tuch über die Welt legen und die faulende Metamorphose unter sich begraben. Still würde es, und selbst das Gejauchze der Kinder, die endlich ihre Schlitten und Skier auspacken könnten, wäre gedämpft von der wattigen Weichheit, die in der Luft lag. Wenn man am nächsten Morgen den ersten Blick aus dem Fenster täte und eine unberührte, weiße Welt erblickte, empfände man nichts als Frieden, bevor man seufzend die schweren Schuhe anziehen und die gefütterten Handschuhe überstreifen müsste, um die Schneeschippe aus dem Abstellraum zu holen und der Schönheit, zumindest vor der eigenen Tür ein vorläufiges Ende zu bereiten.



2



Bettis Vater war ein mürrischer Mann. Das Leben war rau und die Umstände waren schwer. Er musste jeden Morgen um fünf Uhr aufstehen; eine halbe Stunde später ging bereits sein Zug. Es war ein unbequemer Bummelzug, der an jedem Dorfbahnhof hielt, um die Menschen an ihre Arbeitsplätze zu bringen. Bettis Vater brauchte über eine Stunde, bis er die Großstadt erreichte, wo er umsteigen musste. Nach einem zwanzigminütigen Aufenthalt am Bahnhof, wo er eine Zeitung kaufte, seinen ersten Kaffee im Stehen trank und ein trockenes Brötchen aß, bestieg er den Eilzug, der ihn nach einer weiteren Dreiviertelstunde in die Stadt brachte. Dort arbeitete er als Physiker in einem Elektrokonzern. Spätestens Punkt acht Uhr musste er, um eine Abmahnung zu vermeiden, die stets mit einem Gehaltsabzug einherging, die Lochkarte in den Stempelkasten stecken. Wenn Schnee lag, war dies nur schwer zu bewerkstelligen. Nicht nur, dass er noch früher sein warmes Bett verlassen musste, um den Schnee vor dem Haus an den Straßenrand zu schippen, oft hatte auch der Zug Verspätung. Die eingeschneiten Schienen mussten freigeräumt und wieder passierbar gemacht werden. Dann erreichte der Mann nur mit großer Anstrengung seinen Anschlusszug, in dem er mit knurrendem Magen, ohne wärmenden Kaffee und ohne Zeitung verdrossen seiner Arbeit entgegeneilte und sein Leben verfluchte. Der Tag war ihm infolgedessen verleidet. Und die Abende verliefen in gedrückter Stimmung, was besonders für die Kinder unangenehm war. Um sieben Uhr kam der Vater nach Hause, und um halb acht setzte sich die Familie zum Essen an den Tisch. Gerne hätten die Kinder ihren Tagesablauf geschildert, den ersten selbstgebauten Schneemann hinter dem Haus beschrieben oder einfach nur ihrer freudigen Erregung über das Wetter Ausdruck verliehen; an diesen Abenden jedoch wurde kaum gesprochen. Man aß stumm und hoffte, den Vater nicht noch mehr zu verdrießen. Betti hatte einen drei Jahre älteren Bruder und eine zwei Jahre ältere Schwester. Sie war das Nesthäkchen, ein kleines mageres Ding mit brennenden, riesigen Augen, die oft zu stark gerötet waren, als dass man das Kind wirklich schön nennen konnte. Ihre Haut war durchsichtig mit einem leichten Olivton. Die schweren dunkelbraunen Locken säumten fest und steif geflochten ihr bleiches Gesicht, das durch die dunklen Augenringe fast einen dämonischen Ausdruck bekam. Sie sah sehr schlecht und schielte, was sich verstärkte, wenn sie müde war.



