Wie der dicke Joachim sich in Australien verliebte

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Wie der dicke Joachim sich in Australien verliebte
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Angelika Singer

Wie der dicke Joachim sich in Australien verliebte

Roman

Für Michael

Das vorliegende Buch ist ein fiktives Werk. Alle Namen, Figuren und Vorkommnisse entspringen der Phantasie der Autorin. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Titelfoto © Angelica Singer

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Wie der dicke Joachim sich in Australien verliebte

Mein Name? Mir wurden viele gegeben von den Völkern. Mein Geschlecht? Meine Herkunft? Ach, ihr Sterblichen! Alles wollt Ihr klassifizieren und benennen. Sobald ein nichtirdisches Wesen von Euch einen Namen erhält, dauert es nicht lange und die Menschen werfen sich vor ihm in den Staub. Was einen Namen trägt hat Füße und die versucht Ihr alsbald zu küssen.

Meint Ihr, das sei meiner Existenz würdig? Von Sterblichen angebetet werden?

Ich wirke – unabhängig davon, ob ich erkannt werde oder nicht. Trotzdem gaben sie mir Namen. Es bleibt sich gleich, ob sie mich nun Fatum oder Moira, das von den griechischen Göttern verhängte Schicksal, nennen. Nein, es beeinflusst mein Tätigwerden nicht. Ich bin ein Gesetz. Eines von den Gesetzen, die ihr nicht versteht und auch nie begreifen werdet.

Ja, ich gebe es zu. Es kann ein wenig langweilig werden in den Ewigkeiten. Denn über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg ergeben sich doch immer die gleichen Muster. Deshalb liebe ich überraschende Wendungen, die, welche einen ungläubigen Gesichtsausdruck bei Euch hervorrufen. „Was? Der lebt immer noch?“, ruft ihr verdutzt aus, „Die Ärzte hatten doch vor Jahren schon seinen baldigen Tod verkündet!“ Es scheint Euch nicht recht zu sein, dass die Wissenschaft sich vor dem, was sie verbissen leugnet, beugen muss. Und ein anderer, über den sich alle Welt einig war, dass der niemals etwas Vernünftiges zustande bringen wird, dem wachsen plötzlich Flügel. Es passt Euch nicht. Ihr schaut nicht dahinter.

Die Ärzte und die Psychologen, die mich mit dem Bannfluch belegten, weil sie genau wissen, dass ich der rechtmäßige Grundherr des Feldes bin, welches sie beackern! Die beiden Berufsgruppen gelegentlich ein bisschen an der Nase herum zu führen versöhnt mich etwas mit der Langeweile meines Daseins.

Geradezu heiter – wenn so etwas wie Heiterkeit in meinen Sphären überhaupt vorkommt –, stimmt mich jedoch erst die Beschäftigung mit dem, was Ihr „Liebe“ nennt. Hier darf ich sein was ich bin: Unberechenbar. Unbeherrschbar. Frei. Nicht käuflich.

Nun gut, ich gebe es zu, häufig wirke ich so, dass es Euch Seelenschmerzen bereitet. Dafür gleiche ich aber an anderer Stelle mit Glück wieder aus, bringe die Waage ins Gleichgewicht. Mit einem Glück, dass ich oft dann erschaffe, wenn Ihr längst den Glauben daran verloren habt.

Seht! Joachim! Wie zufrieden er ist, versunken in Zukunftsträumen. Wird diese, seine Zukunft, sich so gestalten, wie er meint …?

George ist tot

Wie unsere Redaktion jetzt erst erfahren hat, ist vor einigen Wochen auf den Galapagos-Inseln die Riesenschildkröte George verstorben.

„Lonesome George“, wie er von den Rangern genannt wurde, war der letzte Vertreter der Unterart Chelonoidis abingdonii. Sein Alter konnte nur geschätzt werden. Er könnte hundert Jahre oder gar zweihundert Jahre gelebt haben …

„Schorsch ist tot.“ Joachim faltet seine Zeitung umständlich zusammen.

Die Moser-Reibach wirkt irritiert. Jedem ist bekannt, dass ein lasterhaftes Leben das Gesicht einer Frau zeichnet. Genau so übel wirkt sich die unfreiwillige Tugendhaftigkeit auf das Aussehen des weiblichen Geschlechts aus. Dagegen sind sogar die Schönheitschirurgen machtlos. Diese ganzen Operationen nützen auch den Berechnenden, Geldgierigen nichts. Ein glatt gezogenes Gesicht bringt wenig, wenn Habgier und Falschheit aus den Augen heraus schauen. Warmherzige Sinnlichkeit, echte Gefühle, dachte Joachim, das ist es, was eine Frau wirklich anziehend macht. Bei oberflächlichem Getue riecht jeder Mann drei Meilen gegen den Wind den Gestank der manchen Weibern voraus weht, wie dem Schweinestall die Gülle. Können gelegentlich nützlich und brauchbar sein, solche Weiber, aber auf Dauer? Nee.

