Der Geschichten-Adventskalender

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Der Geschichten-Adventskalender
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Angelika Röbel

Der Geschichten-Adventskalender

Zum Lesen und Vorlesen

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

www.angelika-roebel.de

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Prolog

1. Dezember Ein kleiner Hund für die Großmutter

2. Dezember Eine wundersame Wandlung

3. Dezember Die Geschichte vom kleinen Tannenbaum

4. Dezember Zwergenhelfer beim Weihnachtsmann

5. Dezember Ein ganz besonderer Wunsch

6. Dezember Eine wunderbare Überraschung

7. Dezember Drei Groschen und ein Tannenbaum

8. Dezember Vom Lied „O du fröhliche, o du selige“

9. Dezember Freudentränen am Weihnachtstag

10. Dezember Heilig Abend 1956

11. Dezember Vaterliebe

12. Dezember Eine fantastische Reise

13. Dezember Viele gute Freunde

14. Dezember Ein großes Herz

15. Dezember Tierliebe

16. Dezember Ein Brief für den Weihnachtsmann

17. Dezember Hat der Schneemann auch Wünsche?

18. Dezember Ein Nachmittag im Winterwald

19. Dezember Ein kurzer Blick durch das Schlüsselloch

20. Dezember Ein Wunder ist geschehen

21. Dezember Eine lange Reise

22. Dezember Eine geheimnisvolle Tasche

23. Dezember Opa, warum lachst du nie?

24. Dezember Gibt es Elfen und Engel?

Danksagung

Endnote

Prolog

Im Jahr der Fertigstellung meines ersten Romans habe ich in der Vorweihnachtszeit auf dem Weißenfelser Weihnachtsmarkt eine nachdenkliche Erfahrung gemacht. Zwei Mädchen, ungefähr im Alter von zehn Jahren, machten sich darüber lustig, wie sich ein kleinwüchsiger Mann mit einem Tannenbaum abmühte. Dies ließ mir keine Ruhe und beschäftigte mich sogar noch am Abend, als ich in der Wanne lag. Und da hat man bekanntlich die besten Ideen. So reifte in mir der Gedanke, eine Weihnachtsgeschichte zu schreiben. Das nahm ich mir nun einmal in jedem Jahr vor.

Im Laufe der Jahre kam mir in den Sinn, 24 Geschichten zu schreiben und diese in einem Buch zusammenzufassen. Eine kleine Geschichte für jeden Abend in der Adventszeit.

Viel Freude beim Vorlesen

1. Dezember
Ein kleiner Hund für die Großmutter

Es waren einmal zwei Geschwister. Sie nannten sich Lisa und Sarah. Lisa war acht Jahre alt und ihre Schwester zehn. Da ihre Mutter am Heiligen Abend Dienst hatte, sollten die beiden Mädchen an diesem Tag zu ihrer Großmutter in die Stadt fahren.

Ihre Hündin hatte Welpen, die nun groß genug waren, um ein anderes Zuhause zu bekommen. Einen kleinen Welpen sollten die Kinder mit zur Großmutter nehmen, damit sie nicht immer so alleine war.

Sie fuhren mit dem Zug in die weit entfernte Stadt. Als sie an ihrem Ziel angekommen waren, stellte Sarah die Tasche mit dem Welpen auf dem Bahnsteig ab und half danach ihrer kleinen Schwester beim Aussteigen. Suchend schauten sie sich auf dem Bahnsteig um.

„Wo ist Großmutter?“, fragte Lisa.

Sarah zuckte mit den Schultern. „Wir setzen uns auf die Bank und warten. Sicher wird sie bald kommen.“

Es war sehr kalt und die Kinder froren. Sarah nahm, trotz der Kälte, ihren Schal ab und legte diesen in der Tasche aus, damit der Welpe es etwas wärmer hatte.

Dem Bahnhofsvorsteher waren die Mädchen bereits aufgefallen. Sie saßen aneinandergekuschelt auf der Bank. „Man hat euch wohl vergessen?“, fragte er freundlich.

Traurig sahen ihn zwei Kinderaugenpaare an. „Unsere Großmutter wollte uns abholen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie uns vergessen hat“, stellte Sarah besorgt fest.

Der nette Mann dachte kurz nach. „Wisst ihr, wo eure Großmutter wohnt?“

Wie auf Kommando nickten die Kinder.