Betti war ein scheues Kind. Oft schien sie sich in einer Traumwelt zu bewegen. Für Außenstehende nicht nachvollziehbar, brach sie ohne ersichtlichen Grund plötzlich in heftiges Weinen aus und ließ sich nur schwer wieder beruhigen. Bei Vollmond wandelte sie im Schlaf. Sie versteckte ihre Bettdecke und versuchte, sich dann frierend mit dem Kopfkissen zuzudecken. Wie ein Geist strich sie durchs Haus und wurde von ihren Eltern, wenn diese noch wach waren, vorsichtig wieder zurückgeleitet, oft in deren eigenes Bett. Die Eltern vermieden es tunlichst, sie zu wecken, denn wenn sie in so einem Moment wach wurde, schrie sie regelmäßig vor Entsetzen, bis ihr Gesicht sich rotblau verfärbte, sodass schließlich die ganze Nachbarschaft aufwachte. Nicht selten hatte Betti Albträume. Sie weinte im Schlaf. Wenn sie geweckt wurde, wimmerte sie: »Mein Blut tut weh!« und stürzte die um ihre Nachtruhe gebrachte Familie in genervte Gereiztheit. Besonders der Vater, der früh aufstehen musste, entwickelte im Lauf der Jahre eine heftige Abneigung gegen die nächtlichen Störungen, so sehr er die Kleine liebte. Er sah sie schwer atmend mit geschlossenen Augen auf dem Kissen liegen, sah, wie sich die schmächtige Brust hob und senkte und mitunter schwere Seufzer hervorstieß, er sah die vom Weinen wunden Lider zittern und hatte Mitleid. Er erlöste sie aus ihrem Traum, nahm sie auf den Arm, trug sie umher, bis sie erneut eingeschlafen war, und legte sie dann wieder zurück ins Bett. Tagsüber schlich Betti durch das Haus und verkroch sich in den hintersten Winkel des obersten Dachbodens, wo sie sich ein Eckchen eingerichtet hatte, ihr Nest, das man auf Anhieb nicht sah, da es vom Lichteinfall der einzigen Dachluke verschont blieb. Sie klebte sich eine Feder unter die Nase und wurde zu Prinz Bäschkässä, dem Dichter, dem man nichts vormacht und dem man nichts glauben darf.



3



Im Wald stand eine Futterkrippe unweit der Jägerhütte, in der die Heuballen und Getreidesäcke gelagert wurden. Die Tiere waren daran gewöhnt, dort ihre Nahrung zu finden, sobald der erste Schnee gefallen war. Dieses Jahr war der Frost zu plötzlich hereingebrochen; Andres und sein kleiner Sohn Jockel sahen die Spuren, die zur Krippe führten, obwohl noch kein Futter in dem hölzernen Trog lag.



»Viel ist nicht mehr da«, sagte Andres. »Wir werden morgen eine Ladung anliefern müssen, um das Futterhäuschen aufzufüllen.«



Noch konnte das Wild Nahrung im Wald finden. Erst wenn Schnee läge, würde der Trog mit Eicheln, Bucheckern, Kastanien und Heu gefüllt. Jockel dachte, dass die Tiere gewiss erbost wären, wenn die Menschen sie vergäßen. Schließlich konnte man vorher riechen, ob es schneien würde oder nicht. Jockel roch den nahenden Schnee, und er schloss bereits abends seine Augen in Vorfreude auf den nächsten Morgen, an dem die Welt weiß wäre. Das Wohnzimmer lag schräg gegenüber von seinem Zimmer. Wenn Lore nicht zugegen war, blieben die Türen immer einen Spalt geöffnet, damit kein böser Traum unbemerkt in Jockels Zimmer schlüpfen konnte. An diesem Abend war Lore mit einer Freundin verabredet und würde erst in der Nacht zurückkehren. Vor dem Schlafengehen sagte Jockel:



»Morgen liegt Schnee.«



»Woher willst du das wissen, mein kleiner Schlaumeier?«, fragte Andres.

 



Und Jockel antwortete: »Ich bin ein kleiner Schlaumeier!«



»Dann weißt du mehr als der Wetterbericht im Radio«, sagte Andres lächelnd. Er beugte sich über den Jungen und gab ihm einen Gutenachtkuss. Er strich die Decke glatt, blickte noch einmal zärtlich in das vor Vorfreude auf den morgigen Tag leuchtende Gesicht und ließ ihn dann allein. Spät am Abend, als Andres noch bei einem Buch und einem Glas Rotwein saß, begann es in dicken Flocken zu schneien. Er nahm das Glas, trat vor die Tür und sah zu, wie sich die Welt vor seinen Augen veränderte. Er hob sein Glas zum Himmel und prostete den Sternen zu.