Seine Mutter und sein Vater hatten ein halbes Jahrhundert zusammen verbracht. Durch Dick und Dünn. Er erinnert sich, wie die Hände seines Vaters immer noch vor Aufregung zitterten, wenn er ihr den Geburtstagsstrauß aus Maiglöckchen brachte. Und die liebevolle Geste seiner Mutter, wenn sie ihm beruhigend bei irgendeinem Ärgernis über den Rücken strich. Bis der Tod uns scheidet. So und nicht anders.

Dies alles geht Joachim durch den Kopf, während Frau Moser-Reibach ihn durch dicke Brillengläser mit kaltem Geschäftsblick fixiert. Ihre Augen gleiten verächtlich über seine füllige Gestalt. Frau Moser-Reibach, dürre Inhaberin des Autohauses Moser nebst Werkstatt, steht – jeder Zoll ganz Chefin –, fordernd im Frühstücksraum bei den Mechanikern und erwartete eine Antwort.

„Ich habe Sie etwas gefragt!“

Er weiß, dass sie ihn nicht mag. Weil er sie nicht mag. Sie kaufte seinen Freund damals ein, wie sie alles einkauft, was für Geld zu haben ist. Genau deshalb ist er nicht zu kaufen. Wo Hagen, einst Mechaniker wie er und nun seit über einem Vierteljahrhundert der Ehemann dieser Megäre, sich augenblicklich befindet, kann und will er ihr nicht sagen. Er streckt seinen über den Stuhl quellenden Körper – seit einigen Jahren fertigt die Industrie nur noch Möbel für schmalhüftige Zwerge –, im Rücken durch und sagt zu Leon, seinem jungen Kollegen, noch einmal „Schorsch ist tot.“

Die Moser-Reibach guckt böse.

„Welcher Georg?“ Sie sagt hochdeutsch G-e-o-r-g.

„Eine Riesenschildkröte. Auf den Galapagos-Inseln. Wo der Chef sich momentan aufhält, weiß ich nicht. Vielleicht macht der die Probefahrt mit der Sängerin.“

Die Sopranistin, die er meint, verfügt über einen ausladenden Busen und eine wilde rote Mähne. Beides gedenkt sie in einem Cabrio vorteilhaft zur Geltung zu bringen. Sie lacht mit glockenheller Stimme laut und viel, trägt gern Leder und scherte sich wenig um die Fältchen um ihre Augen. Sieht unter der dicken Schminke auf der Bühne sowieso keiner, wedelte sie den Jugendwahn mit einer lässigen Handbewegung weg. In ihrer Sprechstimme liegt immer ein leichtes Gurren. Sie wirkt verdammt anziehend. Auf alle Männer in diesem Laden und besonders auf Hagen, den Chef, der sich so anreden lässt, obwohl ihm hier kein Autoreifen und kein Mauerstein gehört.

Die wirkliche Besitzerin, die Moser-Reibach, Erbin und Geschäftsführerin, wirkt männlich herb. Eine frühe Sympathisantin harrscher Feministinnen. Keine weibliche Figur erkennbar, flach wie ein Brett und hart im Leben und im Geschäft. Jeglicher Genussfreudigkeit abhold. Den Laden hätte die hier nach dem Tod des alten Moser auch allein geschmissen, so, wie sie das Personal unter Druck setzt.

Heilgymnastik, Schwimmen, Sport im frühen Morgentau, Diät und Selbstkasteiung. Alle paar Wochen ein Besuch bei ihrer alten Tante in Baden-Baden. Joachim findet, dass die Umwerbung der Megäre für Hagen ein hoher Preis für die Selbstdarstellung als Autohauschef gewesen sein muss. Teuer erkauft. Wie auch immer, Hagen wollte den Laden um jeden Preis und die Moser-Reibach wollte Hagen. Wozu auch immer. Schon bald nach der Hochzeit widmete er sich wieder seinen wirklichen Interessen. Er ist ständig hinter Weibern her, nicht nur solchen Prachtexemplaren wie der Sängerin. Im Moment ist er wohl mit der Kleinen vom Kundenservice im Reifenlager zu Gange. Also wichtig, die Alte auf eine falsche Fährte zu bringen. Hagen vertraut auf seine Loyalität.