„Dann würde ich euch vorschlagen, zu ihr zu gehen. Solltet ihr euch verfehlen und eure Großmutter hier nach euch suchen, kann ich sie beruhigen und ihr sagen, dass ihr bereits auf dem Weg zu ihrer Wohnung seid. Was haltet ihr von meinem Vorschlag, Kinder?“

Sie fanden ihn gut.

Der Weg war weit, denn Großmutter wohnte am anderen Ende der Stadt. Unterwegs klopften sie sich immer wieder gegenseitig den Schnee von ihren Mänteln und Mützen. Doch als sie am Weihnachtsmarkt vorbeikamen, nahmen sie sich etwas mehr Zeit und schauten sich die vielen Stände an. Überall roch es lecker nach Lebkuchen, Zimt, gebrannten Mandeln und Punsch. Am Ende des Weihnachtsmarktes wurden die letzten Reste von Weihnachtsbäumen verkauft. Lisa stupste ihre große Schwester in die Seite. Mit vorgehaltener Hand flüsterte sie: „Sarah, sieh dir mal den Mann dort drüben an. Der ist so klein wie ein Kind und hat einen Buckel wie eine Hexe.“

Sarah lachte leise. „Du meinst sicher, wie ein Hexerich.“

Nun lachten beide Mädchen.

Der kleine Mann suchte sich einen Weihnachtsbaum aus. Aber die schönen Bäume waren bereits alle verkauft. Es gab nur noch solche, die keiner mehr haben wollte. Er wählte einen krummen Baum aus, der nicht viel größer war als er selbst. Er bezahlte und ließ ihn zusammenbinden. Der Verkäufer hob, mit halb gefrorenen Händen, den Baum auf die Schultern des kleinen Mannes.

Unter der Last bemerkte er die Mädchen und ihm fiel auf, dass sie über ihn lachten. Obwohl Lisa und Sarah gut erzogen waren, konnten sie sich ihre Späße nicht verkneifen. Da der kleine Mann schon von vielen Menschen in seinem Leben gehänselt worden war, hatte er sich eigentlich fast daran gewöhnt. Aber es schmerzte doch jedes Mal sehr in seinem Herzen, denn er hatte Kinder sehr gern. Gerade heute, am Weihnachtstag, musste ihm wieder so etwas passieren, heute war doch das Fest der Liebe. Schwitzend von seiner Last, trottete er nach Hause. Die beiden Mädchen folgten ihm noch ein Stückchen und jedes Mal, wenn er sich zu ihnen umdrehte, steckten sie ihre kleinen Köpfe zusammen und kicherten. Er bog um eine Häuserecke, um einen anderen, aber weiteren Weg zu gehen. Er hatte Glück, die Kinder folgten ihm nicht. Durch diese Verzögerung würde er jedoch zu spät kommen, denn heute bekam er Besuch, auf den er sich schon den ganzen Tag freute.

Lisa und Sarah hatten es dagegen nicht eilig. Sie bewarfen sich unterwegs mit Schneebällen und schauten sich die weihnachtlich geschmückten Auslagen in den Geschäften an. Hinter einigen Fenstern leuchteten bereits die Lichter von Weihnachtsbäumen. In der Tasche winselte der Welpe. Plötzlich wurde Sarah ernst und sagte zu ihrer Schwester: „Es ist schon dunkel. Großmutter wird sich ganz bestimmt Sorgen machen. Lass uns jetzt schnell zu ihr gehen.“

Sie fassten sich an den Händen und gingen den noch weiten Weg zum Haus ihrer Großmutter, ohne zu bummeln. Als sie ihr Ziel erreichten, mussten sie feststellen, dass bei der Großmutter kein Licht im Fenster brannte. „Ob sie uns sucht? Oder hat sie vergessen, dass wir heute kommen?“, fragte Lisa ihre große Schwester.