»Auf den Jockel und auf dich!«, sagte er, führte das Glas zum Mund und trank.



4



Jockels Mutter war bei seiner Geburt an einem Aneurysma gestorben, das durch die Wehen geplatzt war. Das Kind war eine Woche vor dem errechneten Termin zur Welt gekommen, und noch bevor die Hebamme und der Arzt das Haus erreicht hatten, hatte Christine für immer die Augen geschlossen. Der Arzt hatte ihr nur noch das Gesicht vom Blut reinigen können, das ihr aus Mund und Nase geschossen war, und sich dann zurückgezogen, um den Vater in seinem Schmerz nicht zu stören. Als Arzt hatte er tagtäglich mit dem Tod zu tun. Doch immer wieder erschütterte ihn dieser. Starb ein alter Mensch, war es stets traurig, doch hatte man damit rechnen können, und seine Angehörigen konnten sich mit dem Gedanken trösten, dass der geliebte Mensch sein Leben gelebt hatte. Es war der Lauf der Dinge und oft war der Tod eine Erlösung, sodass der Arzt erleichtert war, da die Qual nun ein Ende hatte. Doch wenn ein junger, blühender Mensch starb, haderte er nicht selten mit Gott, an den er glaubte und dem er ansonsten vertraute. Jockels Mutter war fast noch ein Mädchen gewesen, ihr Körper kaum ausgewachsen. Es hätte ein Glückstag für sie sein sollen, der Geburtstag ihres ersten Sohnes, den sie ein Dreivierteljahr in ihrem Leib getragen und nicht viel mehr als zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Liebe empfangen hatte. Was hatte sie denn von ihrem Leben gehabt? Der Arzt hatte auf ihr stilles, sanft lächelndes Gesicht geblickt und ein Gebet für sie gesprochen. Der Schmerz ihres Gatten hatte auch an seinen Nerven gezehrt, und Tränen waren ihm auf seine gefalteten Hände getropft. Dann hatte er das heftig schreiende Kind gründlich untersucht und der Hebamme in den Arm gelegt.



Jockel hatte seine Mutter nie gekannt, infolgedessen auch nie vermisst. Andres indes hatte nie aufgehört, Christine zu vermissen. So sehr ihn ihr früher Tod grämte, liebte er doch das Kind. Niemals hätte er es der Obhut seiner oder Christines Mutter anvertraut, so nahe diese ihm und dem Kleinen auch immer standen. Und so hatte er, der Biologie und Forstwirtschaft studiert hatte, sein Haus am Stadtrand von Wuppertal verlassen und den Posten als Forstmeister in der fränkischen Schweiz angenommen. Diese Arbeit konnte er sich selbst einteilen, und sie trennte ihn auch tagsüber nicht von seinem Sohn. Andres lebte nun mit ihm und Lore, die den Jungen offen und den Vater heimlich liebte, allein im Forsthaus am Waldrand hinter der kleinen Stadt.