Mit gleichgültiger Miene trinkt er seinen Kaffee aus, schaut auf die Uhr und steht auf. Die Frühstückspause ist zu Ende. Die Chefin blickt nochmals angewidert auf seine Körperfülle, diesen massigen Kerl mit dem renitenten Blick, den sie längst gefeuert hätte, wenn Hagen nicht beide Hände über den halten würde, dreht sich auf den Gummiabsätzen der Gesundheitsschuhe um und geht kerzengerade in die Buchhaltung. Ersatzweise die Mädchen dort etwas schikanieren, wenn sie schon ihren Gatten nicht erwischen kann.

Joachim stapft schwerfällig in die Werkstatt zu seinem Arbeitsplatz. Beim giftigen Blick der Moser-Reibach wurde sein Herz vorhin von einem nervösen Zucken befallen. Das ist neu. Jetzt spürt er einen dumpfen Druck in der Brust. Sein Herzmuskel muss zu viel arbeiten, zu viel Gewicht herum schleppen und zu viel Chips, Bier, Schweinebraten und Kaffee ertragen. Nicht zu vergessen die Süßigkeiten mit unzuträglichen Zusatzstoffen.

 

In der Werkstatt macht er sich an dem neu hereingekommenen Japaner zu schaffen. Die Japse produzieren auch nicht mehr das, was es mal war. Alle ausgepowert. Japan sei wirtschaftlich gesehen auf dem absteigenden Ast las er neulich im Wirtschaftsteil. Er liest immer noch jeden Tag die Zeitung auf altmodische Art, obwohl seine Töchter ihn auslachen und raten, er solle sich ein Smartphone zulegen. Die haben gut reden mit ihren grazilen Händen. Er mit seinen Wurstfingern und den schwächer werdenden Augen tut sich da schwer. Scheint die Sonne auf das Display, erkennt er trotz Brille nichts. Alles Mist. Die wollen uns doch nur in den elektronischen Würgegriff nehmen. Virtuelles Leben statt echtes. – Ja, die Japaner. Haben genug Sorgen mit ihrem explodierten Atomkraftwerk. Die Russen haben ihres damals einbetoniert. Warum machen das die Japse nicht? – Die Amerikaner sind auch keine ernst zu nehmende Größe mehr. Weder auf dem Automarkt noch sonst. Kein Wunder, wenn bei denen bekiffte Monteure die Wagen zusammen basteln. Von den Japanern überholt. Und jetzt werden die wiederum überholt. Von den Chinesen, dem alten Erzfeind. Überholen ohne einzuholen – wer hat das nochmal gesagt? Egal. – Jedenfalls beginnen die Japse zu schwächeln. Haben sich völlig verausgabt mit ihren ständigen Überstunden, dem immer paraten Lächeln und den ständigen Verbeugungen bei der Visitenkarten-Herumreicherei. Gehen sogar mit ihrem Chef in die Sauna. Kollektiver Sauna-Gang sozusagen. Wie in einer kommunistischen Diktatur. Schließt das auch den kollektiven Besuch einer Geisha ein? Das Sauna-Bild weicht nicht aus seinem Kopf. Zahlreiche kleine Japaner mit ihrem Chef im Heißwasser-Becken. Die unangenehme Vorstellung, mit der klapperdürren Moser-Reibach unter ihrem stechenden Blick auf seine Fettwülste dort zu sitzen, verdrängt er schnell wieder. – Wer wird als nächster die Spitze einnehmen? Die Chinesen? Für Joachim besteht kein großer Unterschied zwischen Japanern und Chinesen. Also, auf der Straße vermag er die nicht zu unterscheiden. Die mögen sich nicht, die Japaner und die Chinesen. Alte Feindschaft aus dem zweiten Weltkrieg oder wer weiß woher. Die Japaner sollen sich im letzten Krieg durch besondere Grausamkeit verhasst gemacht haben. Vivisektionen an Chinesen. Joachim schüttelt sich bei dem Gedanken an diese Abscheulichkeit und der Schraubenschlüssel entgleitet seinen Händen.

„Was war denn so besonders an diesem Georg?“, fragt Leon. Leon wirkt wie ein zu früh aus dem Nest gefallenes Vogelkind. Sein Kopf auf dem langen, dünnen Hals ist von blondem Flaum bedeckt, aus dem erst noch richtige Haare werden sollen. Vielleicht auch eine Löwenmähne, wer weiß das schon.

Joachim wirft den nicht passenden Schlüssel zurück in den Kasten und sucht nach dem passenden.