 

Diese hob ihre Schultern. „Komm, lass uns nachschauen. Vielleicht hat sie sich nur etwas hingelegt und das Licht gelöscht.“

Das schwere Haustor war nur angelehnt. Sie gingen in den dunklen Flur. Da die Großmutter nur eine Treppe hoch wohnte, knipsten sie niemals das Licht an. Die Stufen in dem alten Haus knarrten eigentlich, aber Sarah und Lisa machten es sich jedes Mal zum Spaß, so leise wie nur möglich in die erste Etage zu gelangen. Bei jedem quietschenden Ton, den die Stufen von sich gaben, zählten sie mit. Sarah kam ohne ein Geräusch nach oben und bei Lisa knarrten sie nur einmal. Sarah drückte auf die Klingel. Das Geräusch erschreckte sie immer wieder. Als sich hinter der Tür nichts bewegte, drückte sie noch mal auf die Klingel. Wieder war es ganz still hinter der Tür.

„Vielleicht ist sie zum Bahnhof gegangen und noch nicht wieder zurück!“, überlegte Lisa.

Sarah nickte. „Das wird es wohl sein. Komm, wir setzen uns auf die Stufen und warten auf sie.“

Die Tasche mit dem Welpen stellte sie neben sich. Der kleine Hund wurde unruhig und wollte heraus. Sarah machte den Verschluss nur ein kleines Stück auf und griff hinein, um ihn zu kraulen. Das gefiel ihm und er schlief ein.

In der Nachbarwohnung waren Geräusche zu hören. Diese Wohnung war bisher immer leer gewesen, noch nie hatte darin jemand gewohnt. „Wer wird da eingezogen sein?“, flüsterte Sarah. „Wollen wir dort klopfen?“ Aber Lisa schüttelte ängstlich den Kopf. Also warteten sie weiter. Ihre Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt.

„Sarah, mir ist kalt!“ Diese rutschte ganz dicht an ihre kleine Schwester heran, um sie mit ihrem Körper zu wärmen.

Unter der fremden Tür krochen leckere Düfte hervor. Es roch appetitlich nach Bratäpfeln. Die Mägen der Mädchen fingen lautstark an zu knurren. Nun sahen sie unter der Tür auch noch mattes flackerndes Licht, auch leise Weihnachtsmusik war zu hören.

„Da wurde gerade ein Weihnachtsbaum angezündet und dann riecht es so lecker! Dort kann kein böser Mensch wohnen, lass uns klingeln“, schlug Sarah vor. Da Lisa aus Angst nichts dazu sagte, stand Sarah auf und drückte zaghaft den Klingelknopf. Sie hörte Schritte näher kommen. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss und die Tür wurde von einem Kind geöffnet. Sarah konnte das Antlitz des Jungen nicht erkennen, da hinter ihm ein Lichtschein war. „Entschuldigung“, sagte sie leise, „aber wir warten auf unsere Großmutter. Sie ist noch nicht da, wir haben uns sicher verfehlt. Könntest du bitte deine Eltern fragen, ob wir bei euch warten dürfen? Uns ist kalt.“

Doch als das Kind antwortete, merkte Sarah, dass es gar kein Kind war. Eine tiefe Männerstimme sagte: „Na, da seid ihr ja endlich. Ich warte schon lange auf euch. Eure Großmutter ist heute Morgen auf der Treppe ausgerutscht und musste ins Krankenhaus gebracht werden. Man wird ihren Fuß sicherlich mit einer Schiene ruhigstellen. Sie hat mich gebeten, euch aufzunehmen. Morgen Vormittag kommt sie wieder nach Hause.“

Inzwischen stand Lisa neben Sarah. Beide Kinder hatten den Mund vor Staunen geöffnet und wussten nicht, was sie sagen sollten. Vor ihnen stand der kleine Mann, über den sie sich am Nachmittag lustig gemacht hatten. Sie schämten sich für ihr Benehmen. „Entschuldigung“, stammelten sie gemeinsam, „das war vorhin nicht böse gemeint. Wir …“

Er unterbrach die Mädchen, bevor sie noch etwas Unüberlegtes sagten. Natürlich hatte auch er sie sofort erkannt. „Ich weiß gar nicht, wovon ihr redet. Sicherlich verwechselt ihr mich mit jemand anderem.“

Sarah war sich sicher, dass er es war. Aber auch sie beließ es dabei. Der kleine Mann führte Lisa und Sarah in sein Wohnzimmer. Auf einem Tisch stand der krumme Weihnachtsbaum, den er vorhin gekauft hatte. Er war mit Kerzen und bunten Engeln geschmückt. Und das alte Grammofon spielte schöne Weihnachtslieder.