5



Jockel hatte schon als Dreijähriger jeden Baum, jeden Strauch und alle Tiere, die hier beheimatet waren, beim Namen gekannt. »Papa, Hirsch!«, hatte er aufgeregt gerufen, wenn er eine Hirschlosung entdeckte. Schon damals hatte er die Spuren der Tiere, die Abdrücke ihrer Pfoten und ihre Ausscheidungen erkannt und stundenlang mit seinem Vater still auf dem Hochsitz gesessen und das Wild beobachtet. Er wusste, welche Früchte man bedenkenlos essen konnte und welche giftig waren, und er wusste, welche Früchte roh verzehrt abscheulich, jedoch mit Zucker gekocht herrlich schmeckten. Lore kochte die besten Marmeladen und die wohlschmeckendste rote Grütze aus Waldfrüchten. Hagebutten, Blaubeeren, wilde Himbeeren, Brombeeren, Schlehen, Holunder und die kleinen Walderdbeeren wurden zu Säften, Konfitüren und Desserts verarbeitet. Jockel liebte den Wald. Er liebte den Geruch, die Stille und friedliche Stimmung. Wenn ihn, wo immer er sich befand, die Angst ankam, dachte er sich in die Dunkelheit seines Waldes hinein, und die Angst verflog. Er liebte das feuchte Moos, die hohen Kiefern und vor allem den kleinen Bach, der unter einer hohen Sandwand, dem sogenannten Sandrutsch, entlanglief, in dem es Krebse gab und wo zahlreiche Fische laichten. Lore ging mit ihm Krebse fischen. Sie schabten mit einem Korb im sandigen Grund, da, wo zuvor Blasen aufgestiegen waren und zogen dann schnell den Korb aus dem Wasser. Waren Krebse darin, wurden sie in einen mit Wasser gefüllten Eimer geworfen, in dem sie sich nach einem kurzen Schock wieder bewegten. Noch waren sie in ihrem Element und ahnten nicht, dass sie schon am Abend auf dem Esstisch im Försterhaus stehen würden. Dort setzte Lore einen Kessel voll Wasser auf den Herd. Dann warf sie zwei geschälte Zwiebelhälften, eine gereinigte Petersilienwurzel, einen Melisse- und einen Pfefferminzstrunk, von denen Jockel zuvor die Blättchen für die Mayonnaise abgestreift hatte, ein paar ausgepresste Zitronenhälften und Lorbeerblätter hinein. Wenn sie die Krebse in den kochenden Sud warf, stießen sie einen pfeifenden Ton aus. Jockel hielt sich die Ohren zu und freute sich auf das köstliche Fleisch, das Lore mit selbstgemachter Kräutermayonnaise servierte. Wenn der Schaum vom Sud geschöpft war, durfte Jockel die Mischung aus schwarzen Pfefferkörnern, Piment und grobem Salz, die Lore vorbereitet hatte, hinzufügen. Dabei beschrieb sie singend ihr Tun:



»Jetzt nimmt die gute Lore schwarzen Pfeffer, fünf Körner reichen uns, sonst wird’s zu scharf.« Und Jockel sang:



»Und ich, der kleine Jockel, der hilft mit, weil er das darf.«



Jockel durfte ein Ei aufschlagen und musste dabei das Eigelb vom Eiweiß trennen, was gar nicht so leicht war. Man musste schon beim Aufschlagen an der Schüsselkante aufpassen, dass die dünne Dotterhaut nicht platzte und sich in das farblose Eiweiß ergoss. Dann sah er gespannt zu, wie Lore den Pfeffer zusammen mit groben Salzkristallen im Mörser zerstieß und diese Mischung mit dem Eigelb verrührte. Manches Mal drückte Lore noch ganze sechs Knoblauchzehen in das Eigelb, bevor sie langsam das zimmerwarme Öl hinzufügte. Erst ließ sie es von einem Teelöffel tropfenweise auf die Eiersuppe fallen, bis ein fester Brei zustande kam, dann nahm sie die Flasche, ließ den dünnen, gleichmäßigen Strahl beständig in ihre Schüssel laufen und verkündete schließlich trällernd:



»Ich glaub, es reicht!«



Jockel gefiel die kaum wahrnehmbare Bewegung, mit der das Öl nach unten floss, gleich einem glatten goldenen Stöckchen. Ein wenig Senf, ein wenig Zitrone, sehr wenig Waldhonig, die gehackten Kräuterblättchen und ganz zum Schluss noch ein guter Schuss süßer Sahne machten Lores Mayonnaise zur köstlichsten Ergänzung für das Krebsfleisch.



»Jakob, oh Jakob, die Krebse sind gar, ich glaube, das Essen wird wunderbar!«, sang sie, und Jakob durfte abschmecken. Nun wurden die Krebse mit dem Schaumlöffel aus dem Sud genommen, aufgeschnitten, mit einem spitzen Messerchen gereinigt und mit etwas Zitronenbutter bestrichen. Jockel assistierte mit kleinen Handreichungen.