„Das Alter. Schorsch war uralt. Gibt nicht mehr viele von diesen Riesenschildkröten …“, fluchend drückt er sein Gewicht gegen den Schlüssel, „… kann sein, dass der auf seiner Insel bereits herumgekrochen ist, als Napoleon, der kleine Korse, seine Schlachten schlug.“

„Welcher kleine Korse?“

Joachim wischt sich mit dem Handrücken Schweiß von der Stirn. Schmierfett und Öl bleiben als Schmutzspuren im Gesicht zurück. Schmutzige Arbeit, schlechte Bezahlung. Trotzdem reißen sich die jungen Burschen um die Jobs. Ahnung von Autos haben nur die wenigstens. Leon hat Ahnung. Mit Fahrzeugen kennt der sich aus. Leider interessiert ihn sonst gar nichts. Bei jedem anderen hätte er einen Scherz vermutet, nicht bei Leon. Der meint das ernst. Seine Allgemeinbildung äußerst mangelhaft. Der hält „Harakiri“, das rituelle Bauchaufschlitzen der Samurai, sicher für den neuesten Typ von Toyota.

„Französischer Kaiser und Feldherr – Napoleon Bonaparte. Auf Korsika geboren. Scheiterte erst am russischen Winter und General Kutusow.“

„Ach so.“ Der Tonfall verrät das Desinteresse des Burschen. Er arbeitet schweigend an dem Wagen weiter. Seine Bewegungen, die Arbeitsabläufe, sind eleganter und gleitender als die von Joachim. Nicht nur, weil er Jahrzehnte jünger ist, sondern weil er nur die Hälfte dessen an Gewicht herumträgt, was Joachim zu schleppen hat.

Während Joachim sich mit dem Toyota abmüht, zieht Leon den Diagnosecomputer heran.

„Ich habe für Dezember Urlaub beantragt“, verrät er ihm.

„Willst Du eine Fernreise machen? Ich meine Dezember … – das ist nicht gerade die gemütlichste Zeit.“ Die Jungen reisen heutzutage quer über den Erdball, um sich an den Strand zu legen. Last Minute. Gehen mit Sack und Pack zum Flughafen und wenn’s klappt, fliegen sie drei Stunden später ins Irgendwo. Voriges Jahr wusste Leon hinterher nicht: Liegt Portugal in Lissabon oder Lissabon in Portugal? Seine geographischen Kenntnisse zeigen die gleichen Defizite wie sein sonstiges Wissen. Leons Interesse gilt Fahrzeugen. Er wird wohl einmal das, was man einen Fachidioten nennt.

„Nee, die Zeit ist genau richtig“, lässt der Junge aus den Tiefen des Motorraumes verlauten. Er hat sich tief vorgebeugt und arbeitet mit eleganten, fast zärtlichen Handgriffen. „Hat mich eine Menge Recherchen im Internet gekostet, das heraus zu bekommen.“

Immerhin weiß der Kerl, wo man Informationen her bekommt, denkt Joachim, grinst aber nur.

Leon lässt vom Motor ab und schaut sich misstrauisch um, als habe er Geheimwissen weiter zu geben.

Sie befinden sich immer noch allein in der Werkstatt.

„Du hältst aber doch den Mund, Joachim? Wenn der Chef das mitkriegt, heftet er sich gleich an meine Fersen“, er senkt die Stimme zu einem beschwörenden Flüstern.

„Ja, doch! Mach es nicht so spannend. Hast Du eine Freundin und Angst, dass Hagen sie Dir ausspannt?“

„Quatsch. Für Mädchen habe ich kein Geld übrig. Du weißt doch, ich will den alten Porsche von meinem Cousin kaufen und wieder aufbauen. Ich muss nach Schweden. Ziemlich weit hoch.“

„Im Winter? Ist total einsam dort. Du wirst Dich langweilen. Oder fährst Du Ski?“

Leon grinst überlegen und flüstert: „Erlkönig!“

Joachim richtet sich auf und drückt die Faust in die schmerzenden Bandscheiben. Sein Herz fühlt sich immer noch so komisch an. Nicht direkt schmerzend … aber … komisch.

Er schaut den Jungen nachdenklich an. „Wie? Lernst Du Gedichte auswendig?“

„Mensch, Erlkönig ist ein Deckname! Dort oben werden auf Schneepisten Prototypen von Autos getestet, die noch nie jemand – also jemand wie Du und ich – gesehen hat. Geheimsache.“

„Ach! Und Du willst quasi als Mechaniker in geheimer Mission die Absichten der Autoindustrie ausspionieren?“, fragt er spöttisch.