„Setzt euch an den Tisch. Ich hole etwas Warmes zum Essen.“

Lisa und Sarah nahmen am Tisch Platz. Er brachte eine Schüssel mit heißen Bratäpfeln. Hmm, das roch lecker! Als sie sich gestärkt hatten, stellte der kleine Mann eine Kiste auf den Tisch. Darin waren bunte Fäden und Stroh, Nadeln und eine Schere. „Jedes Jahr am Weihnachtsabend bastle ich einen Engel für meinen Weihnachtsbaum.“

Sarah, die die schönen Engel bereits gezählt hatte, sagte: „Aber wieso sind das erst elf Stück?“

Nun traten Tränen in die sanften Augen des kleinen Mannes. „Heute kommt der zwölfte Engel an den Baum. Vor zwölf Jahren ist am Weihnachtsabend mein treuer Gefährte überfahren worden. Er war so ein kluger Hund. Ihm konnte ich meine Sorgen anvertrauen und er hat niemals über mich gelästert, wie es die Menschen tun.“

Betroffen sahen die Kinder an sich herunter.

„Aber warum haben Sie sich nicht wieder einen Hund angeschafft?“, fragte Lisa schließlich.

„Dafür habe ich kein Geld übrig“, erwiderte er traurig. Dann griff er in die Kiste. „Wollt ihr mir dabei helfen?“

Freudig nickten die Mädchen. Das Grammofon war still geworden. Und um die momentane traurige Stimmung zu vertreiben, sangen Sarah und Lisa für den kleinen Mann das Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“.

Plötzlich war ein zaghaftes Jaulen aus der dunklen Ecke zu hören, in der Sarah kurz vorher die Tasche abgestellt hatte. Da fiel den Mädchen der Welpe für die Großmutter wieder ein.

„Was ist das?“, fragte der kleine Mann.

Sarah stand auf und holte die Tasche. Sie griff hinein, um den Welpen herauszuholen. Die Augen des kleinen Mannes fingen an zu leuchten. Auf Sarahs Arm saß der Hund und leckte ihre Hand. „Den haben wir für unsere Großmutter mitgebracht. Aber sie würde sich sicher freuen, wenn Sie ihr bei der Pflege und der Betreuung behilflich wären. Mit einem bandagierten Fuß kann sie ja sowieso nicht mit dem Hund rausgehen.“

Der kleine Mann war so glücklich, dass er die Mädchen liebevoll in die Arme nahm und an sich drückte.

Als am nächsten Morgen die Großmutter aus dem Krankenhaus kam, freute sie sich über den kleinen Hund. Gemeinsam wollten sich die beiden alten Menschen um ihn kümmern.

In den kommenden Jahren kam kein neuer Engel mehr an den Weihnachtsbaum des kleinen Mannes.

2. Dezember
Eine wundersame Wandlung

Vor vielen Jahrzehnten bewohnte die fünfjährige Lydia gemeinsam mit ihren Eltern eine vornehme Villa in der Kastanienallee. Lydia saß artig am Frühstückstisch. Ihr Vater rauchte eine Zigarre und las dabei die Morgenzeitung, bevor er sich auf den Weg zur Arbeit machte. Er leitete ein kirchliches Waisenhaus.

„Papa, du hast mich noch gar nicht nach meinen Wünschen gefragt, die ich an das Christkind habe“, stellte Lydia ärgerlich fest.

Der Vater löste seinen Blick von der Zeitung, sah über den Brillenrand zu seiner Tochter, faltete die Zeitung zusammen und legte sie neben sich auf den Tisch. „Warum soll ich dich danach fragen? Du kannst doch deine Wünsche aufmalen!“

Mit einer Serviette putzte sich Lydia den Mund ab. „Das macht so viel Arbeit, es geht doch schneller, wenn ich es dir sage!“

Lydias Mutter verfolgte schweigend das Gespräch.

Der Vater stand auf, trat hinter seine Frau und gab ihr einen Abschiedskuss auf die Wange. Bevor er den Raum verließ, drehte er sich noch einmal um und sagte zu Lydia: „Es bleibt dabei, mal deine Wünsche auf!“

Trotzig verschränkte Lydia ihre kleinen Arme und lehnte sich auf dem großen Stuhl zurück.

„Das Christkind kann sich doch nicht alles merken, Lydia. Es möchte daher einen Wunschzettel von den Kindern haben“, versuchte die Mutter, es ihr zu erklären.