6



Jockel wurde eingeschult und lernte Betti kennen. Da sie im Januar geboren war, aber nach einem Reifetest schon im September vor ihrem sechsten Geburtstag eingeschult wurde, war sie kleiner und jünger als die anderen Kinder. Sie hatte sich auf die Schule gefreut. Dort, dachte sie, darf man lesen und schreiben und rechnen und wird dafür sogar noch belohnt. Am ersten Schultag trug sie stolz ihre große Zuckertüte im Arm und stapfte an der Hand der Mutter an den Ort, wo sie das Paradies vermutete. Auf dem Schulhof versammelten sich die Kinder mit ihren Eltern und wurden namentlich von den Lehrern aufgefordert, sich ihrer jeweiligen Gruppe anzuschließen. Betti hatte große Angst, man könnte vergessen sie aufzurufen, und war erleichtert, als sie schließlich ihren Namen hörte. Sie rannte auf die Lehrerin zu, stolperte und stürzte. Ihre Schultüte, die so schön mit Goldpapier eingeschlagen war, fiel ihr aus der Hand. Dabei zerriss das Futter aus Krepppapier und der gesamte Inhalt verteilte sich auf dem Boden. Hastig sammelte Betti die Sachen zusammen und packte sie zurück in die Schultüte. Schon rückten die anderen Kinder kichernd zusammen, rümpften die Nasen und erhoben sich über ihre unglückliche Mitschülerin, die vor Scham am liebsten im Boden versunken wäre. Bettis Strümpfe waren an den Knien aufgerissen; darunter zeigten sich blutige Schürfwunden, die sie nicht weiter beachtete. Die Frau des Hausmeisters nahm das Kind bei der Hand, führte es in ihre Wohnung, wusch ihr die Wunden, entfernte mit einer Pinzette kleine Steinchen, strich brennendes Jod darauf und klebte ein Pflaster darüber. Die Mutter stand daneben und trocknete Bettis Tränen, was diese widerwillig über sich ergehen ließ. Als sie schließlich in ihr Klassenzimmer trat, hatten die anderen Kinder sich bereits paarweise zusammengefunden und ihre Sitzplätze eingenommen. Betti setzte sich verlegen in die hinterste Reihe neben den kleinen Rudi, den einzigen, der alleine in einer Bank saß, und wurde dafür von der gesamten Klasse schallend ausgelacht.



»Das geht natürlich nicht, kleine Betti, da drüben sitzen die Mädchen«, sagte die Lehrerin und wies ihr einen Platz am leeren Tisch daneben zu.