„Wenn ich die Teststrecke finde, weiß ich jedenfalls Bescheid.“ Leon schließt sanft die Motorhaube und wischt mit dem Polierlappen über den Lack.

„Die werden uns und Deine Erlkönige bald nicht mehr brauchen. Das wird alles überflüssig. Weißt Du, wie viele Chinesen es gibt und was die so alles aushecken? Ich sage Dir, der Drache wird uns abschütteln wie der Hund die Flöhe. Neulich haben die Chinesen in Piräus – das ist eine Hafenstadt in Griechenland“, setzt er in väterlich erläuterndem Ton hinzu, „also in diesem Piräus eine Pier gekauft, war ja billig zu haben in einem verschuldeten Land. Was haben die als erstes gemacht?“

Leon hebt gleichgültig die Schultern. „Keine Ahnung.“

„Typisch. Die haben sofort alle Hafenarbeiter entlassen und zu miesen Bedingungen wieder eingestellt. Eben wie bei sich zu Hause. Gibt dort massenhaft Wanderarbeiter. Das sind so Anfänge. Die nehmen was sie kriegen, da können Deine Erlkönige noch so geheimnisvoll tun, geschluckt werden die so und so. Ich bin manchmal richtig froh, schon so alt zu sein. Werde bald Großvater, meine älteste Tochter ...“

Er wird von einer aufgeräumten männlichen Stimme unterbrochen.

„Na Jungs, alles klar bei Euch? Läuft der Laden?“

In der Werkstatt steht Hagen Reibach. Wie aus dem Ei gepellt. Dunkelblaues Jackett, helle Hose, ein dezent farbiges Oberhemd mit verwegen getupfter Krawatte, beige Wildlederslipper.

Wenn der so gut drauf ist, muss die Sache mit der Kleinen im Reifenlager zu seiner Zufriedenheit verlaufen sein, denkt Joachim. Er blickt kurz hoch.

„Du hast da Lippenstift am Hemdkragen.“

„Was?“ Irritiert versucht Reibach mit einer zerrenden Handbewegung seinen Kragen ins Blickfeld zu bekommen.

„War ein Scherz“, grinst Joachim, „Du solltest vorsichtiger sein, Deine Alte schleicht hier herum.“

Das war respektlos und aus der Sicht eines Vorgesetzten eigentlich sanktionswürdig. Da sie allerdings beide bereits vor Jahrzehnten beim alten Moser zusammen Reifen gewuchtet und Öl gewechselt hatten, blieb es auch nach Hagens Einheirat in das Unternehmen beim Du und Joachim sah keinen Grund, den Tonfall den Gegebenheiten anzupassen. Hagen braucht ihn in der Werkstatt genau so, wie er seinen Arbeitsplatz. Er ist ein guter Mechaniker. Noch fünf Jahre. In fünf Jahren geht er in Rente. Elvira muss zwar, weil sie jünger ist, noch einige Jahre weiter arbeiten, aber er hat es dann geschafft. Irgendwann geht er mit Elvira zum Flughafen und fliegt mit ihr davon. Havanna oder Seychellen, Windhoek und Vancouver. Frei. Die Kinder und das kommende Enkelkind winken zum Abschied. Sein Herz wagt einen erwartungsfrohen Hüpfer.

Sieglinde Moser-Reibach holt ihn aus seinen rosaroten Zukunftsträumen zurück. In seiner gebückten Arbeitshaltung sieht er nur ihre steckendürren Beine in den Gesundheitsschuhen heran eilen. Der Rock aus dunkelgrünem Lodenstoff wippt in der Wadenmitte. Er kann sich nicht erinnern, sie jemals anders gesehen zu haben. Auch nicht vor fünfundzwanzig Jahren. Langer Rock und Gesundheitsschuhe. Hagen hat wirklich einen hohen Preis für sein Scheinleben als Autohauschef bezahlt.

„Hagen!“ Bei der schnarrenden Befehlsstimme möchte Joachim sich am liebsten die Ohren zuhalten. „Ich komme gerade aus der Buchhaltung!“ Sie wedelt mit Papieren herum, fordert Rechenschaft über Buchungen, die sie sich nicht erklären kann. Hagen bezahlt Hotelrechnungen über Geschäftskonten und nicht immer liefert er eine Erklärung nach, was er in der betreffenden Stadt zum Wohle des Autohauses Moser eigentlich unternommen hat.