Mit hängenden Schultern und immer noch nicht von der Notwendigkeit überzeugt, ging Lydia auf ihr Zimmer. Dort setzte sie sich an den Tisch, holte einen Zettel hervor und begann, all ihre vielen Wünsche auf Papier zu bringen: Zwei Puppen, eine mit langem und eine mit kurzem Haar, einen Ball, einen Teddybären, bunte Glasmurmeln, ein Bilderbuch, kleine Holztiere für einen Bauernhof, eine neue Puppenstube, einen Kaufmannsladen, der mit essbarem Naschwerk gefüllt ist, und eine neue große Schleife für ihr eigenes Haar.

Als sie ihrem Vater am Abend den Wunschzettel übergab, schwankte seine Stimmung zwischen traurig und ärgerlich. „Da hast du aber sehr viele Wünsche aufgemalt, Lydia! Ich glaube, alle Wünsche kann dir das Christkind nicht erfüllen!“

Lydias Augen füllten sich mit Tränen, unverstanden verließ sie das Zimmer.

„Warum ist sie so gierig? Was haben wir bei ihrer Erziehung falsch gemacht? Andere Kinder sind zufrieden, wenn ein Christbaum im Stübchen steht. Für die Kinder im Waisenhaus gibt es auch in diesem Jahr lediglich einen Apfel und ein selbst gebackenes Plätzchen.“

Die Mutter zeigte ihm einen Brief. „Der ist heute von meiner Schwester gekommen. Sie bittet mich um Hilfe. Um die Weihnachtszeit soll ihr Kind geboren werden. Was meinst du, kann ich zu ihr? Kann ich dich mit allem alleine lassen?“

„Natürlich, ich schaffe das schon mit Lydia. Ich nehme sie mit ins Waisenhaus. Vielleicht lernt sie dort Bescheidenheit.“

Mit hochgezogenen Brauen und zweifelndem Blick schaute sie ihren Gatten an.

Am Tag, bevor das Christkind kam, fuhr die Mutter weg. Am liebsten wäre Lydia mit ihr gefahren, aber sie durfte nicht. Sie sollte ihren Vater zur Arbeit begleiten. Dazu hatte sie nun aber absolut keine Lust.

„Es wird dir bei den anderen Kindern schon gefallen. Vielleicht findest du dort eine Freundin?“

„Und wenn das Christkind kommt, bin ich nicht zu Hause!“, erwiderte sie – es war der letzte Versuch, ihren Vater doch noch umzustimmen.

„Das Christkind weiß, wo du dich aufhältst. Mach dir darüber keine Gedanken.“

Und dann war es so weit. Lydia stapfte mit ihrem Vater durch den tiefen, frisch gefallenen Schnee bis zum Pferdeschlitten. Der Knecht hielt die Pferde am Zaumzeug fest, bis beide eingestiegen waren. Nachdem der Vater Lydia in eine Decke gewickelt hatte, nahm er die Zügel und das Gefährt setzte sich langsam in Bewegung.

Als Lydia mit ihrem Vater den großen Speisesaal betrat, war von den Waisenkindern keines zu sehen. Ein riesengroßer Tannenbaum stand auf der anderen Seite des Raumes. Er war bunt geschmückt mit gebastelten Sternen, Engeln und bunten Girlanden. Keine Kerze schmückte den Baum, dafür war kein Geld vorhanden gewesen. Aber er sah trotz allem wunderschön aus. Beeindruckt drückte Lydia die Hand ihres Vaters, der sie immer noch festhielt.

„Such dir einen Platz aus, Lydia, gleich werden die Kinder kommen!“ Eine lange Tafel war vor dem Tannenbaum aufgestellt. Auf den Tellern lagen jeweils ein Apfel und ein Plätzchen. Aus den Tassen duftete der Kakao. In der Mitte war der Tisch mit Tannengrün geschmückt. Als aus einem Grammofon festliche Musik ertönte, betraten zehn Kinder im Gänsemarsch leise den Festsaal und suchten sich einen Platz an der Tafel aus. Erst jetzt sah Lydia, dass unter dem Weihnachtsbaum einige Geschenke eingewickelt waren. Frau Bergmann machte die Kinder mit Lydia bekannt. Ihr gefiel, dass sie im Mittelpunkt stand, und war stolz auf ihren Vater. Sie sah sich in der Runde um.