7



Rudi war der Enkel des einzigen Optikers und Uhrmachers im Dorf. Er hatte beide Eltern verloren und war ebenso isoliert wie Betti. Doch da er nicht besonders auffiel, hatte er weit weniger zu erdulden als sie. Betti wurde schnell der Sündenbock der Klasse. Sie war anders als die anderen Kinder. Mit ihrem Haar und Hautton unterschied sie sich von ihren blonden Mitschülerinnen. So dunkel wie sie waren lediglich die Kinder, deren Eltern aus östlichen Ländern nach Deutschland geflohen waren, und die Kinder, die ihr Leben dem Vermächtnis von Besatzungssoldaten verdankten. Doch auch diese taten sich zusammen und blieben unter sich. Betti gehörte weder zu den einen noch zu den anderen. Deshalb wurde sie gehänselt, musste bei jedem Vergehen als Verursacherin herhalten und wurde stellvertretend für andere bestraft. Wurde sie an die Tafel gerufen, führte ihr Weg zwischen zwei Bankreihen hindurch nach vorne. Dann wurde sie, wenn Frau Berger, die Lehrerin, sich umgedreht hatte oder abgelenkt war, aus den Bänken heraus an den Zöpfen gerissen, am Rock festgehalten und dergleichen mehr. Mitunter stellte sich ihr ein Bein in den Weg, sodass sie der Länge nach zu Boden fiel. Manchmal wurde sie auch von hinten geschlagen oder durch ein Blasrohr mit einem kleinen Stein beschossen. Wenn Frau Berger sich umdrehte, sah sie in harmlos erstaunte Kindergesichter, die durchaus nicht zu verstehen schienen, was denn der Grund von Bettis Irritation gewesen sein könnte. Schließlich reagierte die nicht mehr auf den Aufruf, an die Tafel zu treten, und wurde zur allgemeinen Gaudi von einigen Mitschülerinnen auf ihrem Stuhl sitzend nach vorne geschoben. Die Lehrerin ließ dies kopfschüttelnd zu. Auch in den Pausen blieb Betti allein und starrte mit grau geränderten, rot entzündeten Augen aus ihrem bleichen, mageren Gesicht, dem man so leicht kein Lächeln abgewinnen konnte. Sie brockte ihr mitgebrachtes Pausenbrot den Spatzen hin und sah den anderen Kindern beim Spielen zu. Zumeist saß sie auf dem schmalen Mäuerchen, das einige Blumenbeete zum Hof hin abgrenzte. Nie sah man sie essen oder spielen. Sie saß nur da, blickte vor sich hin und wartete auf das Ende der Pause. Nach dem Unterricht, wenn alle hinausströmten, um den Weg nach Hause anzutreten, wartete sie, bis das Schulzimmer leer war. Sie vergewisserte sich, dass ihre Mitschülerinnen und Mitschüler das Haus verlassen hatten, und rannte dann in den ersten Stock hinauf zum Mädchenklo, schloss sich dort ein und wartete eine geraume Weile, bis sie hoffen durfte, auf ihrem Nachhauseweg nicht mehr überfallen und verprügelt zu werden. Doch Grausamkeit geht leicht einher mit Beharrlichkeit; und tatsächlich hatte man ihr oft aufgelauert, um sie in eine Ecke zu drängen und, verborgen vor den Augen zufällig daherkommender Passanten, zu verprügeln. Dann kam sie blutig gekratzt, grün und blau geschlagen, zerzaust und geschunden nach Hause. Nicht selten war ihre Kleidung zerrissen, was weitere Strafmaßnahmen nach sich zog, denn die Familie war – wie alle anderen Familien im Dorf so wenige Jahre nach dem Krieg – nicht gerade mit Reichtümern gesegnet. Nie verriet Betti den Grund für ihren Zustand, sodass sowohl Eltern als auch Geschwister, Tanten und Großtanten sie selbst für die Urheberin der Kämpfe hielten, und bald war sie als besonders aggressiv verschrien. Sie ließ die Leute in ihrem Glauben, denn sie schämte sich für die erlittene Unbill sowie für die Ablehnung, die sie durch ihre Schulkameraden erfuhr. Und so wurde ihr zumindest daheim kurzfristig eine gewisse Hochachtung entgegengebracht, die man stets dem Täter zollt und dem Opfer verweigert. Betti konnte bereits lesen und schreiben, bevor sie eingeschult wurde. Sie hatte ein altes Schulheft von ihrem großen Bruder geschenkt bekommen, die zwei einzigen beschrifteten Seiten herausgerissen und es ihr »Bäschkässä- und Betti-Buch« genannt. Sie schrieb kleine Gedichte und schilderte die Ereignisse ihres Tages in dem Heft, das sie sorgsam versteckte.

 



Ganz anders erging es Jockel. Jung und Alt waren vernarrt in den kleinen Jungen mit den großen blauen Augen, der Stupsnase und den blonden Locken. Die Knaben wählten ihn, obwohl er sanft und versöhnlich war, zu ihrem Anführer, die Mädchen fanden ihn »süß« und buhlten um ihn, so jung sie noch waren. Er hatte ein Wesen, dem sich kein Mensch entziehen konnte. Die Lehrer wie die Eltern der anderen Kinder waren entzückt von seiner Freundlichkeit, seiner Offenheit und seinem ungekünstelten Ernst. Die Tiere fraßen ihm förmlich aus der Hand und ließen sich von ihm zähmen. Man wusste, dass seine Mutter gestorben war und er allein mit seinem Vater und der Haushälterin Lore im Forsthaus am Waldrand wohnte, was den Grad der Sympathie, die man ihm entgegenbrachte, noch erheblich steigerte. »Der arme Jockel« oder »das arme Kind« war in jedem Haus ein gern gesehener Gast. Und wenn eines der Kinder zu Besuch im Forsthaus war, holten die Mütter nur zu gern ihre Sprösslinge dort ab. Dann versorgten sie Lore mit dem neuesten Klatsch und erfuhren von ihr ein neues Kochrezept.