Joachim schaltet auf Durchgang. Seine Hände arbeiten automatisch. Sie kennen jeden Griff, ohne dass er noch darüber nachdenken muss. Die Befehlsstimme der Moser-Reibach und Hagens gelangweilte Antworten nur noch ein Hintergrundrauschen. Er driftet wieder in seine Zukunftsträume ab. – Diese fünf Jahre werden schnell vergehen. Die Zeit beschleunigt im Alter unglaublich. Gerade eben erst waren seine beiden Töchter noch zur Schule gegangen und Elvira hatte wieder zu arbeiten begonnen. Elvira mit dem blonden Lockenköpfchen und der niedlichen Figur. Sie wäre so gern Friseurin geworden, fand aber keine Lehrstelle. Notgedrungen ergriff sie den Strohhalm zur Ausbildung zum Werkzeugmacher und stellte sich dabei nicht mal so ungeschickt an. Beim Tanzen war er ihr begegnet und sogleich hin und weg. Liebe auf den ersten Blick auch bei ihr. Sein Leben entwickelte sich ganz nach seinen Wünschen. Hochzeit, zwei hübsche Töchter, Eigenheim. Elvira, in den ersten Berufsjahren im Männerberuf eher belächelt, denn ernst genommen, setzte bald nach der Babypause zum beruflichen Höhenstart an. Es begann damit, dass ein Kollege wenige Stunden vor seinem Abflug zur kanadischen Werkzeugmaschinenmesse erkrankte und das Unternehmen ersatzweise Elvira mitschickte. Der Erfolg war überwältigend. Am Messestand des deutschen Anbieters drängelten hünenhafte Kanadier, um der zierlichen Blondine beim Drehen, Fräsen und Hobeln zuzusehen. Die Firma hatte unbewusst ein verkaufsförderndes Argument entdeckt. Überall in den Industrieländern wurden Facharbeiter knapp und Frauen meiden immer noch die sogenannten Männerberufe. Elvira zeigte von nun an auf weltweiten Messen, dass die Maschinen ihres Unternehmens mit leichter weiblicher Hand zu bedienen waren und deutsche Präzisionsergebnisse lieferten. Und sie sah blendend dabei aus. Er kümmerte sich um die beiden Töchter, Elvira jettete um die Welt. Sie trug bald bei ihren für die Firma so einträglichen Vorführungen keine Berufskleidung mehr. Sie trat lächelnd mit hohen Pumps und Minirock an Stahl und Programmiertastatur heran. Die Bestellungen erreichten nie gekannte Zahlen. Ihr Arbeitgeber zeigte sich erkenntlich. Deutliche Gehaltserhöhung, Flüge in der Business Class, gehobene Hotelunterbringung. Spesen wurden großzügig gehandhabt. Die Abzahlung des Hauskredites beschleunigte sich dank Elviras gestiegenem Einkommen rapide. In diesem Monat werden sie die letzte Rate überweisen. Von ihren Dienstreisen brachte Elvira den Kindern Spielsachen oder später die gewünschten angesagten Klamotten mit, für ihn immer die kulinarische Spezialität des jeweiligen Landes. Ob es nun am Spanischen Schinken, Sachertorte, Budweiser Bier oder dem jeweiligen landestypischen Süßkram lag, Joachim nahm stetig zu. Vielleicht war die Ursache seiner Gewichtsveränderung auch weniger bei lukullischen Souvenirs zu suchen. Wenn er allein blieb, ernährte er sich wenig gesundheitsbewusst. Zwar bereitete er für die Mädchen vitaminreiche und gesunde Mahlzeiten, kaum waren die jedoch im Bett, holte er Bier, Chips und Schokoladenkekse aus dem geheimen Versteck. Schokoriegeln vermag er überhaupt nicht zu widerstehen. An jeder Tankstelle geht seine Hand zu dem schädlichen Knabberkram. Seit die Mädchen selbst bestimmen, was sie essen, greift er immer öfter zu Tiefkühlpizzen. Kein Wunder, dass sein Herz beginnt, übellaunig zu werden. Zu viel Fett, Zusatzstoffe und zu wenig Bewegung. Er mag Sport, aber nur, wenn ihn andere ausüben und er ihnen im Fernsehen gemütlich dabei zusehen