„Bevor ihr euren Kakao trinken dürft, bitte ich Lydia nach vorne. Das Christkind hat etwas für dich abgegeben. Du darfst nun deine Geschenke auspacken. Sicher wirst du schon sehr gespannt sein, was du bekommst.“

Als Lydia nach vorne ging, stand ihr Vater mit traurigen Augen vor dem Weihnachtsbaum und sagte laut, damit es alle hören konnten: „Lydia, all diese Päckchen gehören nur dir!“

Lydias Augen strahlten. Im gleichen Moment sah sie zu den anderen Kindern. Einen Augenblick lang hoffte der Vater, dass Lydias Gier sie selbst beschämte. Aber er hatte sich wohl geirrt.

Vor dem Weihnachtsbaum kniend, packte Lydia das erste Päckchen aus. Es war eine wunderschöne Puppe mit dem gleichen Haar, wie sie es hatte. Sie bemerkte nicht gleich, dass inzwischen alle Kinder neugierig hinter ihr standen und die Geschenke bestaunten. Das Papier, welches sie achtlos beiseitegelegt hatte, faltete Frau Bergmann gewissenhaft zusammen und glättete mit den Fingern das Schleifenband.

„Oh, du hast aber viele schöne Geschenke erhalten“, stellte der kleine Peter fest. „Darf ich mir den Teddybären mal ansehen?“

Erst jetzt wurde Lydia richtig bewusst, dass sie die Einzige war, die etwas geschenkt bekam. Plötzlich fühlte sie sich gar nicht mehr wohl in ihrer Rolle als Tochter des Direktors. Hilflos suchten ihre Augen den Vater, aber sie konnte ihn nicht sehen, da um sie herum alle Kinder standen und staunten. Immer noch hielt sie den Teddybären in ihrer Hand. Wieder hörte sie in ihren Gedanken die Frage des kleinen Peters. Doch dann, ohne dass sie die Absicht hatte, es zu sagen, kam aus ihrem Mund die Antwort. „Hier, Peter, nimm den Teddybären, ich schenke ihn dir!“

 

Peters Augen wurden riesengroß, er konnte nicht glauben, was er soeben gehört hatte. „Danke, oh, danke“, sagte er nur. Zu mehr Worten war er vor Staunen gar nicht fähig.

Lydia betrachtete ihre Geschenke und stellte fest, dass ihr das Christkind, entgegen der Aussage des Vaters, alle Wünsche erfüllt hatte. Sie hielt die Puppe mit dem wunderschönen langen Haar im Arm, als sie sah, wie ein kleiner Finger diese berührte. Lydia blickte zu dem Mädchen, das nun blitzschnell und ängstlich seinen Finger wieder wegzog. „Möchtest du diese Puppe haben?“, fragte Lydia. Das kleine Mädchen hielt vor Freude die Hände vor den Mund und nickte mit großen Augen. Lydia schaute die Puppe ein letztes Mal an und überreichte sie dann entschlossen dem Mädchen.

Mit Tränen der Freude in den Augen beobachtete der Vater aus einiger Entfernung das Geschehen.

So verteilte Lydia an diesem Abend all ihre schönen Geschenke an die armen Kinder aus dem Waisenhaus, die noch nie in ihrem Leben etwas Eigenes besessen hatten. Lydia war überhaupt nicht traurig darüber, dass sie am Ende kein Geschenk für sich behalten konnte. Sie hatte zehn Geschenke erhalten und da zehn Kinder im Heim waren, ging keines der Kinder leer aus. Sogar ihre Schleife erfreute ein kleines Mädchenherz. Lydia saß mit den Kindern auf dem Fußboden und freute sich mit ihnen. Sie lachten und spielten gemeinsam mit den schönen Geschenken. Noch nie hatten die Kinder so ein schönes Weihnachtsfest erlebt.

Der kleine Peter drückte seinen Teddybären mit einer Hand an sich. Mit der anderen Hand griff er in Lydias goldblonde Locken. Und dann sagte er laut, sodass es alle hören konnten: „Bist du ein Engel?“ Lydia sagte nichts. Endlich fand ihr suchender Blick den Vater und Lydia lächelte ihn an.

Ja, es war das Lächeln eines Engels.

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