8



In diesem Jahr schneite es besonders heftig. Es begann in der Nacht, und am nächsten Morgen hatte man Schwierigkeiten, die Haustüren aufzumachen, so hoch lag bereits der Schnee; und ein Ende war nicht in Sicht. Im Laufe des Tages fiel der Generator des Elektrizitätswerks aus, sodass in weitem Umkreis die Stromversorgung für zwei Tage und zwei Nächte unterbrochen wurde. Wer nicht hinausmusste, setzte sich an den Kamin oder an den Ofen. Die Kinder jedoch kramten ihre Schlitten aus den Kellern und Schuppen und rannten hinaus in die weiße Pracht. Sie bauten Schneemänner, lieferten sich Schneeballschlachten und rodelten kreischend den Berg hinunter. Als Jockel aufstand, war die Nacht noch lange nicht vorüber. Dennoch gab es ein fahles Licht vor dem Fenster. Er öffnete den Vorhang und sah verzückt in die veränderte Welt hinaus. Der Schnee lag schon fast einen halben Meter hoch. Jockel wusch sich, putzte sich die Zähne und schlüpfte in den warmen Pullover, den Lore ihm gestrickt hatte. Dann rannte er die Treppe hinunter in die Küche. Andres hatte Kakao gekocht, der auf dem Tisch in Jockels Tasse dampfte. Er hatte bereits Heubündel und die Säcke mit den Eicheln und den Bucheckern, die die Waldarbeiter gesammelt und in der Forstscheuer aufgeschichtet hatten, mit breiten Gurten auf dem großen Lastschlitten festgezurrt.



»Frühstück gibt’s danach, erst kommen die Tiere dran«, sagte er und lächelte, als er daran dachte, dass Jockel den Schnee vorher gerochen hatte.



Dann wurde Benno aus dem Stall geholt, und während Jockel seine Schokolade trank, warf Andres dem Gaul die grüne Filzdecke über den Rücken und spannte ihn vor den Schlitten. In hohen Stiefeln gingen sie neben dem müden Tier einher, das wohl gerne noch in der Wärme seines Stalls geblieben wäre. Es schneite unentwegt. Sie sprachen wenig, und wenn, dann wurde der Klang ihrer Worte im Nu vom Schnee gedämpft. Selbst die Anweisungen für Benno trafen kaum als Laute sein Ohr, doch folgte er seinem Instinkt. Er kannte den Weg.



»Als wären wir alleine auf der Welt. Nur du und ich und Benno«, sagte Jockel, trat um den Schlitten herum neben seinen Vater und ließ die behandschuhte Hand in dessen Tasche gleiten.



»Zum Glück sind wir nicht ganz alleine auf der Welt«, meinte dieser.



»Das stimmt! Zum Glück haben wir unsere Lore und …«



Jockel seufzte und schwieg dann.



»Möchtest du mir etwas erzählen?« Besorgt betrachtete Andres seinen Sohn, soweit das Schneegestöber es zuließ.



»Später vielleicht Papa«, seufzte Jockel noch einmal und schüttelte den Kopf.



Um das Jagdhäuschen und die Krippen herum war der Schnee bereits vom Wild festgetrampelt. Der Hunger hatte die Tiere zu den Futterstellen getrieben und enttäuscht wieder abziehen lassen. Nun warteten sie hinter Büschen und Bäumen verborgen auf die Menschen, denen sie ansonsten geflissentlich aus dem Weg gingen. Sobald die hölzernen Tröge gefüllt und die Wohltäter wieder verschwunden wären, würden sie rasch aus ihren Verstecken stürzen, um sich die Mägen zu füllen. So lange der Schnee anhielt, würde es nun täglich so gehen.