darf. Niemals würde er sich, wie die Moser-Reibach, in einen Jogging-Anzug zwängen und durch die Gegend keuchen. – Hagen und seine Megäre sind verschwunden. Von Leon kommt kein Wort, keine Anregung für ein Gespräch mehr. Der arbeitet stundenlang schweigend vor sich hin. Joachim denkt wieder an George, an seine Einsamkeit und sein Sterben ohne Artgenossen. Furchtbar. Was für ein Glück, Familie zu haben. Noch ein anderer Zeitungsartikel geht ihm nicht aus dem Kopf. Er handelt von einer Bank. Den Namen hat er wieder vergessen. Komisch, seit einiger Zeit entscheidet sein Kopf willkürlich, was er sich merken will und was nicht. Sei eine der angesehensten Privatbanken Deutschlands gewesen und hat über zweihundert Jahre bestanden. Seltsam. Die Privatbankiers manövrierten dieses Geldhaus über Generationen durch alle Widrigkeiten und Kriege der Geschichte. Und jetzt? Einfach weg. Wieso gerade jetzt? George weg und … die Bank auch weg. Was von Schorsch übrig bleibt kommt ins Naturkundemuseum, was von der Privatbank bleibt, schluckt eine größere Bank. Wie kann das passieren? Wir leben im Wohlstand, es gab weiß Gott üblere Zeiten. Oder liegt es an den Menschen? Zu unvorsichtig geworden, zu gierig? Er erinnert sich gern an den alten Moser, der dieses Autohaus auf die Beine stellte. Vom Habitus her ein dünner, zäher Mann, der mit dem Bleistift hinterm Ohr im Büro saß und mit diesen altmodischen mechanischen Rechenmaschinen Rabattmodelle erdachte. An seinen Händen meist Schmierölreste, so dass auf den Kaufverträgen der Kunden nicht nur seine Unterschrift, sondern extra, quasi zur Bekräftigung, ein fettiger Daumenabdruck verblieb. Er scheute sich nicht, in der Werkstatt zuzugreifen. Ganz früher, zu Zeiten seines Urgroßvaters, war das hier eine Stellmacherei. Damals gab es noch Kutschen, dann kamen die Motorkutschen und die Moser-Männer der jeweiligen Generation stellten sich mit Augenmaß auf die Wünsche der Kunden ein. Erst Anfang der siebziger Jahre baute der alte Moser den Laden großzügig aus. Ausstellungsraum mit Glasflächen, Büro, moderne Werkstatt. Eigenheim daneben. Mit eigenem Geld wohlgemerkt. Darauf war er stolz. Nie von einer Bank abhängig sein. Immer auf der sicheren Seite. Seiner unattraktiven Tochter vererbte er das Geschäft, die hagere Gestalt und den kühlen Rechenkopf. Er übergab alles wohl bestellt, in der Hoffnung, seinen einzigen Enkel und Erben noch als Geschäftsführer erleben zu dürfen. Ging schief. Der Junge suchte früh das Weite vor seiner herrischen Mutter. Eines Morgens erhob sich ein großes Gezeter im Hause Moser-Reibach, weil ihr auf dem Gang ins Badezimmer ein junges, splitternacktes Mädchen entgegentrat. Sie warf das Mädchen aus dem Haus – der Sohn schwieg. Noch vor Aufnahme seines BWL-Studiums kehrte der Junge von einer Rucksack-Reise nach Südamerika nicht zurück. Er werde dort bleiben und als Surf-Lehrer arbeiten, teilte er auf einer Ansichtskarte mit. Jedenfalls tauchte er nie wieder im elterlichen Geschäft auf. Joachim vermied taktvoll bei seinen Gesprächen mit Hagen jede Anspielung auf den flüchtigen Erben. Mit Hagen sprach er über Autos, mit der Moser-Reibach über nichts. Der arrogante Befehlston, den diese Frau gegenüber Angestellten benutzte, war ihm zuwider. Nichts mehr da von der verbindlichen Leutseligkeit des alten Moser. Die tauchte erst in der Existenz seines Enkelsohnes wieder auf, der seine Surf-Kunden mit strahlendem Lächeln und Schulterklopfen in die Wellen schickt. Das Phänomen des Überspringens einer Generation.