Auf dem Nachhauseweg betrachtete Andres seinen Sohn von der Seite. Nachdenklich und in sich gekehrt stapfte Jockel neben seinem Vater her. Er konnte ungewöhnlich ernst und im nächsten Augenblick wieder fröhlich sein. Ungerechtigkeit und Leid gingen ihm stets zu Herzen. Wenn Frauen aus der Stadt bei Lore hereinschauten, in der Küche saßen und ein fremdes Unglück durchhechelten, fiel Jockel manchmal in große Trauer, die ihn nicht selten sogar zum Weinen brachte, auch wenn er kurz zuvor noch herzlich gelacht hatte. Seit September ging er nun zur Schule, und seither hatte er sich stetig verändert. Er war in wenigen Monaten ein ganzes Stück gewachsen und sein Gesichtsausdruck war ein anderer geworden. Das war nichts Außergewöhnliches. Doch seit einiger Zeit war er stiller. Etwas schien ihn zu bedrücken, denn immer häufiger sah Andres ihn nachdenklich vor sich hin grübeln und hörte ihn mitunter seufzen. War er etwa verliebt? Andres erinnerte sich an seine erste Liebe, auch er war damals erst sechs und seit wenigen Monaten eingeschult gewesen. Roswitha Ebbig, Rosi. Sie hatte wundervolles rotbraunes Haar gehabt, ihre kaum zu bändigenden Locken waren zu festen Zöpfen geflochten, sie hatte eine sehr helle Haut und blaugrüne Nixenaugen gehabt. Alle Jungen waren in sie verliebt gewesen, was sie gewusst und genossen hatte. Er erinnerte sich daran, wie er sie einmal auf der Straße an der Hand ihrer Mutter gesehen hatte. Sie hatte sich nach ihm umgedreht und ihn angelächelt. Er wusste noch sehr genau, wie ihm das Blut in den Kopf gestiegen war, während sich in seiner Brust eine merkwürdige Hitze ausgebreitet hatte. Er war nach Hause gerannt und hatte gesungen:



»Sie liebt mich!«



Später, als sie schreiben konnten, hatte er ihr Briefe zugesteckt, die sie zu den anderen zahlreichen Liebesbriefen seiner Nebenbuhler in die Tasche geschoben hatte. Er erinnerte sich an den Schmerz, den es ihm verursacht hatte, als er sie mit Franz Vitzthum hinter dem Heuschober von Bauer Klosterhuis gesehen hatte. Eigentlich war da gar nichts gewesen. Franz und Rosi hatten nur mit angewinkelten Knien beieinandergesessen und geredet. Sonst nichts. Aber für ihn war damals die Welt eingestürzt. Rosi hatte nach dem Krieg einen amerikanischen Soldaten kennengelernt und war ihm in seine Welt gefolgt. Seither hatte Andres nichts mehr von ihr gehört. Wer weiß, was aus ihr geworden war.



Aber vielleicht war es ja auch etwas ganz anderes und Jockel würde beim Frühstück darüber reden.



Als sie am Forsthaus anlangten, war Lore schon aufgestanden. Jockel führte das Pferd in den Stall, nahm ihm die Filzdecke ab und rieb ihm die Beine trocken, während Andres den Schlitten in die Scheune schob und die leeren Säcke zum Trocknen aufhängte. Als sie im tiefen Schnee über den Hof zum Haus stapften, kam ihnen bereits der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee und gebackenen Waffeln entgegen. Sie öffneten die Tür, klopften ihre Stiefel ab und traten ins Haus. In der warmen Küche war der Tisch bereits gedeckt.



9



Nun ging Betti bereits seit drei Monaten zur Schule. Die Erstklässler bekamen noch keine Halbjahreszeugnisse, den Kindern wurde stattdessen ein Beurteilungsbogen ausgestellt, der sich einzig auf soziale Fähigkeiten und seelische Reife bezog und ein Fiasko für Betti war. Vermutlich wollte die Lehrerin ihr nur helfen, als sie Bettis verstockten Charakter und ihren angeblichen Hang zur Gewalttätigkeit gegen ihre Schulkameraden schilderte. Natürlich hatten die Kinder der Lehrerin sowie ihren Eltern gegenüber die Rolle des Angreifers auf Betti geschoben, sodass sie bei den meisten Erwachsenen schlecht angesehen war. Diese verboten ihren Sprösslingen den Umgang mit der »bösen Betti« oder dem »Satansbraten«, wie man sie allgemein nannte. Kurz bevor die Weihnachtsferien begannen, sah Jockel, wie Betti von ihren Mitschülerinnen verprügelt wurde. Er war fasziniert und erschrocken zugl