 

Hagen öffnet wieder die Tür. Er reibt sich die Hände. Eine Marotte, die er nicht nur bei günstigen Geschäftsabschlüssen, sondern bei allen Ereignissen die zu seinem Vorteil ausgehen, zeigt.

„Wie sieht’s aus Joachim, wirst Du mit dem heute fertig? Langjährige Werkstattkunden, die will ich nicht warten lassen“, er klopft mit der Schuhspitze gegen den rechten Vorderreifen.

Joachim richtet sich auf, säubert seine Hände mit dem Lappen und schließt die Motorhaube. „Kannst ihn anrufen, bin fertig.“

„Prima. Schönen Feierabend.“ Der smarte Chef nickt ihm lächelnd zu.

„Moment, Hagen! Leon hat mir gesagt, dass er erst im Dezember Urlaub nehmen will, da könnte ich mir doch jetzt ein paar Tage frei nehmen.“

Hagen überlegt kurz. „Meinetwegen, wenn Du am Zwanzigsten wieder hier bist. Sieglinde will da die Kundenaktion mit den günstigen Werkstattpreisen starten. Wird bestimmt ziemlichen Andrang geben. Willst Du die letzten schönen Tage am Meer verbringen?“

Joachim schüttelt den Kopf. „Ich will Elvira überraschen. Sie ist in London. Kostet ja heutzutage nicht mehr viel, so ein Flug.“

„Stimmt, die Preise purzeln. Nicht nur bei den Flügen. Schau Dir mal im Internet die Fahrzeugpreise an, da wird Dir übel. Dabei reden die großen Autokonzerne ständig davon, sich an die Listenpreise zu halten. Die Realität sieht anders aus. Online 22 Prozent Rabatt.“

Auf seinem sonst so verdächtig glatten Gesicht der sorglosen Frohnatur bilden sich Falten. Joachim argwöhnt allerdings, dass es Hagen gar nicht um das Wohl des Autohauses geht. Fallen die Gewinnmargen, kürzt seine Sieglinde mit Sicherheit seine Spesen für Hotelausflüge.

„Tut uns das denn wirklich weh?“ Joachim fummelt an den letzten, hartnäckigen Schmierölresten an seinen Fingern. „Ich meine, die meisten unserer Kunden kaufen ihren Wagen in der dritten Generation bei Moser, da schwenken die doch nicht zu irgendeinem Internethändler um.“

„Ja, bisher stimmte das. Inzwischen ist eine neue Generation mit veränderten Kaufverhalten nachgewachsen. Die leben praktisch im Internet. Und wenn die einen Wagen günstig dort bekommen nehmen die den und gehen gar nicht erst zum Händler.“

„Na komm, Hagen, wir sind beide lange genug im Geschäft, um zu wissen, was der Kunde will. Der will Auge in Auge mit Dir um Prozente feilschen, das erst gibt ihm die Genugtuung, ein Geschäft gemacht zu haben. Kein Computerklick gibt ihm dieses Gefühl. Beratung und Service sind auch Pfründe, mit denen wir wuchern. Wer auf sein Fahrzeug angewiesen ist, schätzt eine zuverlässige Werkstatt.“

„Ja, ja. Trotzdem sind wir am Ende der Fahnenstange. Die Autoindustrie reitet uns und sich selbst langsam aber sicher in die Scheiße mit ihren Schleuderpreisen im Netz.“ Er trommelt nervös mit den Fingerspitzen auf die Motorhaube. „Die Spritpreise nicht zu vergessen, denn die werden weiter steigen. Je mobiler die Chinesen werden, je mehr Fahrzeuge die kaufen, desto mehr geht drauf. Stell Dir mal vor, bei denen könnten sich bald ähnlich so viele Leute wie bei uns ein Auto leisten. Weißt Du, was das bedeutet?“ Er erwartet keine Antwort. „Die gesamte Rohölförderung der Welt ging nur für den Sprit der Chinesen drauf. So sieht's aus.“

Noch bevor Joachim etwas über Elektroautos und Hybridantrieb von sich geben kann, hellen sich Hagens Gesichtszüge auf. Er strafft seinen Körper, rückt die Krawatte zurecht und setzt sein kundenfreundlichstes Lächeln auf. Joachim folgt dessen Blick durch die Glasscheibe, die Werkstatt und Ausstellungsraum trennt.

Auf hohen Absätzen schreitet die Opernsängerin majestätisch über die Fliesen als bewege sie sich auf einer Bühne. Knappes Kostüm mit kurzem Rock, der Ausschnitt gerade noch tageslichttauglich. Die rote Mähne hochgesteckt. Ihr Publikum beschränkt sich auf das Mädchen am Empfang und Martin, den Verkäufer, der sich bei ihrem Anblick sofort aus dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch erhebt. Doch Hagen steht bereits im Ausstellungsraum, gibt Martin einen Wink und geht mit strahlenden Augen und ausgebreiteten Armen auf die Dame zu. Martin packt sich einen Ordner mit Lieferscheinen und verschwindet in die Buchhaltung. Das Mädchen am Empfang wird von Hagen zum Kaffee holen geschickt. Sekt dann später. Nach der Probefahrt. Vielleicht hier, oder vielleicht … woanders … Hagen Reibach ergreift die Hand der schönen Rothaarigen. „Lassen Sie mich einen Moment in ihre wundervollen moosgrünen Augen schauen, bevor wir zum geschäftlichen Teil übergehen …“